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Interview mit Dr. Philipp Hildmann
9. November 1938 – Konsequenzen für jüdisches Leben in Deutschland heute

Der 9. November ist in Deutschland ein äußerst geschichtsträchtiger Tag, wenn man in die Annalen blickt. Im Jahr 1938 hat sich die Reichspogromnacht ereignet. Im Jubiläumsjahr 1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland wollen wir dieses Ereignis aufgreifen und stellen Fragen an den Leiter unseres Kompetenzzentrums Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Interkultureller Dialog, Dr. Philipp W. Hildmann. Ein Schwerpunkt des Kompetenzzentrums liegt auch in der Bekämpfung des Antisemitismus.

Im November 1938 wurde die Ohel-Jakob-Synagoge in München zerstört.

Im November 1938 wurde die Ohel-Jakob-Synagoge in München zerstört.

HSS: Was war die Vorgeschichte zur Pogromnacht und was passierte am 9. November 1938 in Deutschland?

Josef Goebbels, Hitlers demagogischer Propagandaminister, hatte ein zwei Tage zuvor verübtes Attentat auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris durch einen jungen polnischen Juden zum Anlass genommen, in einer Hetzrede vor der alljährlichen Zusammenkunft der NSDAP-Führerschaft zu konzertierten Übergriffen auf Jüdinnen und Juden aufzurufen. Die Partei könne zwar nicht selbst antijüdische Aktionen organisieren, verkündete er perfide, sie werde solche allerdings auch nicht behindern.

Noch in der gleichen Nacht setzten SA- und NSDAP-Mitglieder deutschlandweit systematisch Synagogen in Brand, zerstörten über 7 000 Geschäfte jüdischer Einzelhändler und verwüsteten zahllose Wohnungen. Ein enthemmter Mob plünderte ungeniert und nahezu vollständig ungehindert. Gaffer jubelten, feuerten an und johlten. Andere nahmen zumindest gleichgültig hin, dass Menschenwürde und Menschenrechte im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten wurden. Man geht heute von weit mehr als 1 300 Menschen aus, die während und unmittelbar in Folge der Ausschreitungen ihr Leben ließen.

Diese Nacht markiert einen Wendepunkt in der „Judenpolitik“ des NS-Regimes. Spätestens jetzt konnte jede und jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Jüdinnen und Juden wurden von diesem Zeitpunkt an in nie dagewesenem Ausmaß verfolgt, diskriminiert, verschleppt und getötet.  Die Reichspogromnacht war das offizielle Startsignal zum größten Völkermord in Europa im so singulären wie bestialischen Zivilisationsbruch der Shoah.

HSS: Dieses furchtbare Ereignis in der deutschen Geschichte liegt über acht Jahrzehnte zurück. Jüdisches Leben in Deutschland findet heute statt, ist aber erneut von Antisemitismus begleitet. Wie gehen der Staat und die jüdischen Organisationen in Deutschland damit um?

Der Befund ist so richtig wie bestürzend: Mitten auf Straßen und Plätzen, vor Rathäusern und Synagogen wird Juden der Tod gewünscht. Nicht in der Reichspogromnacht von 1938, sondern 2021 in der Bundesrepublik Deutschland. Was für ein Skandal! In einem Jahr, in dem wir eigentlich dankbar daran erinnern, dass Jüdinnen und Juden nachweislich seit 1.700 Jahren ein untrennbarer und prägender Teil unseres Landes sind. Schon länger machen sowohl jüdische wie staatliche Vertreter deutlich, dass man dies weder verschweigen noch dulden darf, wenn man sich als Gesellschaft nicht wie am 9. November 1938 durch Tun oder Unterlassen mitschuldig machen will.

Dank der engagierten Arbeit etwa der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus RIAS, des bayerischen Antisemitismusbeauftragten Dr. Ludwig Spaenle oder der Sicherheitsbehörden im Freistaat wird inzwischen immerhin sehr transparent gemacht, was die jüdischen Gemeinden hierzulande immer mehr beeinträchtigt: Ein zunehmend wahrnehmbarer Antisemitismus, der durch die Corona-Pandemie und von Verschwörungstheorien nochmals befeuert wird. Dabei hat sich dieser Antisemitismus von den Rändern her bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft hinein ebenfalls zu einer „Pandemie“ entwickelt und gefährdet die Freiheit und Demokratie in unserem Land, richtet er sich im Kern doch nicht nur gegen Jüdinnen und Juden allein, sondern gegen die offene Gesellschaft insgesamt. In all diesen Entwicklungen ist staatliches Handeln ebenso gefordert wie zivilgesellschaftliches.

Staatliches wie gesellschaftliches Handeln sind gefordert, um gegen Antisemitismus und Rassismus vorzugehen.

Staatliches wie gesellschaftliches Handeln sind gefordert, um gegen Antisemitismus und Rassismus vorzugehen.

Sergio Yoneda; HSS; istock

HSS: Welche Schlüsse kann man aus den Ereignissen der Pogromnacht für die Zukunft ziehen? Was kann der Einzelne dazu beitragen, damit dem Antisemitismus in Deutschland weiter Einhalt geboten wird?

Damals wie heute gilt die Mahnung des römischen Dichters Ovid: Wehret den Anfängen! Wer schweigt und nicht klar Position bezieht handelt 2021 keinen Deut besser als der entfesselte Mob und die nationalsozialistischen Schergen in der Nacht vom 9. November 1938. Antisemitisches Denken, Reden und Handeln dürfen wir alle gemeinsam weder im Netz noch im Alltag, weder digital noch analog dulden. Das gilt umso mehr, wenn wir im aktuellen Jubiläumsjahr den Blick nach vorne richten und fragen: Wie können wir sicherstellen, dass jüdisches Leben in Deutschland auch weiterhin unter uns eine Zukunft hat?

Leider wird immer deutlicher spürbar, wie wenig Berührungspunkte in unserer Gesellschaft mit jüdischem Leben heute tatsächlich bestehen, wie wenig die meisten von uns überhaupt über dieses jüdische Leben mitten unter uns wissen. Angesichts jüngster Angriffe auf jüdische Jugendliche in Köln oder Berlin, angesichts antisemitischer Chatgruppen und zahlloser Beispiele von judenfeindlicher Hate-Speech in Klassenräumen sollte uns klar sein, dass vor allem jungen Menschen in unseren Schulen, Bildungsstätten oder anderen öffentlichen Einrichtungen mehr über jüdisches Leben vermittelt werden muss.

Wir brauchen auch gegen den Antisemitismus, gegen diese geistige Pandemie einen „Impfstoff“, der gegen jede Form von Antisemitismus, Extremismus und Rassismus wirkt – und durch Bildung, Aufklärung und Toleranz wieder den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt.

Wir alle sind aufgerufen, einen Beitrag zu leisten, damit aus Unwissenheit und Gerüchten nicht wieder – wie in der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 – Hass und Gewalt werden und sich gegen Jüdinnen und Juden unter uns richten.

HSS: Vielen Dank für das Interview!