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70 Jahre Schuman-Plan
„Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt“

Startschuss für Europa: Am neunten Mai 1950 legte der französische Außenminister Robert Schuman den Plan vor, die deutsche und französische Kohle- und Stahlindustrie einer gemeinsamen europäischen Behörde zu unterstellen. Damit war der Grundstein für die spätere EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) gelegt, die zur Keimzelle der Europäischen Union werden sollte.

Mann mit eckiger Brille, formalem Anzug mit offensiver Krawatte, lächelt kaum merklich in die Kamera.

Der Politologe, Prof. Dr. Henri Ménudier, hat in den französischen Elitenschulen und -Einrichtungen (Institut für Politik / Sc. Po. Paris, Ecole Nationale d'Administration, Sorbonne) und in mehreren deutschen Universitäten als Gastprofessor unterrichtet. Er war Direktor des Centre Universitaire d'Asnières (Paris 3 - Sorbonne Nouvelle). Seine Forschungs- und Lehrthemen sind die Politik in Frankreich und Deutschland, die deutsch-französischen Beziehungen und die europäische Integration. Er hat sich immer stark für die Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Zivilgesellschaft ausgesprochen und sich für bessere Kommunikation zwischen Frankreich und Deutschland engagiert. Er hat auch innerhalb des Weimarer Dreiecks aktiv mitgewirkt.

Henri Noel Menudier

HSS: Wir blicken heute nach 70 Jahren deutsch-französischer Freundschaft auf die Ereignisse von 1950 zurück. Wie hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Nationen nach dem 2. Weltkrieg entwickelt?

Prof. Dr. Henri Ménudier: Das deutsch-französische Verhältnis hat sich nach 1945 grundlegend verändert. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir zwischen 1870 und 1945 drei schreckliche Kriege erlebt haben. Franzosen und Preußen haben 1870-71 gegeneinander gekämpft, dann kamen beide Weltkriege. Der erste Weltkrieg besaß eine starke deutsch-französische Dimension. Durch die französische Niederlage im Juni 1940 und die deutsche Besatzung wurde das deutsch-französische Verhältnis durch Hass beherrscht. Ein Satz des französischen Außenministers Robert Schuman fasst die Geschichte zusammen: „Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt“.

Drei Entwicklungen haben den Übergang zur Versöhnung und Zusammenarbeit ermöglicht.

  1. Gerade die Menschen, die in beiden Ländern am meisten unter Nazi-Deutschland gelitten hatten, haben sich für die Versöhnung engagiert. Es war wichtig, dass junge Menschen beteiligt waren. Die ersten deutsch-französischen Jugendtreffen fanden schon 1946 statt.
  2. Wegen des Kalten Krieges und der Gegensätze mit Moskau wollten die USA Westeuropa stärken. Dafür brauchten sie die deutsch-französische Verständigung.
  3. Weise Staatsmänner wie Schuman, Monnet, Adenauer und De Gasperi haben so gehandelt, dass die neue deutsch-französische Zusammenarbeit und die europäische Einigung Hand in Hand gingen.
Joachim Menze, leitet die Regionalvertretung der EU-Kommission in München. Er hat Recht mit Vertiefung im Gesellschafts-, Handels- und europäischem Recht in Bayreuth und München studiert. Nach dem Staatsexamen war er zunächst als Rechtsanwalt tätig. Ab 1993 war er bei der Europäischen Kommission für die Kontrolle staatlicher Beihilfen tätig. Von 1998 bis 2000 arbeitete er in der Rechtsabteilung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London und war an Rechtsreformvorhaben im Bereich des Kreditsicherheitenrechts beteiligt. Von 2000 bis 2004 war er Ermittler bei dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF. Von 2004 bis 2014 arbeitete Herr Menze in verschiedenen Funktionen bei der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs in Lissabon, vor allem in den Bereichen Recht und Finanzen.  Seit Herbst 2014 leitet Herr Menze die Vertretung der Europäischen Kommission in München.

Joachim Menze, leitet die Regionalvertretung der EU-Kommission in München. Er hat Recht mit Vertiefung im Gesellschafts-, Handels- und europäischem Recht in Bayreuth und München studiert. Nach dem Staatsexamen war er zunächst als Rechtsanwalt tätig. Ab 1993 war er bei der Europäischen Kommission für die Kontrolle staatlicher Beihilfen tätig. Von 1998 bis 2000 arbeitete er in der Rechtsabteilung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London und war an Rechtsreformvorhaben im Bereich des Kreditsicherheitenrechts beteiligt. Von 2000 bis 2004 war er Ermittler bei dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF. Von 2004 bis 2014 arbeitete Herr Menze in verschiedenen Funktionen bei der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs in Lissabon, vor allem in den Bereichen Recht und Finanzen. Seit Herbst 2014 leitet Herr Menze die Vertretung der Europäischen Kommission in München.

Joachim Menze

Joachim Menze: Das deutsch-französische Verhältnis unmittelbar nach 1945 war stark von den Grauen und Verheerungen des Krieges, des Verlustes von Millionen Menschenleben und der kollektiven Erfahrung der mit den Kriegen seit 1870/71 verbundenen Hungerwinter geprägt. Auf Seiten Frankreichs gab es sicher Hass, großes Misstrauen und ein starkes Bedürfnis, durch politische Maßnahmen sicheren Schutz vor einem künftigen Deutschland zu erreichen. Die Erfahrungen aus dem Versailler Vertrag hatten dessen Instrumente – Reparationen und völkervertragliche Rüstungsbeschränkungen – als nicht zielführend belegt.

Die Diskussion zwischen 1945 und Anfang 1950 über die Frage einer künftigen Einhegung Deutschlands wurde allerdings weitgehend ohne deutsche Beteiligung geführt; die Bundesrepublik besteht erst seit 24. Mai 1949. Es war eine Diskussion unter den Siegermächten; es war ein Verhältnis zwischen Besatzungsmächten und dem moralisch diskreditierten Aggressor und Kriegsverlierer Deutschland.

HSS: Welche strategischen Interessen haben Deutschland und Frankreich mit dem Schuman-Plan verfolgt?

Prof. Dr. Henri Ménudier: Trotz der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Spaltung war es klar, dass die neu gegründete Bundesrepublik bald wieder eine wichtige wirtschaftliche Rolle in Europa spielen würde. Es gab auch immer wieder die Befürchtung im Westen, es könnte mit sowjetischer Unterstützung eine deutsche Wiedervereinigung in der Neutralität geben. Also war es wichtig, die neue Bundesrepublik im Westen fest zu verankern, um sie indirekt zu kontrollieren. Darüber hinaus wollte man in Paris vom deutschen Wirtschaftswunder profitieren und den deutsch-französischen Handel fördern.

Die Schuman-Rede von 1950, in der er den Vorschlag machte, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)zu schaffen, war ein großartiges Angebot für Adenauer, weil damit die Bundesrepublik bald als gleichberechtigter Partner in Europa anerkannt werden sollte. 1950 gab es noch kein deutsches Auswärtiges Amt in Bonn und die deutsche Außenpolitik wurde eigentlich von den Westmächten bestimmt.

HSS

Joachim Menze: Nach 1918 gab es bereits Versuche, eine erneute Kriegsfähigkeit Deutschlands zu verhindern. Lediglich zwei Dekaden später begann das Deutsche Reich wieder einen verheerenden Krieg mit anfangs weithin überlegener Kriegstechnik aus den deutschen Waffenschmieden.

Nach 1945 war es ein wesentliches Bestreben der französischen und englischen Politik, einen erneuten Waffengang durch ein Einhegen der deutschen Montanindustrie zu verhindern. So forderte Frankreich bereits 1946, basierend auf Plänen Jean Monnets, das Ruhrgebiet von Deutschland abzutrennen. Im Verlauf des Jahres 1948 übertraf die Stahlproduktion in der Bizone – den englischen und amerikanischen Besatzungsgebieten – bereits diejenige Frankreichs, trotz zahlreicher Demontagen seit 1946. Im April 1949 wurde, knapp einen Monat vor Gründung der Bundesrepublik, im Rahmen der Londoner Sechsmächtekonferenz vom Vereinigten Königreich, Frankreich, den USA und den Beneluxstaaten das Ruhrstatut errichtet, um ein Aufsichtsrecht über die westdeutsche Schwerindustrie zu begründen.

Im beginnenden kalten Krieg erkannten Schuman und Monnet, dass der Wunsch nach Schutz vor Deutschland nicht um den Preis erreicht werden kann, einen wirtschaftlichen Wiederaufbau zu behindern, für den die Montanindustrie eine Schlüsselrolle spielte. Ein neues Konzept musste Sicherheit sowohl vor als auch mit Deutschland sicherstellen.

Aus der Angst vor einem erneuten Krieg wurde die Idee der supranationalen Zusammenarbeit, also der gemeinsamen Kontrolle und Ausübung von Souveränität, entwickelt.  Mit dem Schuman-Plan brach Frankreich mit der alten Politik und begann, unter kooperativer Einbindung der damals noch jungen Bundesrepublik einen neuen europäischen Friedensplan aufzubauen.

Dieses Angebot an die junge Bundesrepublik basierte auf der kühlen wie zutreffenden Kalkulation, dass Krieg materiell unmöglich gemacht werden kann, wenn die möglichen Gegner keine wirtschaftlichen Kontrahenten mehr sind, sondern gemeinsame materielle Interessen verfolgen. Wenn ein Krieg den eigenen wirtschaftlichen Interessen widerspricht, wird er sehr unwahrscheinlich. Diesen Gedanken in einem Klima von Hass und Misstrauen nicht nur zu denken, sondern in die Tat umzusetzen, ist die große Leistung von Schuman, Monnet, Adenauer und allen anderen, die damals mitgewirkt haben.

Der Schuman Plan

HSS: Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland gab es starke Widerstände gegen den Schuman-Plan. Was hat Adenauer und Schuman dazu bewegt, sich trotzdem so bedingungslos für den europäischen Gedanken einzusetzen?

Prof. Dr. Henri Ménudier: Fünf Jahre nach Kriegsende gab es noch einen starken anti-Germanismus in Frankreich. Viele Bürger waren gegen eine schnelle Versöhnung mit Deutschland, weil die Wunden des Krieges noch nicht geheilt waren. Monnet und Schuman haben zum ersten Mal in der Weltpolitik das Prinzip der Supranationalität vorgeschlagen. Das heißt die Nationalstaaten sollten auf einen Teil Ihrer Souveränität zu Gunsten einer hohen europäischen Behörde verzichten. Für viele Nationalisten war eine solche Perspektive unannehmbar. Schuman konnte seinen Standpunkt durchsetzen: Frankreich und Deutschland haben bis 1945 gegeneinander gekämpft, um Europa zu beherrschen. Ab 1950 wollen wir zusammenarbeiten, um ein friedliches Europa aufzubauen.

Joachim Menze: Schuman war Jahrgang 1886; Adenauer war Jahrgang 1876. Beide hatten zwei verheerende Weltkriege erlebt und erlitten. Schuman war bekennender Katholik; er wurde als Reichsdeutscher in Luxemburg geboren. Seine Muttersprache war moselfränkisches Deutsch. Im Ersten Weltkrieg war er in der deutschen Verwaltung tätig. Am 6. Dezember 1918 sprach sich der Landtag Elsaß-Lothringens für den Anschluss an Frankreich aus; Schuman wurde französischer Staatsbürger. Im Zweiten Weltkrieg wurde er von der Gestapo verhaftet und schloss sich nach seiner Flucht der französischen Résistance an.

Adenauer war ebenfalls Katholik, der bereits im ersten Weltkrieg als Stellvertreter des Oberbürgermeisters von Köln für die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Lebensmitteln zuständig war. Nach 1918 versuchte er, die Wirtschaft Kölns durch Ansiedlung unter anderem französischer Unternehmen voranzubringen. 1945 wurde er Oberbürgermeister von Köln, war Mitglied des Parlamentarischen Rates und wurde 1949 der erste Bundeskanzler. Er setzte sich für eine starke Westbindung der Bundesrepublik ein, und strebte seit 1949 auch nach einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik. Die europäische Integration war für Adenauer der einzige Weg zur Wiedererlangung der deutschen Souveränität.

Aus dem christlichen Wertekanon und den historischen Erfahrungen der beiden Politiker lässt sich ihr Engagement für eine dauerhafte Friedenslösung in Europa erklären.

HSS: In Deutschland war in der Gesellschaft die Skepsis gegenüber dem Schuman-Plan anfangs sehr groß. Heute ist die deutsch-französische Freundschaft dafür tief in unserer Gesellschaft verankert. Es gibt 2.200 Städtepartnerschaften, französisch ist an deutschen Schulen die zweitbeliebteste Fremdsprache und drei Millionen deutsche Touristen reisen jährlich nach Frankreich. Wie erklärt sich dieser Wandel?

Prof. Dr. Henri Ménudier: Trotz guten Willens gab es am Anfang viele Zweifel, ob die Annäherung mit Deutschland überhaupt möglich sei. In Frankreich hatte man Zweifel, dass die Erwachsenen, die im Dritten Reich mit Hitler marschiert waren, sich bald für Demokratie und Europa engagieren würden. Umso wichtiger war die Teilnahme der jungen Generation. Die deutsch-französischen Jugendbegegnungen haben gleich ab 1946 angefangen. Die Annäherung auf der Ebene der Gemeinden, der Städte und der Regionen hat wesentlich zur Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen unter der Bevölkerung beigetragen. So wurde der Gedanke der Völkerverständigung und der europäischen Einigung nicht nur von Politikern, sondern auch von vielen Bürgerinnen und Bürgern (sehr oft ehrenamtlich) gefördert.

Joachim Menze: Für die Annäherung zwischen Franzosen und Deutschen hat sicher auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit nach dem Krieg im Rahmen von EGKS und EG eine große Rolle gespielt. Der Handel führte zu persönlichen Begegnungen, man machte Geschäfte miteinander und baute so Vertrauen auf. Der kulturelle Austausch und der beginnende Tourismus ermöglichten Begegnungen, die den Menschen ihre Gemeinsamkeiten vor Augen führten. Viele junge Franzosen und Deutsche gaben sich Mühe, Vertrauen aufzubauen und kämpften für ein grenzenloses Europa. Frankreich galt und gilt für viele junge Deutsche als Hort der Kultur und Zivilisation.
 

HSS: Der Schuman-Plan gilt auch als Geburtsstunde deutsch-französischer Zusammenarbeit zur Stärkung der europäischen Idee. Welchen Einfluss hatte das deutsch-französische Tandem auf die weitere Entwicklung der Europäischen Union

Prof. Dr. Henri Ménudier: Die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 ist für mich eines der wichtigsten Dokumente der Nachkriegszeit. Sie fasst deutlich die Zukunft verschiedener Etappen einer erfolgreichen europäischen Einigung zusammen. Wir brauchten zunächst und unbedingt die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich; aber gleichzeitig sollten andere europäische Staaten mitmachen. Europa ist keine deutsch-französische Veranstaltung unter vier Augen. Es geht nicht um die üblichen diplomatischen Beziehungen, sondern um die Supranationalität. Wenn die Zusammenarbeit in den Bereichen Kohl und Stahl (EGKS) gut funktionierte, würde dadurch die Grundlage für eine europäische Wirtschaftseinigung gelegt. Das erklärte Endziel des Schuman-Plans sollte die politische europäische Föderation sein, die sich stark für die Entwicklung Afrikas engagieren sollte. Diese letzten Ziele sind sehr aktuell geblieben.

Joachim Menze: In den Anfangsjahren der EGKS und später der EWG waren Frankreich und Deutschland die größten und politisch stärksten Akteure. Die Zusammenarbeit im Rahmen der Elysée-Verträge war zugleich eine Verabredung zum gemeinsamen Vorgehen im Rahmen der europäischen Institutionen. Über die Jahrzehnte hat die französisch-deutsche Zusammenarbeit die Gemeinschaft immer wieder an entscheidenden Wegpunkten vorangebracht. Ohne die Bedeutung und den Beitrag anderer Mitgliedstaaten schmälern zu wollen, kann man sagen, dass die Union, wie sie heute besteht, ohne die französisch-deutsche Zusammenarbeit nicht denkbar gewesen wäre.

HSS: Im Schuman-Plan wird erstmals auch die Gründung einer supranationalen Organisation angedacht, deren Vertreter europäische vor nationale Interessen stellen und die finanziell von ihren Mitgliedsstaaten unabhängig ist. Wie sehr ist unsere heutige EU mit ihren Institutionen und ihrer Zielsetzung von dieser Blaupause beeinflusst?

Prof. Dr. Henri Ménudier: Schuman konnte nur die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl durchsetzen. Das Ziel der europäischen Union, das er verfolgte, ist zweimal wegen Frankreich gescheitert. Als Außenminister unterstützte er den Plan der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und die damit verbundene politische Union. Das Scheitern der EVG im August 1954 vor dem französischen Parlament bedeutete auch das Scheitern der europäischen politischen Gemeinschaft. Im Mai 2005 lehnte das französische Volk durch ein Referendum die europäische Verfassung ab. Kurz darauf trafen die Niederländer mit einer größeren Mehrheit die gleiche Entscheidung. Es war der zweite Tod der politischen Union. Wegen der vielen Bereiche der Zusammenarbeit und der Zahl der Mitgliedstaaten ist die aktuelle Europäische Union mit der EGKS nicht zu vergleichen. Es fehlt heute die damalige Kreativität und der Wunsch, nach vorne zu gehen. Wer setzt sich heute in Brüssel für die europäische Föderation ein, die Schuman damals verlangt hat? Das Prinzip der Supranationalität hat leider sehr stark wegen des aufkommenden Nationalismus und Protektionismus gelitten.

Joachim Menze: Die Idee einer supranationalen Organisation, in Abgrenzung zu einer rein völkerrechtlich verfassten Organisation, ist weiterhin das prägende Prinzip der Europäischen Union. Im Laufe der Jahre haben verschiedene Ansätze hin zu einer föderalen Struktur keine politischen Mehrheiten gefunden. Dennoch wurden der Union im Rahmen der verschiedenen Vertragsänderungen immer weitere Kompetenzen übertragen und in den meisten Politikbereichen gilt inzwischen das Prinzip der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit.

Auffällig ist das offensichtliche Missverhältnis zwischen den Erwartungen der Öffentlichkeit an die Union und den dieser von den Mitgliedstaaten übertragenen Kompetenzen. Gerade in Krisenzeiten, wie dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms 2015/2016 und der zurzeit bestehenden Covid19-Krise, zeigt sich, dass viele die Sinnhaftigkeit einer stärkeren Integration erkennen und eher erstaunt sind, dass die Union in zentralen Bereichen wenig oder keine Handlungsmöglichkeiten hat.  „Europa wird aus Krisen geboren“, sagte Jean Monnet und dies ist wohl immer noch politische Realität. Für eine grundlegende institutionelle Reform bedarf es einer langfristigen politischen Einigkeit, die in einem Europa der 27 nur schwer zu erreichen ist.

HSS: Neben Deutschland und Frankreich beteiligten sich auch Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande 1952 an der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Welchen Beitrag und welche Perspektiven haben diese Staaten in das europäische Projekt miteingebracht?

Prof. Dr. Henri Ménudier: In der Geschichte des Aufbaus Europas verfolgt jeder Staat eigene nationale Ziele, die er in Einklang mit dem übergeordneten Ziel der europäischen Einigung bringen möchte. Durch seine wechselvolle Geschichte und seine starken Nachbarn wusste Luxemburg genau, wie wichtig die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist. Durch die Gründung des Benelux war Luxemburg auf einen breiteren Zusammenschluss mit anderen Partnern gut vorbereitet. Angesichts des Gewichtes der Luxemburger Eisen- und Stahlindustrie in der EGKS war es selbstverständlich, dass Luxemburg als gleichberichtigter Partner behandelt werden wollte.

Belgien war immer ein bedeutender Fürsprecher der europäischen Integration.  Die europäische Einigung gibt diesem Land die Möglichkeit, seinen politischen Einfluss nicht nur in Europa, sondern allgemein in den internationalen Beziehungen zu erweitern. Außenminister Paul-Henri Spaak setzte sich in den 1960er Jahren für die europäische Einigung ein. Es ist kein Zufall, wenn heute der Belgier Charles Michel Ratspräsident ist.

Auf Grund der geringen Größe und der geographischen Lage des Landes sowie wegen der Globalisierung der Wirtschaft haben die Niederländer ein großes Interesse an einem stabilen europäischen Umfeld. Vor dem Brexit ging 75 Prozent der Ausfuhr der Niederlande in die EU, die Hälfte der Einfuhr kam aus EU-Ländern. Für die Niederländer ist die Kernaufgabe der EU Wohlstand, Frieden und Sicherheit. Niederländische Staatsmänner haben sich vor allem durch ihr wirtschaftliches Engagement bemerkbar gemacht: Mansholt für die Agrarpolitik (Mansholt-Plan 1962), Van der Broeck für die Erarbeitung des Vertrages von Maastricht (1990) oder Duisenberg als erster Präsident der Europäischen Zentralbank (1998-2003). Die europäischen Institutionen werden auch als Schutz gegen die Macht der größeren Länder verstanden und genutzt.

Nach den katastrophalen Erfahrungen mit dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg wollte sich Italien nach 1945 in die westliche Welt integrieren und eine konstruktive Rolle übernehmen.  Um nicht in den Hintergrund der internationalen Politik geschoben zu werden, wollte Italien eine neue Legitimität durch die Teilnahme an der europäischen Einigung bekommen. Deswegen hat es sich stark für die Supranationalität und die politische Union eingesetzt. Gleichzeitig hoffte Italien – gestern wie heute –, dass die europäische Integration dazu beitragen würde, seine wirtschaftlichen wie sozialen Probleme zu lösen. Diese Unterstützung durch Europa sollte auch indirekt die politischen Institutionen der Republik stärken. Italien hatte also viele Gründe, sich für Europa stark zu machen.

Joachim Menze: Im Juni 1932, am Rande der Konferenz von Lausanne, auf der angesichts der Weltwirtschaftskrise nach dem Black Thursday im Oktober 1929 die Reduzierung der deutschen Reparationszahlungen vereinbart wurde, unterzeichneten die Niederlande, Luxemburg und Belgien das erste Benelux-Abkommen. Diesem vorausgegangen war die bereits 1922 ratifizierte Belgisch-Luxemburgische Wirtschaftsunion, verbunden mit einer Währungs-Assoziation, die 80 Jahre bis zur Einführung des Euro hielt. Sie wollten der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre nicht durch Protektionismus, sondern durch intensiveren Handel untereinander begegnen und beschlossen deshalb, ihre Zölle für Waren der Vertragspartner zu senken. Die Beneluxländer forderten die anderen Staaten vergeblich auf, sich ihrem Abkommen anzuschließen.

Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1944, im Londoner Exil, unterzeichneten die Regierungsvertreter der Benelux-Staaten das zweite Abkommen, das eine vollständige Zollunion vorsah und am 1. Januar 1948 in Kraft trat. Die Benelux-Staaten verzichteten auf gegenseitige Zolleinnahmen und erklärten sich bereit, die vier sogenannten wirtschaftlichen Grundfreiheiten – die Freiheit des Waren-, Dienstleistungs- Kapital- und Personenverkehrs – herzustellen. Weil der Handel zwischen den Benelux-Staaten zwischen 1948 und 1958 um 200 Prozent stieg, wurden sie als Vorbild für den westeuropäischen Integrationsprozess angesehen. Die Benelux-Staaten gaben später den Anstoß für wichtige europäische Übereinkommen, zum Beispiel die Römischen Verträge von 1957. Die Grundideen und Erfolge der Benelux-Abkommen sind eine der Grundlagen der Europäischen Union. Die Benelux-Staaten, insbesondere Belgien und Luxemburg, waren historisch für die Montanindustrie von zentraler Bedeutung. Die Montanunion wäre ohne die Benelux-Staaten politisch und wirtschaftlich sinnlos gewesen.

Das post-faschistische Italien verfolgte mit seinem Beitritt zur Montanunion und später zur EWG ähnliche Ambitionen wie Deutschland. Man erkannte, dass eine Reintegration in die Staatengemeinschaft und damit auch eine wirtschaftliche Erholung nur durch eine Teilnahme am europäischen Friedensprojekt denkbar war. Die europäische Einbindung war zugleich Mittel zur Nivellierung innenpolitischer Differenzen. Das Referendum vom Juni 1946 hatte eine deutliche Nord-Süd Differenz offenbart, in dem sich der Norden mit einer pro-republikanischen Haltung knapp durchsetzen konnte. Die europäische Integration und der damit verbundene wirtschaftliche Aufschwung hat mit dazu beigetragen, eine politische Spaltung Italiens zu vermeiden.

HSS: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen […] Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen“, formuliert der Schuman-Plan. Wird die EU diesem Anspruch gerecht, vor allem jetzt in der Corona-Krise?

Prof. Dr. Henri Ménudier: Der überzeugte Katholik und Christdemokrat Schuman unterstreicht zweimal in seiner Erklärung vom 9. Mai 1950 die Bedeutung der Solidarität in dem Prozess der europäischen Einigung. Das Gelingen des europäischen Projektes lag nun in der Kompetenz der Staaten, die mehr Macht als die EU besitzen. Es ist wirklich schlimm, zu beobachten, wie der Gedanke der Solidarität in der Coronavirus-Krise strapaziert wird. Die europäischen Staaten haben zunächst Maßnahmen getroffen, ohne sich vorher abzustimmen. Jeder hat nach seinem eigenen Willen die Grenzen für Personen und Güter geschlossen. Es wurden sogar Maßnahmen getroffen, die sich widersprechen. Schnell hat sich aber gezeigt, dass eine Koordinierung auf europäischer Ebene nötig war. Die europäischen Institutionen, vor allem die EZB, haben in kurzer Zeit viele Milliarden lockergemacht.

Die Frage der finanziellen Unterstützung für die Ankurbelung der beschädigten Wirtschaft, besonders in Italien und Spanien, ist zu einem Streitthema zwischen Süd- und Nordeuropa geworden. Wiederaufbaubonds oder Coronabonds entzweien die EU-Staaten. Es gab hitzige Auseinandersetzungen mit teilweise heftigen Schuldvorwürfen. Es geht eigentlich nicht nur um Geld, sondern um echte Solidarität, auch mit Afrika. Viele Menschen fürchten, dass die EU zusammenbrechen könnte. Aber vielleicht wird sie stärker aus der Krise herauskommen. Auch wenn die Regierungen sich streiten und sich sehr unsolidarisch zeigen, gibt es in der Gesellschaft und in den einzelnen Ländern viele ermutigende Beispiele der Zusammenarbeit und der Solidarität. Die EU könnte bestimmt mehr unternehmen, wenn die Mitgliedstaaten bereit wären, eine Politik der Solidarität zu gestalten. Die Solidarität ist ein unentbehrliches Fundament für die Zukunftsfähigkeit der EU.

Joachim Menze: Die Formulierung Schumans verstehe ich eher als einen Appell für eine realistische Politik der kleinen Schritte in Abgrenzung zu den als träumerisch empfundenen Ideen europäischer Föderalisten. Ihm war sicher bewusst, dass es seit Dubois'  Werk „Über die Wiedergewinnung des Heiligen Landes“ von 1306 und dem 'Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe' des Abbé de Saint-Pierre Castel von 1713, um nur einige zu nennen, genügend Ideen und vergebliche Vorstöße zu einer friedenssichernden politischen Einigung Europas gegeben hatte.

Die bahnbrechende Idee Schumans war der erste Schritt mit der supranationalen Montanunion, die im politischen Kontext der Nachkriegszeit mehrheitsfähig, realpolitisch möglich und zugleich angelegt war, den Nukleus für weitere Schritte zu bilden.

Ich persönlich finde den, oft mit einem moralisierenden Duktus verwendeten, Begriff der Solidarität als eher hinderlich bei der Erzielung politischer Einigung in einem immer heiklen Geflecht aus wirtschaftlichen und fiskalischen Interessen, historischen Empfindsamkeiten, nicht harmonisiertem Finanz- und Steuerrecht und generell unterschiedlichen Traditionen des Verhältnisses von Staat und Individuum. Der Initiator gerät leicht in das Licht, sein Gegenüber als moralisch geringwertiger zu diskreditieren, wenn seinen Vorschlägen nicht zugestimmt wird.

Die EU als Verbund ihrer Mitgliedstaaten beruht, neben anderen zentralen Werten, auf dem Prinzip der Solidarität. Inhalt und konkrete Reichweite europäischer Solidaritätspflichten sind allerdings unbestimmt und bedürfen klarer Anhaltspunkte in den EU-Verträgen. Insofern sind insbesondere Art 80 in Teil 3, Titel V über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Art 122 Abs 2 in Teil 3, Titel VIII über die Wirtschafts- und Währungspolitik und Art 222 in Teil 5 über das auswärtige Handeln der Union zu nennen.

Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft, die sich primärrechtlich eine recht klare Finanzverfassung gegeben hat. In jeder fiskalisch oder anderweitig schwierigen Situation mit dem Begriff der Solidarität zu argumentieren, halte ich für unglücklich, weil die Frage des „wer zahlt wieviel wofür“, das Budgetrecht, in einer demokratisch verfassten Gesellschaft dem gewählten Parlament obliegt; „no taxation without representation“. Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht im ESM Urteil von 2014 auch sehr deutlich herausgearbeitet: „Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages setzt voraus, dass der Legitimationszusammenhang zwischen dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Parlament unter keinen Umständen unterbrochen wird.

Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit sowie die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen aus Art 4 Abs 2 und 3 EUV sind die Grundlage für eine einvernehmliche Fortentwicklung der finanzverfassungsrechtlichen Grundlagen.

Die Ausgestaltung der innereuropäischen Kohäsionspolitik, der Wirtschafts- und Währungsunion sowie der europäischen Finanzarchitektur als Ganzem ist, solange es keinen europäischen Föderalstaat gibt, immer eine Frage des Budgetrechts der nationalen Parlamente. Jeder Schritt zu mehr finanziellem Engagement zur Förderung und Unterstützung europäischer Projekte, wie z.B. der Unterstützung wirtschaftlich schwächerer Teile der Union, bedeutet immer auch eine langfristige Bindung künftiger Steuerzahler, und damit de facto eine Bindung des Budgetrechts künftiger Parlamente.

In der gegenwärtigen Covid19 Krise haben die anfänglich wenig koordinierten Reaktionen der zuständigen Mitgliedstaaten, und im föderalen Deutschland der für öffentliche Gesundheit weitgehend zuständigen Bundesländer, sicher die grundsätzliche Sinnhaftigkeit einer Übertragung weiterer Kompetenzen auf die europäische Ebene verdeutlicht. Das 2004 als Agentur gegründete Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten in Stockholm (ECDC ), das gegenwärtig weitgehend beratende und koordinierende Funktion und ausdrücklich keine Regelungskompetenz hat, könnte hierfür ein Nukleus sein.

Unsere letzten Fragen an Herrn Menze:Wir stehen vielleicht vor der größten humanitären Krise seit 1945. Wie beurteilen Sie die Bemühungen der EU Kommission, um die Coronavirus-Pandemie zu bewältigen? Was sind die negativen Aspekte? Gibt es positive? Welche Chancen haben multilaterale Lösungen und wird es eine europäische Gesundheitspolitik geben?

Joachim Menze: Wir haben es mit einer Pandemie zu tun, mit weltweit Ende April 2020 etwa drei Millionen Infizierten und 220.000 Toten bei einer Weltbevölkerung von 7,8 Milliarden Menschen. Die Spanische Grippe vor 100 Jahren forderte zwischen 27 Millionen und 50 Millionen Menschenleben, mehr als der vorangegangene Weltkrieg, bei einer Weltbevölkerung von etwa 1,8 Milliarden. Bei der Covid19 Pandemie von der größten humanitären Krise seit 1945 zu sprechen, halte ich für etwas verfrüht, da bei allen Gefahren doch auch gute Chancen bestehen, diese Krise einzugrenzen. Allein der Syrienkrieg hat in den letzten neun Jahren etwa 380.000 Tote hinterlassen und etwa 13 Millionen Menschen in die Flucht gezwungen, bei gut 21 Millionen Syrern im Jahr 2010.

Die Covid19 Pandemie ist eine schwere Krise mit Ansage. Seit etwa 15 Jahren warnen Wissenschaftler vor dem Szenario, das wir jetzt erleben. Sars, Vogelgrippe, Ebola, Covid-19, dies sind Krankheiten, die entstehen, wenn Erreger von Tieren auf den Menschen überspringen, durch Zoonose. Durch Wirtschaftswachstum, weltweit vernetzte Handelsströme, einem exponentiellen Bevölkerungswachstum mit einer Verdoppelung in nur 50 Jahren, durch weltweites Reisen in Hochgeschwindigkeit, Megacities, zerstörerische Umweltverschmutzung und das weitgehende Zurückdrängen der Natur haben wir ideale Entstehungs- und Ausbreitungsbedingungen für das Coronavirus geschaffen und dafür gesorgt, dass es uns besonders hart treffen kann. Das jetzige Szenario wurde konsequenterweise bereits 2012 in einer Risikoanalyse des Bundestages als bedingt wahrscheinlich eingestuft. Trotzdem waren weder Deutschland noch die EU wirklich darauf vorbereitet.

Die Mitgliedstaaten haben Fragen der öffentlichen Gesundheit und der Pandemiebekämpfung immer als nationalstaatliche Aufgabe angesehen und behandelt. Erst mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 wurde das Thema Gesundheit zurückhaltend auf die europäische Agenda gesetzt. Der heutige Art 168 AEUV postuliert: „Die Tätigkeit der Union ergänzt die Politik der Mitgliedstaaten und ist auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit gerichtet.“ Im letzten mehrjährigen Finanzrahmen war das EU-Gesundheitsprogramm mit einer Mittelausstattung von rund 450 Millionen Euro für den Zeitraum 2014-2020 ausgestattet, also unter 1 Euro pro Einwohner über sieben Jahre. Die für Pandemien zuständige EU-Agentur ECDC hat ein Jahresbudget von rund 60 Millionen Euro.

Zum Vergleich: Etwa 9,6% des BIP entfallen auf das Gesundheitswesen in den Mitgliedstaaten der EU, etwa das zehnfache des EU-Haushaltes. Auf Ebene der Mitgliedstaaten beträgt der Anteil am BIP zwischen ca. 6,5% etwa in den baltischen Staaten, Polen und Zypern und ca. 11% in Deutschland, Frankreich und Schweden (). Im europäischen Durchschnitt gab es Anfang 2020 11,5 (mit einer Bandbreite zwischen 4 und 30) Intensivbetten pro 100000 Einwohner.

Am 13. Januar 2020 wurde aus Thailand die erste laborbestätigte Infektion mit Covid19 gemeldet, am 23. Januar 2020 wurde der erste Infektionsfall außerhalb von Asien in den USA gemeldet. Es gab jeweils eine Verbindung zu Reisen nach oder von Wuhan in China. Am 2. Februar 2020 trat auf den Philippinen der erste Todesfall außerhalb Chinas auf; es handelte sich um einen Chinesen aus Wuhan. Am 9. Februar 2020 überstieg die Zahl der registrierten Todesfälle mit über 800 die Gesamtzahl der Todesfälle der SARS-Pandemie 2002/2003. Am 16. Februar 2020 wurde aus Frankreich der erste Todesfall außerhalb Asiens gemeldet, eine aus China eingereiste Person. Das Krisenmanagement in der EU startete zunächst nur auf mitgliedstaatlicher oder, wie z.B. in Italien, regionaler Ebene. Einen Monat später ging ganz Europa in den lock-down, basierend auf einzelstaatlichen Entscheidungen.

Die EU und insbesondere die Europäische Kommission hat im Rahmen ihrer Kompetenzen schnell und sachgerecht reagiert. Sie hat darüber hinaus insbesondere Schritte unternommen, die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu koordinieren, um die Wirksamkeit der Maßnahmen zu verbessern und die Auswirkungen auf den Binnenmarkt zu begrenzen. Einen Überblick über die verschiedenen Schritte in chronologischer Reihenfolge findet man auf der Internet-Seite der Kommission.

Als positiv kann man wohl herausstellen, dass nach anfänglichen eher national orientierten Reflexen die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit in der Union erkannt und auch umgesetzt wurde. Als negativen Aspekt muss man wohl bemerken, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten gerade in der Frühphase häufig ohne ausreichende Rücksicht auf die Nachbarn und auf den Binnenmarkt beschlossen wurden. Gerade das europäische Wettbewerbsrecht steht im Hinblick auf die unterschiedlichen nationalstaatlichen Fördermaßnahmen vor großen Herausforderungen.

In einem nächsten Schritt werden sicher die Konsequenzen und die Lehren aus der Covid19 Krise diskutiert werden. Eine Stärkung der multilateralen Ebene, insbesondere wohl der WHO, wird eine der möglichen Konsequenzen sein. Wir können etwas ändern, um solche Seuchenzüge zu verhindern oder zumindest deutlich unwahrscheinlicher zu machen. Wir können weltweite Seuchenprävention über die international normative Wirkung unseres Binnenmarktes und unserer Handelspolitik stärken.

Auf Ebene der EU wird wohl auch eine Reform der Aufgabenverteilung zwischen Mitgliedstaaten und der europäischen Ebene zu diskutieren sein, wobei eine entsprechende Reform des Primärrechts eher längerfristig, wenn überhaupt, zu erwarten sein dürfte. Für wahrscheinlicher halte ich eine schlagkräftige aber ergänzende Struktur, die ohne Vertragsänderung auskommt, um die unmittelbaren Lehren möglichst schnell umsetzen zu können.

Im Hinblick auf die unmittelbar existenzielle Bedeutung des Gesundheitswesens, der damit verbundenen enormen Kosten sowie der sehr unterschiedlichen historisch gewachsenen Finanzierungsstrukturen, die jeweils auch einen Generationenvertrag beinhalten, halte ich es für unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit eine originär europäische Gesundheitspolitik sehen werden. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die bereits begonnene, und nun zu intensivierende, Arbeit an der Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte von 2017 zu einer erheblichen Weiterentwicklung effektiver gemeinsamer Standards im Bereich der Gesundheit führen wird.

HSS. Sehr geehrter Herr Menze, sehr geehrter Prof. Ménduier, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Dr. Sarah Schmid, HSS

Extern
Dr. Sarah Schmid
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