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Historisch-politische Bildung in Zeiten des Wandels

Studien haben teilweise eklatante Wissenslücken bezüglich des historischen Wissens und der politischen Bildung bei Schülern offen gelegt. Das große Unwissen überrascht auch deshalb, weil wir in Deutschland sowohl durch die Schulpflicht als auch z.B. durch Erwachsenenbildung, vielfältige Mittel und Wege haben, „jedermann“ mit politischer Bildung zu erreichen.

Michael Wolffsohn, Bassam Tibi, Josef Kraus, Reiner Kunze, Heinrich Oberreuter, Paula Bodensteiner (v.r.n.l.)

Michael Wolffsohn, Bassam Tibi, Josef Kraus, Reiner Kunze, Heinrich Oberreuter, Paula Bodensteiner (v.r.n.l.)

Gemeinsam mit dem Deutschen Lehrerverband (DL), der Arbeitsgemeinschaft bayerischer Lehrerverbände (ABL) und mit Unterstützung des Bundes Freiheit der Wissenschaft lud die Hanns-Seidel-Stiftung am 06. Juni 2016 zur Expertentagung im Konferenzzentrum München ein. In den Vorträgen der Referenten und den anschließenden Diskussionen, moderiert von Dr. Dirk Walter, Redakteur des Münchener Merkurs, wurden die unterschiedlichsten Aspekte historisch-politischer Bildung in Zeiten des Wandels betrachtet.

So betonte Dr. Peter Witterauf, der Hauptgeschäftsführer der Hanns-Seidel-Stiftung, dass die gewählte Thematik „Historisch-politische Bildung“ die Kernarbeit einer „politischen Stiftung“ treffe. Dabei verwies er auf die kürzlich erschienene Studie „Repräsentative Demokratie und politische Partizipation in Bayern“, die im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung durch die GMS Dr. Jung GmbH durchgeführt wurde. Als eines der Ergebnisse nannte er, dass die Mehrheit der Bayern zur Stärkung des Interesses an der Politik und damit indirekt auch zur Erhöhung der Wahlbeteiligung einen bundesweiten Aktionstag an den Schulen befürworten würde.

Anschließend sprach der Präsident des Deutschen Lehrerverbands Josef Kraus in seiner Hinführung zum Thema über die Bedeutung des Faches Geschichte an den Schulen. Er wies auf einen um sich greifenden historisch-politischen Analphabetismus hin, was seiner Meinung nach ein Ergebnis eines - in seiner Stellung als Schulfach - immer schwächer werdenden Geschichtsunterrichts sei. Geschichte dürfe nicht vernachlässigt oder verdrängt werden, denn dieses Fach trage sowohl zur kulturellen als auch zur individuellen Identitätsstiftung bei und sei damit ein wesentliches Element der staatsbürgerlichen Bildung und zugleich notwendige Voraussetzung für die Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen.

Klaus Schröder

Klaus Schröder

In seinen Forschungen hat der Politikwissenschaftler Professor Dr. Klaus Schroeder (FU Berlin) in den vergangenen Jahren in - für die teilnehmenden Länder Deutschlands - repräsentativen Befragungen den Kenntnisstand von Schülern in Zeitgeschichte festgestellt. In seinem Vortrag stellte er seine Forschungen vor und wies darauf hin, dass gute Kenntnisse in der zeitgeschichtlichen Materie direkt in Beziehung mit der Fähigkeit zur Einschätzung und Beurteilung der politischen Systeme in Deutschland des 20. Jahrhunderts stehen: Ohne ausreichendes Wissen auch keine Kompetenz, um ein demokratisches von einem repressiven System unterscheiden zu können. Auch bemerkte er, dass in der Lehrerausbildung die Zeitgeschichte eine zunehmend geringere Rolle spiele.

Professor Dr. Bassam Tibi, Experte für die Arabische Welt und den politischen Islam, gab Einblick in die große Vielfalt der islamischen Religion. Er betonte die Herausforderung, die durch die Einwanderung muslimisch geprägter Menschen nach Europa entstehe, eine weltanschauliche Auseinandersetzung, die nicht unterschätzt werden dürfe. Das Anliegen der hiesigen Kirchen und Politiker, einen einzigen Ansprechpartner im Islam zu finden, sei problematisch – denn die vielen liberalen und teilweise säkular lebenden Muslime fühlten sich von konservativ-religiösen Institutionen, die nur für einen Teil der hier lebenden Muslime sprächen, nicht vertreten. Er sprach sich für mehr Wissen über den Islam in allen Teilen der Gesellschaft aus und meinte damit nicht nur Islamunterricht an den Schulen, sondern auch mehr Wissen und Kenntnisse über die Religion bei allen gesellschaftlichen Akteuren.

Professor Michael Wolffsohn, Historiker und Publizist, entwickelte in seinem Vortrag die These seines neuen Buches „Zivilcourage“. Der Aufruf der Politiker, die Bevölkerung solle Zivilcourage zeigen, sei ein Symptom dafür, dass der Staat den Schutz im Innern nicht mehr vollständig gewährleisten könne. Das Wort „Zivilcourage“ gehöre eigentlich in den Kontext von Widerstandskämpfern gegen ein repressives System. Im heutigen Sprachgebrauch würden jedoch auch solche Handlungen so bezeichnet, die schlicht dem gesellschaftlichen Anstand entsprächen – dadurch verlören sie an Selbstverständlichkeit, und mit ihnen die grundlegende, verbindende gesellschaftliche Haltung, die Professor Wolffsohn als Zivilität bezeichnete. Diese zivilen Tugenden und Grundsätze fehlten heute in vielen gesellschaftlichen Kontexten – die Erziehung zu dieser Zivilität als Bindemittel der Gesellschaft sei heute notwendig, nicht der Aufruf zur Zivilcourage, der für den Zerfall des staatlichen Systems spreche. 

„Wer ist das Volk?“, fragte Professor Heinrich Oberreuter, Politikwissenschaftler sowie ehemaliger Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, im Titel seines Vortrages. Er stellte fest, die Parole „Wir sind das Volk“ für beliebige Protestbewegungen in Anspruch zu nehmen, sei unangemessen, denn in einem pluralistischen demokratischen System existiere eine Vielfalt an unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Haltungen. Er verdeutlichte, dass sich Demokratie und Liberalismus dadurch auszeichneten, dass Oppositionsfreiheit bestehe und jeder die Freiheit habe, seine Meinung nicht nur zu denken, sondern auch auszusprechen. Jeder habe ein Anrecht auf Respekt – das Gemeinwesen verdiene allerdings auch Respekt und dürfe weder von Einheimischen noch von Dazukommenden desintegriert werden. Durch Integration werde sich die Bevölkerung verändern, aber das sei ein natürlicher Prozess, der schon immer stattgefunden habe.

Reiner Kunze

Reiner Kunze

Für Nachdenkliches zum Ende der Tagung sorgte eindrucksvoll Reiner Kunze, Lyriker, literarischer Übersetzer und DDR-Dissident, durch seine Erfahrungen mit dem repressiven System der DDR. Seine Alltagserlebnisse von Unterdrückung und die notwendigen Ausweichmanöver in der überwachten Gesellschaft der DDR faszinierten, seine Gedichte in der anschließenden Lesung berührten und ließen die Tagung kontemplativ ausklingen. 

Ursula Männle und Rainer Kunze

Ursula Männle und Rainer Kunze

Für Nachdenkliches zum Ende der Tagung sorgte eindrucksvoll Reiner Kunze, Lyriker, literarischer Übersetzer und DDR-Dissident, durch seine Erfahrungen mit dem repressiven System der DDR. Seine Alltagserlebnisse von Unterdrückung und die notwendigen Ausweichmanöver in der überwachten Gesellschaft der DDR faszinierten, seine Gedichte in der anschließenden Lesung berührten und ließen die Tagung kontemplativ ausklingen. 

Abschließend hob die Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung, Professor Ursula Männle nochmals hervor, dass Reiner Kunze 2015 mit dem „Franz Josef Strauß-Preis“ der Hanns-Seidel-Stiftung, mit dem besondere Leistungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Kunst und Kultur gewürdigt werden, ausgezeichnet wurde. Im Rückblick auf das Gehörte bestätigte sie von neuem die wichtige Aufgabe im gesamten Bildungsbereich, geschichtliches und politisches Wissen zu vermitteln, da diese Kenntnisse helfen, um in sich ändernden Zeiten den Wandel besser zu verstehen und auch gestalten zu können. 

Die Veranstaltung diente dazu, den aktuellen Stand der politischen Bildung an unseren Schulen unter die Lupe zu nehmen und setzte sich damit auseinander wie die historisch-politische Bildung gefördert werden kann.

Fazit:

  • Ein breites Wissen über die Grundlagen der Geschichte und des politischen Systems in Deutschland ist prioritär zu sehen; auch vor dem Hintergrund der mit Sorge zu betrachtenden abnehmenden politischen Partizipation der Bevölkerung. 
  • Ohne ausreichendes Wissen kann sich keine Kompetenz ausbilden, um unterschiedliche politische Systeme unterscheiden und bewerten zu können. 
  • In der Lehrerausbildung muss auf Zeitgeschichte größerer Wert gelegt werden.
  • Mehr Wissen über andere Religionen und Kulturen ist gesamtgesellschaftlich nicht nur wünschenswert, sondern wichtig.
  • Ideen und Konzepten wie die demokratisch-freiheitliche Grundordnung angesichts von politischen und religiösen Extremismen am besten an heutige und zukünftige Schülergenerationen in einer immer vielfältigeren Gesellschaft vermittelt werden kann, sollte größeres Gewicht gegeben werden.