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Amerika und die Afghanistan-Krise
Geschlagen

Nach dem Ende des Afghanistan-Einsatzes von US-Armee und NATO-Truppen herrscht internationale Ratlosigkeit. Welche Konsequenzen beschert der überstürzte Abzug dem Westen? Wie kann die größte Zahl an Menschen noch aus dem Land geholt werden und wie sind die Versprechungen der Taliban zu bewerten? Wir haben den Afghanistan Veteranen, Prof. Paul Miller, gefragt.

Paul Miller ist Afghanistan-Veteran, Geheimdienstoffizier und Politikprofessor. Er war Direktor für Afghanistan und Pakistan im Nationalen Sicherheitsrat unter George W. Bush, leitete den Übergang zur Obama-Administration und lehrt seit 2011 internationale Beziehungen an der Georgetown Universität in Washington. Paul Miller gehört zu den einflussreichen Stimmen des internationalen Lagers der Republikaner. Er kritisierte die aggressive nationalistische Außenpolitik Donald Trumps genauso wie er heute scharfsinnig die Fehler von Joe Biden benennt. Wir trafen uns mit ihm in Washington zu einem offenen Gespräch über die Afghanistan-Krise.

Paul Miller steht an einem Rednerpult und erklärt etwas.

Prof. Paul Miller, Afghanistan-Veteran, Geheimdienstoffizier, Politikprofessor und einflussreiche Stimme des internationalen Lagers der Republikaner.

©HSS

Hanns-Seidel-Stiftung: Schockierende Bilder vom chaotischen Truppenabzug der Amerikaner aus Afghanistan gingen um die Welt. Joe Biden weist jede Kritik von sich und sieht die Schuld bei Donald Trump, der das schlechte Doha-Abkommen mit den Taliban verhandelte, und bei der zusammengebrochenen afghanischen Regierung. Was ist Ihre Analyse der früheren und heutigen amerikanischen Afghanistan-Politik?

Prof. Paul Miller: Das Friedensabkommen der Trump-Regierung mit den Taliban letztes Jahr war zutiefst fehlerhaft. Die USA wurden zum kompletten Rückzug gezwungen, während den Taliban keine durchsetzbaren Forderungen auferlegt wurden. Ich war sehr überrascht, als die Biden-Administration an den Vereinbarungen festhielt und das Abkommen nur mit kurzer Verzögerung umsetzte. Ich hatte erwartet, dass man das Friedensabkommen ablehnt, was man auch hätte tun sollen, und dass man Neuverhandlungen mit weißer Weste verlangt. Die Biden-Administration hat den US-Rückzug katastrophal umgesetzt. Man hätte sich überhaupt nicht zurückziehen sollen. Aber wenn man sich für den Rückzug entscheidet, muss man die öffentliche Ankündigung solange hinauszögern, bis der Rückzug abgeschlossen ist und alle zivilen Kräfte sowie afghanische Partner evakuiert sind. Die Biden-Administration hat den Taliban ständig Einfluss und Hebel gegeben. Gerade erreichten mich Informationen, dass wir gerade einmal 8.500 Afghanen ausgeflogen haben, während weitere Zehntausende mit speziellen Einreisevisen zurückgelassen wurden. Das ist ein frappierendes Pflichtversäumnis und ein Verrat an unseren Verbündeten.

HSS: Präsident Biden vertritt die These, dass es keine dritte Option in Afghanistan gibt. Entweder ein klarer Schnitt und ein kompletter Rückzug oder eine weitere Konflikteskalation durch die Entsendung von Tausenden mehr Soldaten. Hat Biden Recht?

Biden hat fast Recht. Aber er stellt es so dar, als ob wir entweder vollständig abziehen oder zu früheren Truppenstärken wie 2009 und 2010 zurückkehren müssten, als wir 100.000 Soldaten in Afghanistan hatten. Diese Alternativen sind falsch und nicht, was wir tun müssen. Es trifft zu, dass es vor dem Rückzug keine Pattsituation im Krieg gab. Truppenverstärkungen waren erforderlich. Ich war ein hartnäckiger Kritiker des Tempos und des Zeitpunktes des US-Truppenrückzugs seit 2010. Meine Analyse in den letzten zehn Jahren war, dass wir zu schnell und zu umfangreich abzogen. Es war keine stabile Kriegslage, aber Präsident Biden liegt falsch mit seiner Behauptung, wir hätten eine massive Eskalation gebraucht. Tatsächlich hätte eine moderate Aufstockung um ein paar tausend Soldaten den Krieg stabilisiert. 2014 hatten die USA 30.000 Soldaten in Afghanistan stationiert, ein Jahr später noch 15.000 Truppen, und die Konfliktlage war damals in keiner Weise so chaotisch wie jetzt in den letzten Wochen. Eine moderate Truppenaufstockung wäre erreichbar und tragfähig gewesen.

Biden sitzt am Kopf eines Tisches und hört einem General zu.

US-Präsident Biden diskutiert die Lage in Afghanistan mit seinem Sicherheits-Team. Top Themen: Operationen gegen terroristische Gruppen, die Evakuierung möglichst vieler Menschen sowie diplomatische Bemühungen.

©0; Office of the President of the United States

HSS: Der chaotische Abzug schwächt Amerikas globale Macht, Amerikas Bündnispartner sind verstört, Amerikas geopolitische Widersacher wie China und Russland fühlen sich bestärkt. Was sind die internationalen Konsequenzen der gescheiterten Afghanistan-Intervention?

Die erste Konsequenz ist, dass wir mit einem erhöhten Risiko des internationalen Terrorismus konfrontiert sind. Wir haben Terroristen ein Land überlassen, das Terrornetzwerke wie Al-Qaeda, Islamischer Staat, die pakistanischen Taliban und so viele mehr jetzt als sicheren Rückzugsort nutzen können. 20 Jahre lang waren sie auf der Flucht, vor unseren Einsatzkommandos, vor unseren Drohnen und vor unserer Aufklärung. Jetzt haben sie wieder einen operativen Raum zum Handeln, zur Rekrutierung von Nachwuchs, zum Einwerben von Terrorgeldern, zum Training und zur Ausarbeitung von Terrorplänen. Das ist die primäre Konsequenz. Eine weitere Folge ist die internationale öffentliche Erniedrigung der USA und der NATO. Es ist wie im Schach: Wir haben Initiative und Handlungsfähigkeit verloren, während unsere Gegner am Drücker sind. Mit dem Fall von Kabul sind wir in der Defensive. Unsere Gegner wie Al-Qaeda und die Taliban, aber auch China, Russland, Nord-Korea, Iran und andere haben Oberwasser. Die Welt ist heute weniger sicher, weniger frei und weniger stabil als noch vor zwei Monaten.

HSS: Verstärkt die Afghanistan-Krise einen längerfristigen Trend in der US-Außenpolitik, den viele Kenner als globalen Rückzug, Fokussierung auf innenpolitische Prioritäten und Interessen, als schwindende US-Militärmacht und als begrenzte internationale Koordination beschreiben? Oder ist Afghanistan ein Einzelfall?

Drei Präsidenten nacheinander haben jetzt von endlosen Kriegen, vom Staatsaufbau zu Hause und vom Rückzug aus Afghanistan gesprochen. Präsident Obama war dabei noch etwas internationalistischer. Er sprach davon, sich Asien zuzuwenden (Pivot to Asia) und verband damit eine Interessenverlagerung vom Mittleren Osten nach Asien. Der Rückzug aus Afghanistan ist Teil eines Trends. Und er stößt auf Zustimmung unter den Amerikanern. Sie haben diese Präsidenten gewählt und die Präsidenten haben den Wähler gegeben, was sie wollten: ein Ende des Krieges im Irak und ein Ende des Krieges in Afghanistan. Wir haben unsere Truppenpräsenz in Europa auf das niedrigste Niveau seit 1942 reduziert. Es ist schwer vorzustellen, wie die USA unter diesen Umständen ihre globale Führungsrolle in einer freien Welt ausüben können.

Menschen besteigen ein Militärflugzeug.

21. August 2021: Evakuierte besteigen einen “Globemaster III” der Luftwaffe der Vereinigten Arabischen Emirate auf dem Hamid Karzai International Airport in Kabul.

Sgt. Samuel Ruiz; ©0; U.S. Marine Corps

HSS: Gibt es also zukünftig weniger Amerika in der internationalen Politik?

Präsident Biden sagte: „Amerika ist zurück“. Er möchte gegen Ende des Jahres einen Gipfel der Demokratien ausrichten und Menschenrechte in den Mittelpunkt der US-Außenpolitik stellen. Aber ist das mehr als Rhetorik? Zeig mir, wohin die Gelder fließen. Show me the money, sagt man hier. Wo sind die Taten hinter den Worten? Wenn man die globale Koalition im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zusammenhält, spricht man schon davon, dass Amerika zurück ist. Biden zieht sich aus Afghanistan zurück und behauptet zugleich: Amerika ist zurück. Für mich sind das hohle Worte.

HSS: Wie fällt die Bilanz der Afghanistan-Intervention der letzten 20 Jahre aus? Was wurde erreicht? Gibt es positive Ergebnisse im Staatsaufbau, bei der Förderung von Demokratie und Frauenrechten, im Bildungswesen und bei der Ausbildung einer neuen Generation? Oder war die gesamte Afghanistan-Politik umsonst und jetzt haben wir es nur mit einem verlorenen Krieg zu tun?

Das wichtigste Ergebnis ist, dass wir seit 20 Jahren keinen erneuten Terroranschlag wie 9/11 erlitten haben. Das sollten wir nicht als selbstverständlich einstufen. Vor 20 Jahren sind wir mehrheitlich davon ausgegangen, dass weitere Terrorattacken folgen werden. Wir können stolz darauf sein, in Amerika Terroranschläge im Stil von 9/11 verhindert zu haben. Es gab Terroransachläge, aber nicht in dieser gewaltigen Größenordnung. Unsere Organe der inneren Sicherheit mögen heute besser funktionieren, aber ein Hauptgrund liegt darin, dass Al-Qaeda in die Flucht geschlagen wurde. Sie mussten sich vor unseren Drohnen und Einsatzkommandos verstecken und hatten keinen Raum, um Anschläge zu planen.
Zusätzlich haben wir erreicht, dass eine Generation von Afghanen in den Genuss eines neuen Lebens kam. Das wird für immer Teil ihrer Geschichte und ihrer Erinnerung bleiben und das kann zu Hoffnung und Inspiration für die Zukunft werden. Leider ist es nicht mehr eine Hoffnung und Inspiration, an der wir beteiligt sind. Aber es ist eine gute Entwicklung, die hoffentlich anhält und die wir erreicht haben. Wir haben einer Generation von Afghanen Erinnerung, Hoffnung und Inspiration gegeben. Journalisten berichteten mir von Gesprächen mit Afghanen vor Ort, die unter dem bestürzenden Eindruck der Rückkehr der Taliban standen. Keiner dieser Gesprächspartner glaubt, dass die letzten 20 Jahre eine Verschwendung waren. Im Gegenteil: Ihre Wertschätzung der letzten 20 Jahre ist sehr hoch.

HSS: Abschließend noch ein kurzer Blick auf die US-Innenpolitik. Die Republikaner kritisieren die Afghanistan-Politik der Biden-Administration sehr scharf. Verstärkt die Afghanistan-Krise die Konfrontation zwischen Demokraten und Republikanern in der Innenpolitik und sind im Kongress jetzt gemeinsame Gesetzgebungsprojekte wie das Infrastrukturpaket in Gefahr?

Selbstverständlich werden die Republikaner die Afghanistan-Krise als ein Mittel der Kritik an der Biden-Administration nutzen. Als Mittel der Kritik werden sie alles nutzen. Wahlen in Amerika drehen sich selten um Außenpolitik. Aber die Bilder aus Kabul und das Chaos vom Flughafen werden 2022 und 2024 wieder vorgespielt werden. Die Republikaner werden diese Bilder nutzen, um die Biden-Administration als schwach und inkompetent hinzustellen. Aber nochmals: Außenpolitik ist nur in Ausnahmefällen ein wahlentscheidender Faktor.

HSS: Professor Miller, danke für das offene Gespräch.