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Interview zur britischen Rechtstradition
Ihrer Majestäts Chaos

Krise der Institutionen in Großbritannien. Mittlerweile kennt sich kaum noch jemand aus im undurchsichtigen politischen System der ältesten Demokratie der Welt. Kann Boris Johnson Gesetze des Parlaments umgehen oder schlicht brechen? Wie steht es um die Gewaltenteilung und welche Rolle spielt die Queen? Wir haben für Sie Prof. Roland Sturm von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg interviewt.

Freundlich blickender Herr mit Brille und Sacko vor einem Bücherschrank

Professor Dr. Roland Sturm (geb. 1953) ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Promotion (1981) und Habilitation (1987) an der Universität Heidelberg nach einem Studium mit Auslandsaufenthalten in Sheffield (UK) und Stanford (USA). Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1989-1991.Von 1991-1996 hatte Roland Sturm eine Professur an der Universität Tübingen inne. Der Schwerpunkt seiner Publikationen liegt in den Bereichen europäische Integration, deutsche Innenpolitik (v.a. Föderalismus, Parteien und Wahlen), Vergleichende Politikwissenschaft (v.a. englischsprachige Länder), vergleichende Policy-Forschung (v.a. Haushaltspolitik, Industriepolitik und Austerity), sowie Politische Ökonomie. Roland Sturm war Gastprofessor in Seattle (University of Washington), Beijing (University of Peking) und Barcelona (Universitat Pompeu Fabra).

©Harald Zippel/FAU

HSS: Sehr geehrter Prof. Sturm, wie unterscheidet sich die britische Rechtsprechung von unserer?

Prof. Dr. Roland Sturm: Im englischen Justizsystem entscheidet man nach Fallrecht und nicht, wie im römischen Recht, nach Dogmatik. Das ist ein ganz anderes Rechtssystem, das ja beispielsweise auch in den USA gilt. Nicht jedoch in Schottland. Dort gilt auch das „römische Recht“, das auch die Grundlage und Wurzel unserer deutschen Rechtsprechung ist. Im englischen Fallrecht beruft man sich nicht auf Zusammenhänge, Dogmatik, Erklärungen, sondern auf Einzelfälle. Deswegen konnte ja auch der Speaker John Bercow einen Fall aus dem 17. Jahrhundert raussuchen, in dem festgestellt wurde, dass man nicht dreimal über das selbe Gesetz abstimmen kann, wenn sich nicht etwas Substantielles daran verändert hat. Damit hat er ja Frau May daran gehindert, ihr Abkommen nochmal ins Parlament einzubringen. Das ist im deutschen Recht nicht möglich.

HSS: Unser Rechtssystem beruft sich auf die Rechtstradition im alten Rom. Wie kam das britische Modell zustande?

Ganz organisch. Es sind eben Gerichtsurteile, die sich angesammelt haben. Dabei spielen Konventionen und Normen eine große Rolle. So wie man es immer schon gemacht hat. Diese Konventionen können sich aber natürlich auch wieder ändern. Wenn etwas zwei- oder dreimal gemacht wird, ist das schon wieder eine neue Konvention. Das basiert stark auf dem sogenannten „common sense“, darauf, was den Meisten zu diesem Zeitpunkt als vernünftig erscheint oder das, worauf man sich im Parlament einigen kann. Das ist in Großbritannien stark geprägt vom Rechtsverständnis der Eliten, die etwa in Cambridge ausgebildet wurden. Da findet sich nicht notwendigerweise jeder wieder. 

HSS: Und woran orientiert man sich, wenn es Uneinigkeiten über die Interpretation dieser Konventionen gibt? Dann schaltet man die Gerichte ein und…

… Das ist nicht so einfach. Man hat das jetzt gerade in Schottland versucht, wo der „Court of Session“ geurteilt hat, dass die Vertagung des Parlaments, die Boris Johnson durchgesetzt hat, nicht rechtens sei. Das geht jetzt zum Supreme Court in London, das aber kein oberstes Gericht, sondern eigentlich nur ein Administrations- und Appelationsgericht für zivile Strafsachen ist und auch Verfassungsfragen interpretiert. Das ist schon jetzt eine Abweichung von der Norm, denn normalerweise hat das Parlament das Sagen und fertig. Die jetzige Regierung beachtet die Konventionen einfach nicht und, obwohl sie ja angetreten ist, um das Parlament vor Europa zu schützen, haut sie es jetzt einfach in die Pfanne. Das Parlament wehrt sich natürlich, so gut es eben kann, aber im Grunde genommen sollte es immer die Frage sein: was beschließt das Parlament? Das sollte das Letztentscheidende sein. Eigentlich.

HSS: Wie steht es um die Gewaltenteilung in Großbritannien?

So weit her ist es nicht mit der Gewaltenteilung in Großbritannien. Bis zur Regierung von Tony Blair  war der „Lord Chancellor“ [Justizminister] der Chef aller Richter und hat diese ernannt. Also vereinte er in seiner Person die Judikative, war gleichzeitig Teil der Exekutive und durch seinen Vorsitz im Oberhaus auch der Legislative. Das hat man jetzt getrennt. Den Vorsitz im Oberhaus hat nicht mehr der Justizminister. Es gibt jetzt auch ein „Appointment Commity“, das ihn bei der Ernennung von Richtern „unterstützt“ und das durchaus ein bisschen Autonomie hat. Aber es wird auch diskutiert, ob diese Änderung sinnvoll war. Im Grunde genommen gibt es keine starke Gewaltenteilung. Das Parlament wird in normalen Zeiten, die wir gerade nicht haben, von der Regierungsmehrheit beherrscht. Die Exekutive kann das Parlament mit seiner Mehrheit dominieren. Sonst funktioniert das ja auch nicht. Die Gewaltenteilung ist also sehr gering. Auch horizontal, denn für die Regionalparlamente gibt es kein Äquivalent zu etwa unserem Bundesrat. Wir haben früher immer nach Großbritannien geschaut und gesagt: „Toll, wie man da durchregieren kann.“ Das geht bei uns so nicht. Da gibt es das Bundesverfassungsgericht, das Schwierigkeiten machen kann, den Bundesrat, die Verwaltungsgerichte. Das alles gibt es dort nicht und man kann prima durchregieren. Aber natürlich braucht man eine Mehrheit im Parlament, sonst hat man Probleme.

HSS: Und die hat ja Johnson jetzt verloren…

Beziehungsweise sich selbst weggeschossen. Er hat ja Mitglieder seiner eigenen Partei rausgeschmissen. Vorher hätte es ja gerade so noch gereicht.

HSS: Wenn das Parlament der Exekutive ganz konkrete Handlungsanweisungen gibt, wie es jetzt mit dem Gesetz geschehen ist, das Johnson zwingen soll, einen dreimonatigen Aufschub zu beantragen, sollte bis zum 31. Oktober kein Deal stehen, geht das nicht möglicherweise zu weit? Ist es vielleicht anfechtbar? Gibt es Beispiele, dass das schon einmal so geschehen ist?

Also Handlungsanweisungen gibt das Parlament nicht. Es macht das, was jedes Parlament tut. Es erlässt Gesetze. Es gibt zwei Grundsätze der britischen Verfassung. Der eine ist die Souveränität des Parlaments. Es ist befugt, jedes Gesetz zu machen, das es möchte und auch, Gesetze aufzuheben. Der zweite Grundsatz ist: an die Gesetze müssen sich alle halten. Alle. Es gibt den berühmten Satz eines Verfassungstheoretikers, der sagt: Die Queen müsste sogar ihr eigenes Todesurteil unterschreiben, wenn das Parlament das beschließen würde. Wenn Johnson jetzt das Gesetz nicht beachtet, dann kommen natürlich die normalen Regeln der Strafbarkeit zum Tragen. Dann könnte er im Gefängnis laden. Er kann nicht sagen: „Gesetze gehen mich nichts an.“

HSS: Wäre es möglich, dass Johnson das Gesetz ignoriert und ein Gericht ihm dann im Nachhinein Recht gibt?

Das glaube ich nicht. Das Parlament kann jedes Gesetz beschließen, das es will. Auch gegen die Regierung. Das ist im Prinzip auch bei uns möglich, wir machen es nur nicht, weil wir immer Regierungen haben, die das Parlament dominieren. Da kommt ja keiner drauf. Das deutsche Parlament ist ja doch sehr zahm und steht in der Regel nicht gegen die Regierung auf, über die Parteigrenzen hinweg. Bei so einem Aufruhr würde bei uns erstmal die Regierung das Regierungsmandat zurückgeben, wenn sie keine Mehrheit mehr hat. Johnson versucht jetzt ohne Mehrheit, so zu tun, als hätte er eine. Der Trick war jetzt erstmal das Parlament in die Ferien zu schicken. Aber das ändert ja nichts an den Mehrheitsverhältnissen. Deswegen hat das Parlament jetzt ja auch dieses Gesetz beschlossen, nach dem Johnson um einen Aufschub bitten muss.

HSS: Wie bewerten Sie das jüngste Gerichtsurteil des Court of Session in Edinburgh?

Es muss ja noch vom Supreme Court überprüft werden und grundsätzlich geht es dabei um die Frage, ob in der Frage der Aussetzung des Parlaments die Politik entscheidet oder die Justiz. Gibt es da ein Fehlverhalten der Regierung? Der Court of Sessions stellte hier ein Fehlverhalten fest, weil die Begründung für die Parlamentspause unplausibel sei. Dabei können Sie eigentlich nur über Verfahrensfragen urteilen und nicht darüber, ob etwas politisch sinnvoll ist oder nicht. Dazu kommt noch, dass es im Endeffekt ja immer noch „her majesties governement“ ist, also die Königin formal entscheidet, also unterschreibt. Jetzt muss sich Johnson ja gegen den Vorwurf verteidigen, er habe die Königin mit seiner Begründung für die Parlamentspause belogen, da diese nicht stichhaltig zu sein scheint. Das lässt sich ja aus dem schottischen Urteil ableiten und wenn sich das bewahrheiten sollte, hätte er ein riesiges Problem.

HSS: In Großbritannien beobachten wir gerade eine Krise zwischen den Institutionen, die den Staat tragen. Wie wird das ausgehen?

Das ist die 1000$-Frage. Wir sind Zeugen einer Verfassungskrise. Die Grundsätze „rule of law“ und die Position des Parlaments im Zentrum der Gesetzgebung sollten eigentlich außer Frage stehen. Es kann jetzt nicht sein, dass sich der Premierminister durchsetzt. Es gibt nur zwei politische Möglichkeiten: ein neues Referendum oder Neuwahlen. Es ist kaum möglich vorherzusagen, wie es jetzt weitergeht. Johnson ist ja als Person völlig schillernd, ein bisschen wie Trump, der Regeln bricht oder verbiegt. Er ist ein bekannter Lügner, das soll keine Beleidigung sein aber so ist es eben. Er hat kein Problem gegensätzliche Positionen zu vertreten. Die Situation hat sich ja gerade noch einmal verändert. Bisher hat Johnson ja immer auf die DUP in Nordirland schauen müssen, die ihm seine Mehrheit garantiert hat. Aber nachdem er so viele seiner eigenen Parteikollegen rausgeschmissen hat, liegt seine Mehrheit jetzt unter minus 20. Da nützen ihm die zehn Stimmen aus Nordirland auch nichts mehr. Das heißt aber auch: er ist nicht mehr so erpressbar. Vielleicht kann er jetzt eine Lösung finden, die zwar den Nordiren nicht gefällt aber eine Lösung ist. Man kann es nicht sagen. 

HSS: Ihm bleibt jetzt eigentlich nur noch übrig, sich in Neuwahlen zu retten.

Ja, hm. Das scheint ja eine Motivation für seinen harten Kurs zu sein. Er will die Brexit Partei von Nigel Farrage verdrängen, die ihn des Verrats am Brexit bezichtigt. Die Tories haben viele Wähler an Farrage verloren. Johnson tritt nun so auf, als vertrete er allein das Volk und zwar gegen das Parlament. Das sollte man in einer Demokratie halt besser nicht machen, das Volk gegen das Parlament auszuspielen. Besonders in einer repräsentativen Demokratie wie in Großbritannien, wo Referenden eigentlich gar nicht vorgesehen sind. Die sind ja nicht die Schweiz. Referenden wurden traditionell nur äußerst selten abgehalten und wenn das Ergebnis schon feststand. Eines der ersten war das EU-Referendum in den 70er-Jahren. Unter Blair hat es dann weitere gegeben auch für Kleinigkeiten. Aber eigentlich ist das keine normale Vorgehensweise, denn in Großbritannien ist nur das Parlament souverän. Das Volk ist nicht souverän im eigentlichen Sinne. Das ist ja der Wiederspruch. Man tut so, als ob das Volk souverän wäre, und das glaubt es natürlich auch, aber ein Bürger ist in Großbritannien ja kein „citizen“, sondern „subject to the queen“, also Untertan. Bis heute. Das würde so zwar keiner sagen aber es ist eben so. Es gab dort keine französische Revolution, in der sich die Bürger eine Verfassung erkämpft hätten. Es gab immer nur das Parlament, denn das hat sich im 17. Jahrhundert eine eigene Rechtsstellung erkämpft, hat den Monarchen eingesetzt und ihm Rechte abgetrotzt. Das ist heute noch die Situation. Es können auch jederzeit neue Rechte ins Parlament wandern, das müssen sie aber nicht. Zum Beispiel die Frage nach Krieg und Frieden. Das haben früher die Premierminister alleine entschieden. Inzwischen und unter dem Eindruck etwa des letzten Irakkrieges hat es sich so entwickelt, dass das Parlament mitsprechen darf. Aber das ist eben nur eine Entwicklung über die Zeit. Boris Johnson übt qua Amt nur die Rechte der Königin aus. Die hat sie immer noch.

HSS: Also könnte jemand wie Boris Johnson prinzipiell durch Konventionsbruch neues Recht schaffen?

Änderungen von Konventionen gibt es durchaus aber die gehen dann vom Parlament aus oder finden innerhalb von Parteien statt. Wenn Sie das gegen das Parlament machen, also, mit Traditionen brechen, dann bekommen sie Probleme. Die Souveränität der Institution „Parlament“ ist Kern des britischen Systems. Der Premierminister ist nicht unabhängig. Er ist zum Beispiel nicht vergleichbar mit dem amerikanischen Präsidenten, der ja direkt vom Volk gewählt wird. Aber, wenn man es sich rein verfassungstheoretisch betrachtet ist der britische Premier sogar mächtiger als der amerikanische Präsident, der ja einen starken Kongress als Gegenspieler hat [checks and balances], und den Senat für Ernennungen uns so weiter braucht. Er kann ja noch nicht einmal Gesetze einbringen. Da ist der britische Premierminister in einer machtvolleren Position.
In Großbritannien kann man in normalen Zeiten sehr gut durchregieren. Voraussetzung ist aber, dass man eine Mehrheit im Parlament hat. Wenn man die nicht hat, wie Johnson jetzt, dann geht das halt nicht. 

HSS: Sehr geehrter Prof. Sturm, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Onlineredaktion/Internet
Maximilian Witte
Redakteur
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