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Verfassungsgebende Versammlung, Kommunal- und Regionalwahlen
Nach Mega-Wahl in Chile

Mitte Mai fanden die „Mega-Wahlen“ in Chile statt. Die Bürger haben 155 Delegierte gewählt, die in den kommenden Monaten eine neue Verfassung erarbeiten werden. Außerdem wurden die Gouverneure der 16 Regionen und die Kommunalregierungen gewählt. Die Niederlage der traditionellen Parteien, die Stärkung der extremen linken Kräfte sowie die Wahl einer großen Anzahl von unabhängigen Kandidaten kennzeichneten die Wahlen.

  • Ergebnisse der Regional- und Kommunalwahl
  • Wahl von 155 Delegierten zur Erarbeitung einer neuen Verfassung
  • Niederlage traditioneller Parteien
  • Stärkung der extremen linken Kräfte
  • Wahl einer großen Anzahl von unabhängigen Kandidaten
  • Parität und reservierte Sitze für Vertreter indigener Völker

Nach einer Verschiebung von vier Wochen aufgrund der hohen Inzidenzzahlen an Corona-Erkrankungen Anfang April, fand am 15. und 16. Mai 2021 die Wahl der 155 Delegierten statt, die einen neuen Verfassungstext vorbereiten werden. Die gewählten Delegierten werden ihre Arbeit im Juni aufnehmen und müssen ihren Auftrag in neun Monaten mit der Möglichkeit einer Verlängerung um drei Monate abschließen. Anschließend wird der Textentwurf einem Referendum – voraussichtlich im August 2022 – unterzogen, damit die Bürger dem von der konstituierenden Sitzung vorgeschlagenen Text zustimmen oder ihn ablehnen können.

Der Wahlkampf wurde im Rahmen weitreichender Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und des Versammlungsrechts durchgeführt. Chile ist mit rund 1.300.000 Infizierten und 35.000 Todesfällen stark von der Pandemie betroffen. Es war eine Kampagne, die hauptsächlich in den Sozialen Medien stattfand.

Zur Information:
Hintergrund der neuen Verfassung

Nach dem „18-O“– Symbol für den Beginn der sozialen Unruhen am 18. Oktober 2019 – fanden im ganzen Land massive Demonstrationen statt, die soziale, wirtschaftliche und politische Reformen forderten. Die Forderungen waren legitim, sie wurden landesweit von einer beispiellosen Gewaltwelle begleitet. Diese Situation führte zu einem Akt demokratischer und institutioneller Verantwortung seitens der Mehrheit des politischen Spektrums. Im November 2019 wurde das "Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung" unterzeichnet, ein Dokument, in dem die beteiligten politischen Kräfte ihr Engagement für die Wiederherstellung des Friedens und die Achtung der Menschenrechte sowie der demokratischen Institutionen zum Ausdruck brachten. Gleichzeitig versprachen sie, im April 2020 ein Referendum durchzuführen, um die Öffentlichkeit über die Erarbeitung einer neuen Verfassung entscheiden zu lassen. Nach Ausbruch der Pandemie musste das Referendum auf Oktober 2020 verschoben werden.

Im Referendum stimmten 78,27 Prozent der Bürger für eine neue Verfassung. Des Weiteren entschieden sich die Wähler mit 78,99 Prozent der Stimmen mehrheitlich für die "Convención Constituyente", d.h. eine Verfassungsgebende Versammlung, die sich ausschließlich aus von den Bürgern gewählten Mitgliedern zusammensetzen sollte.

Geringe Wahlbeteiligung und überraschende Ergebnisse

Mit einer Wahlbeteiligung von 43,35 Prozent (6.458.760 von insgesamt 14.900.190 Wahlberechtigten) wurden die Befürchtungen bestätigt, dass die schwierigen Umstände während der Pandemie zu einer geringen Wahlbeteiligung führen würden. Der Versuch, mit der Durchführung der Wahl an zwei Tagen mehr Bürger zum Gang an die Urne zu bewegen, darf als gescheitert angesehen werden.

Die großen Überraschungen bei den Wahlen waren die Niederlage der traditionellen Parteien der Mitte-rechts- und der Mitte-links-Kräfte, die Stärkung der extremen Linken, die von der Kommunistischen Partei und der „Frente Amplio“ vertreten wird sowie die Wahl einer großen Anzahl von Unabhängigen, die keiner politischen Partei angehören.

Die Ergebnisse der Wahlen überraschten. Die traditionellen Parteien haben verloren, die extremen linken Kräfte sind gestärkt und eine große Anzahl von unabhängigen Kandidaten wurde gewählt.

Die Ergebnisse der Wahlen überraschten. Die traditionellen Parteien haben verloren, die extremen linken Kräfte sind gestärkt und eine große Anzahl von unabhängigen Kandidaten wurde gewählt.

Mit Genehmigung der deutschsprachigen Auslandszeitung Cóndor (Chile)

Traditionelle Parteien wurden bestraft

Die politischen Parteien der Mitte-rechts- und Mitte-links-Achse, die in den vergangenen 30 Jahren die stärksten politischen Kräfte darstellten, sind die Besiegten. Das Entwicklungsmodell des Landes war Gegenstand scharfer Kritik und hatte im vergangenen Jahrzehnt wichtige soziale Bewegungen hervorgerufen.

Die Fahrpreiserhöhung im Oktober 2019, angeblich der Auslöser für den Ausbruch vom „18-O“, betrug 30 Pesos (umgerechnet 3 Cent). Von den Demonstranten wurde der Ausdruck geprägt "es sind nicht 30 Pesos, sondern 30 Jahre". Er bezeichnet das Unbehagen der Bevölkerung über ein System, das es zwar geschafft hat, Chile an die Schwelle einer Weiterentwicklung zu bringen, dem es aber weder gelungen ist, die wirtschaftliche Ungleichheit erheblich zu verringern, noch die soziale Inklusion erfolgreich zu fördern. Nun wurden die Parteien, die für diese Zeit die Verantwortung tragen, zur Rechenschaft gezogen. Die Mehrheit der Chilenen hat sich dagegen entschieden, dass diese politischen Kräfte den sozialen Pakt für die kommenden Jahrzehnte maßgebend mitgestalten.

Die Koalition der Mitte-links-Parteien, die zwischen 1990 und 2010 regierte (Partido Demócrata Cristiano, Partido Socialista, Partido Radical und Partido por la Democracia), erhielt magere 14,47 Prozent der Stimmen und schaffte es, 25 von insgesamt 155 Delegierten zu stellen.

Innerhalb dieses Parteienbündnisses gelten die Christdemokraten als Verlierer. Es wurden nur zwei Delegierte von insgesamt 50 Kandidaten, die von der Partei zur Wahl gestellt wurden, gewählt. Hingegen stellen ihre sozialistischen und sozialdemokratischen Partner nunmehr 22 Delegierte (PS 15; PPD 3; Radikale 1; PRO 1). Die Partido Liberal erhielt drei Sitze.

Obwohl die Koalition der Regierungsparteien (Renovación Nacional, Unión Demócrata Independiente und Evolución Política) sowie die Partei Republicanos das Konglomerat war, das den höchsten Prozentsatz an Stimmen erhielt, reichte dies nicht aus, um ein Drittel der Sitze zu erhalten. Mit 21,1 Prozent der Stimmen gelang es ihnen, 37 Delegierte für die Verfassungsgebende Versammlung zu stellen (UDI 17, RN 15, Evopoli 5). Angesichts der Tatsache, dass die Beschlüsse der Konvention mit zwei Dritteln angenommen werden, wird es den Mitte-rechts-Kräften nicht möglich sein, eine Verhandlungsmacht bzw. ein Vetorecht in Bezug auf den Inhalt der neuen Verfassung auszuüben.

Große Präsenz unabhängiger Kandidaten

Die Niederlage des "Establishments" spiegelt sich auch in der enormen Repräsentation wider, die die unabhängigen Kandidaten mit 48 Sitzen erreichten. Dieses Phänomen, das keine Umfrage vorhersehen konnte, zeigt deutlich das Interesse der Bürger an neuen Führungspersonen. Es ist zweifellos die große Überraschung dieser Wahlen. Diese Entwicklung wird den Verlauf der Politik in Zukunft weniger vorhersehbar machen, denn die Unabhängigen sind eine sehr heterogene Gruppe und niemand weiß, wie sie sich verhalten werden.

Die 48 unabhängigen Delegierten sind in drei unterschiedliche Gruppen einzuordnen.

Eine Gruppe ist die Liste der „Independientes No Neutrales“, die elf Sitze erreicht hat. Hierbei handelt es sich um eine Initiative von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die politisch übergreifend agieren und die diese Bewegung ins Leben gerufen haben, um eine Verfassungsänderung zu fördern und zur öffentlichen Debatte beizutragen.

Dann gibt es die Gruppe "Lista del Pueblo" mit 27 Delegierten. Sie vertreten eine Reihe sozialer Bewegungen, die sich weigern, sich einer Partei anzuschließen. Viele von ihnen stehen im Zusammenhang mit den Protesten des "18-O" und repräsentieren etwas radikalere Positionen.

Die dritte Gruppierung stellen die Unabhängigen, die keiner Liste angehören. Es wurden 10 Kandidaten von ihnen gewählt.

Die Aufnahme einer großen Anzahl unabhängiger Kandidaten in die Versammlung wird deren Legitimität stärken. Viele kritisierten, dass das Wahllistensystem (D´Hondt) Unabhängige benachteiligen würde. Diese wahltheoretisch korrekte Kritik wurde durch den klaren Willen der Bürger, Unabhängige zu unterstützen, nicht bestätigt.

Stärkung der extrem linken Kräfte

Nicht einmal die ehrgeizigsten Prognosen sahen die Ergebnisse vorher, die sie am Wahlabend erzielten und die sie als wichtigste Oppositionskraft etablierten. Die Koalition "Apruebo Dignidad“ der „Frente Amplio“ und der Kommunistischen Partei gelang es, 28 Delegierte für die Konvention zu stellen. Sie erzielten auch wichtige Siege bei den regionalen Gouverneurwahlen und eroberten bei den Kommunalwahlen bedeutende Städte. Die Parteiführungen des Paktes verkündeten in der Nacht des Sonntags die gleiche Botschaft: "Apruebo Dignidad" wird als Regierungskoalition gegen die „Rückwärtsbewegung“ der traditionellen Parteien der Mitte-links konsolidiert.

Am 15. Und 16. Mai fanden in Chile mehrere Wahlen statt. Die Chilenen gaben ihre Stimme ab für die Verfassungsgebende Versammlung sowie für die Kommunal- und Regionalwahlen.

Am 15. Und 16. Mai fanden in Chile mehrere Wahlen statt. Die Chilenen gaben ihre Stimme ab für die Verfassungsgebende Versammlung sowie für die Kommunal- und Regionalwahlen.

Mit Genehmigung der deutschsprachigen Auslandszeitung Cóndor (Chile)

Parität und reservierte Sitze für Vertreter indigener Völker

Die Wahl der Delegierten der Verfassungsgebenden Versammlung hatte zwei Besonderheiten, die zum ersten Mal bei chilenischen Wahlen angewendet wurden: Erstens wurde eine Parität der Ergebnisse eingeführt. Männer und Frauen sollten nicht nur die gleiche Anzahl von Kandidaten präsentieren, sondern die Ergebnisse würden dann so korrigiert, dass die Versammlung ausgewogen ist: 78 zu 77 als maximale Differenz. In siebzehn Fällen musste eine Korrektur durchgeführt werden. Da bei der Abstimmung mehr Frauen als Männer gewählt wurden, kam diese Korrektur zwölf Männern und nur fünf Frauen zugute.

Ein weiteres Merkmal dieser Wahl waren Sitze, die Vertretern der Ureinwohner vorbehalten waren. Insgesamt wurden 17 Sitze den ethnischen Gruppen Mapuche (sieben), Aymara (zwei) und Quechua, Rapa Nui, Diaguitas, Colla, Atacameños, Kawashkar, Chango und Yagán (jeweils einer) zugewiesen. Etwas mehr als 1,2 Millionen Menschen, die im Wählerverzeichnis der indigenen Völker aufgeführt sind, konnten bei der Abstimmung wählen. Es oblag ihnen, ob sie dies im Wahlverzeichnis ihrer ethnischen Gruppe oder ihres jeweiligen Wahlbezirks tun wollten, jedoch nicht in beiden.

Nur 22,8 Prozent des indigenen Registers stimmten für die Wahl der 17 reservierten Sitze. Mit anderen Worten, 274.000 Menschen wählten 11 Prozent der Versammlung, was zu einer absoluten Überrepräsentation dieser Gruppen führt.

Regionalwahlen

Die Wahl der 16 Regionalgouverneure hatte einen besonderen Charakter: Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wurden die Regionalgouverneure demokratisch gewählt. Um gewählt zu werden, musste ein Kandidat mindestens 40 Prozent der Stimmen erreichen. Nur in drei Regionen hat ein Kandidat die 40-Prozent-Hürde erreicht: Valparaíso, Coyhaique und Magallanes.

Eine Stichwahl zwischen den zwei bestplatzierten Anwärtern wird am 13. Juni in den verbleibenden 13 Regionen stattfinden. Die Prognosen gehen davon aus, dass die Parteien der Regierungskoalition in keiner Region den Gouverneur stellen werden.

Kommunalwahl

Des Weiteren wurden die Bürgermeister und Gemeinderäte der 345 Kommunen des Landes gewählt.

Die Überraschungen der Kommunalwahl lagen auf Seiten des „Frente Amplio“ und der Kommunistischen Partei. Dem „Frente Amplio“ gelang die Wiederwahl des Bürgermeisters von Valparaíso sowie Wahlsiege in weiteren wichtigen Städten im ganzen Land: Im Großraum Santiago gewann die Partei in den bevölkerungsreichen Gemeinden Estación Central, Independencia, Maipú, Ñuñoa sowie San Miguel und in den Provinzen Viña del Mar und Valdivia. Insgesamt wuchs die Anzahl der von „Frente Amplio“ regierten Gemeinden landesweit von eins auf elf.

Darüber hinaus hatte die Wahl des Bürgermeisters von Santiago große Symbolik: Zum ersten Mal in der Geschichte wird die Hauptstadt Chiles von einem Kommunisten regiert. Landesweit verdoppelte sich die Anzahl der von Kommunisten regierten Gemeinden von drei auf sechs.

In manchen Gemeinden hatten die Kommunalwahlen eine besondere Bedeutung, da eventuelle Präsidentschaftskandidaten zur Wiederwahl standen.

Der Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei, Daniel Jadue, konnte mit 64 Prozent der Stimmen in Recoleta wiedergewählt werden. Die Bürgermeisterin von Providencia, Evelyn Matthei (UDI), erreichte mit 54,8 Prozent ebenfalls eine Wiederwahl. Im Fall der Gemeinde Las Condes kandidierte der Präsidentschaftskandidat Joaquín Lavín (UDI) nicht für eine Wiederwahl, aber der Triumph desjenigen, den er als seinen Kandidaten gekürt hatte, war wichtig. Das Ziel wurde erreicht, aber mit einem nicht ganz ermutigenden Ergebnis von 39,7 Prozent.

Die Parteien der Regierungskoalition mussten auch in der Kommunalwahl herbe Verluste hinnehmen. Im Jahr 2016 konnten die Regierungsparteien das Oberhaupt von 145 Gemeinden stellen, die Zahl reduziert sich 2021 auf 88 Bürgermeister. In nur zwei der 16 Regionshauptstädte (Talca und Punta Arenas) konnten die Regierungsparteien den Bürgermeister stellen.

Ebenso reduzierte sich die Zahl der von den Regierungsparteien gestellten Gemeinderäte von 919 im Jahr 2016 auf 726 in der aktuellen Wahl.

Verantwortung für die bittere Niederlage

Obwohl alle vorausgesehen hatten, dass die geringe Popularität der Regierung von Präsident Sebastián Piñera einen direkten Einfluss auf die Ergebnisse der Wahlen am vergangenen Sonntag haben würde, war die Wut in der Koalition „Chile Vamos“ so groß, dass am Wahlabend kein Vertreter der Parteien in den Präsidentenpalast von La Moneda kam.

Nach den sozialen Protesten 2019 und der Kritik aufgrund der ungenügenden Sozialhilfe während der Pandemie erreichte Piñera ein historisches Missbilligungsniveau: Nur 9 Prozent der Chilenen befürworten seine Regierung.

Autor: Jorge Sandrock, Projektleiter der Hanns-Seidel-Stiftung in Santiago de Chile.

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