Wer die internationale Handlungsfähigkeit der Europäischen Union stärken möchte, verweist auf das Einstimmigkeitsprinzip als Bremsklotz. Dahinter verbirgt sich, dass die Außenminister der EU-Mitgliedstaaten ihre jeweilige Außenpolitik mit ihren Amtskollegen im EU-Außenrat abstimmen, um möglichst zu einer einheitlichen EU-Außenpolitik zu kommen. In diesem Gremium hat jedes EU-Mitgliedsland ein Vetorecht, denn es bedarf der Einstimmigkeit. Um die Entscheidungsfindung zu beschleunigen, steht der Vorschlag im Raum, das Prinzip einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung einzuführen. In ihrer Grundsatzrede vor dem Europäischen Parlament forderte Ursula von der Leyen zwar genau dies und appellierte an den Mut der Mitgliedstaaten, beschränkte ihre Empfehlung jedoch im zweiten Halbsatz sogleich auf „wenigstens bei Menschenrechten und der Verhängung von Sanktionen“. Sie ließ offen, wie sich diese Beschränkung in der Praxis umsetzen ließe. Insgesamt blieb sie an dieser entscheidenden Stelle hinter ihrem Anspruch einer handlungsfähigen „geopolitischen Kommission“ zurück.
Anschließend unternahm sie einen Schwenk zu tagespolitisch aktuellen Ereignissen. „Egal ob in Hong Kong, Moskau oder Minsk: Europa muss klar und schnell Position beziehen“, machte die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin deutlich. Sie sagte, die Wahlen in Weißrussland seien weder frei noch fair gewesen, und die Menschen müssten die Freiheit haben, die Entscheidung über ihre eigene Zukunft selbstbestimmt zu treffen. Mit Blick auf die Vergiftung des russischen Kreml-Kritikers Alexej Nawalnij sprach sie von einem Muster, dass „wir in Georgien und der Ukraine, in Syrien und Salisbury – und in der Einmischung in Wahlen auf der ganzen Welt sahen“. Die EU-Kommissionspräsidentin unterließ es, den Baustopp der Gaspipeline NorthStream2 zu fordern. Dies lässt die Interpretation zu, dass die EU-Außenpolitik die Russische Föderation – mit strategischem Weitblick – nicht in die Arme Chinas treiben möchte.
„Die Türkei ist und wird immer ein wichtiger Nachbar bleiben“, führte von der Leyen aus. Im Hinblick auf die Lage im östlichen Mittelmeer lobte die EU-Kommissionspräsidentin den Rückzug zweier türkischer Forschungsschiffe und verurteilte jegliche Versuche, Nachbarn einzuschüchtern. Sie bekräftigte, dass die EU-Mitgliedsstaaten Zypern und Griechenland sich immer auf Europas volle Solidarität beim Schutz ihrer legitimen souveränen Rechte verlassen können und sendete damit ein wichtiges Signal des Zusammenhalts sowohl nach innen als auch nach außen. Die Präsidentin der EU-Kommission gab damit auch die Richtung für die Sondersitzung des Europäischen Rats in wenigen Tagen vor.
Im Hinblick auf China wiederholte Ursula von der Leyen die bekannten Beschreibungen der ambivalenten Beziehungen: Peking als „Verhandlungspartner, wirtschaftlicher Wettbewerber und systemischer Rivale“. Sie kritisierte die ungleichen Bedingungen beim Handel und bei Investitionen. Beim gerechten Marktzugang für europäische Unternehmen, Reziprozität und Überkapazitäten sei noch viel Arbeit zu erledigen, so von der Leyen. Sie schwenkte nicht auf den Kurs derer ein, die China als einen Hoffnungsträger bei der Reform internationaler Organisationen erachten. Ebenso wenig schloss sie sich der Linie der Vereinigten Staaten von Amerika an, die China zunehmend als einen Feind sehen, den sie zudem als Handelspartner ablehnen.
Washington reichte die EU-Kommissionspräsidentin ihre Hand. Sie äußerte ihre Bereitschaft zum Aufbau einer neuen transatlantischen Agenda, „was auch immer später in diesem Jahr passiert“. Sie warb um die Mitwirkung der Vereinigten Staaten bei der Reform des internationalen Systems, „dass wir zusammen aufgebaut haben“. Für die EU kommt in diesem Kontext insbesondere der Handlungsfähigkeit der Welthandelsgesellschaft (WTO) eine überragende Bedeutung zu, weil Brüssel seine Handelsbeziehungen auf die „Herrschaft des Rechts“ im Rahmen der friedlichen Streitbeilegung gründet. Im Rahmen der WTO funktioniert dieser Streitbeilegungsmechanismus nicht mehr, weil die Vereinigten Staaten „ihre“ Richterstelle an der Berufungsinstanz nicht nachbesetzen, und damit das notwendig Quorum unterschritten wird. Ursula von der Leyen hätte in ihrer Rede die Ambitionen der EU als Verfechterin multilateraler Zusammenarbeit deutlicher und selbstbewusster formulieren können: mit der Ankündigung, dass Brüssel gleichgesinnte Länder um sich versammeln möchte, gegebenenfalls auch ohne die Vereinigten Staaten.
Kurz äußerte sich von der Leyen zur Erweiterungspolitik auf dem Westbalkan und der Östlichen Partnerschaft. Hier wären konkretere Aussagen wünschenswert gewesen, allen voran deshalb, weil die EU-Kommission 2020 die Östliche Partnerschaft neu ausrichten wollte. Leider kommt auch das Verhältnis mit Afrika zu kurz, selbst wenn von der Leyen den Kontinent als „Schlüsselpartner bei der Schaffung der Welt, in der wir leben wollen“ bezeichnet.
Abschließend bleibt anzumerken, dass die Kommissionspräsidentin einen ganz wesentlichen Teil einer Europäischen Union, die geopolitisch handeln möchte, vollständig ausgesparte: Sie sagte nichts zu einer Verteidigungsunion, das heißt dem Aufbau gemeinsamer Streitkräfte und der Entwicklung gemeinsamer Waffensysteme. Gerade im Hinblick auf das zukünftige Verhältnis mit dem Vereinigten Königreich und die schwierigen Brexit-Verhandlungen könnte es hier Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit geben.
Autor: Dr. Markus Ehm, HSS, Leiter Europa-Büro Brüssel