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Populisten-Dämmerung

Großbritannien hat sich für den Brexit entschieden – und das kam letztlich doch überraschend. Es scheint, dass die „Sieger“ gar nicht mit ihrem Erfolg gerechnet haben. Sie zeigen sich zögerlich, den „Scheidungsbrief“ abzugeben, was mit Blick auf die Bewegungen in der britischen Gesellschaft und den europäischen Märkten nachvollziehbar ist.

Es scheint, dass sie dem Zenit der Macht näher kommen. Ihre Ergebnisse überraschen alle. Immer wieder und nachhaltig – am meisten vermutlich sie selbst: Boris Johnson – Brexitgewinner, Donald Trump – Präsidentschaftskandidat, Geert Wilders und Marine Le Pen – Premium-Trittbrettfahrer der EU-Skepsis. Aber ihre Erfolge sind die Saat ihres Niedergangs. Bedauerlicherweise werden viele Menschen darunter leiden. 

Die Anhänger der Populisten, die ein besseres Leben durch einen Sprint zurück in die Glorie der Vergangenheit phantasierten, durften bereits einen Tag nach dem Referendum erkennen, dass die Zeitmaschine Sand im Getriebe hat. 

Sogar der rote Bus, der wochenlang mit der Kampagne- Aufschrift: „Statt jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU zu überweisen, soll das Geld dem britischen Gesundheitssystem zugutekommen“, steht auf der Bremse. Ukip-Chef Nigel Farage, neben Johnson prominentester Brexiter, hat wenige Stunden nach Bekanntgabe der Ergebnisse erklärt, er könne nicht garantieren, dass tatsächlich so viel Geld in das Gesundheitssystem fließen wird. Zum Zeitpunkt dieses Eingeständnisses am Freitag nach der Abstimmung haben Analysten errechnet, dass weltweit fünf Billionen Dollar an Börsenwert vernichtet worden waren – das Doppelte der Gesamtleistung der britischen Wirtschaft.

Das zentrale Argument, dass England die Hoheit über die Wanderbewegungen arbeitswilliger Europäer wieder erlangen wolle, ist noch während der Auszählung der letzten Wahlkreise in sich zusammengebrochen. Wenn Großbritannien weiterhin in irgendeiner Form mit dem Europäischen Markt in Kontakt bleiben will, muss es deren Regeln akzeptieren. Die Personenfreizügigkeit gehört eindeutig dazu! Norwegen, das gerne als Modell herhalten durfte, musste diese Freizügigkeit akzeptieren. Und zahlt darüber hinaus eine Art Eintrittsgeld, um sich an den Binnenmarkt andocken zu dürfen – ohne auch nur eine minimale Entscheidungskompetenz darüber zu haben, was mit den Geldern passiert. Das ist nun die nächste Zukunft Großbritanniens.

Fast drängt sich der Eindruck auf, dass die Brexiter von ihrem eigenen Erfolg überrollt wurden. Denn plötzlich hat es Boris Johnson gar nicht mehr eilig mit der Einlösung seiner Wahlkampf-Parole: Raus, so schnell wie möglich. Bei der Frage, ob bereits in der Woche nach dem Referendum der Artikel 50 wirksam werden wird, weil England seinen Austritt erklärt, tritt er kräftig auf die Bremse. 

Gleichzeitig drängen die EU-Vertreter auf einen schnellen „Scheidungsbrief“. Sie wollen einen Dominoeffekt vermeiden, und zwar über die zu erwartende Referendums-Ankündigung Geert Wilders hinaus. Das können sie am besten, wenn sie beweisen, dass der Brexit kurz- und mittelfristig allen schadet – am meisten den Briten selbst. Was übrigens 49 % der Briten selbst befürchten: Sie haben sich nicht ohne Grund gegen den Ausstieg entschieden. Die Mehrheit der EU-Befürworter sind übrigens junge Leute, die ihre Zukunft offenbar nicht auf den Meriten eines ehemaligen Empires sehen.

Als Johnson sich nach Bekanntgabe der Ergebnisse selbst feierte und meinte, dass Großbritannien die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt sei und nun zu noch mehr Größe aufsteigen werde, hat die Moody's Corporation bereits den Hebel angesetzt und Britannien um mindestens einen Platz nach hinten verrückt. Standard & Poor‘s halten das bisherige AAA-Rating für nicht mehr haltbar und das Pfund rutscht auf einen Stand aus den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts ab.

Die Abwertung des Pfunds wird zweifelsfrei auch positive Effekte haben. Die Nachfrage nach Weingummi kann steigen und auch die nach Schottischem Whiskey – also zumindest bis die Schotten ihr zweites Referendum durchgeführt haben. Aber die Frage bleibt, worauf ein Land sich stützen will, das sich mehr und mehr auf die Segnungen der Kapital- und Finanzmärkte verlassen, die Realwirtschaft stellenweise ausgeblendet hat und nun den Boden für diese Ströme teilweise verlässt. London wird nicht mehr der Finanzplatz sein, der er mal war. Ein Masterplan scheint nicht in Sicht, mit dem Glanz und Glorie des britischen Empires wieder auferstehen sollen.

Wie das Land in zehn Jahren dastehen wird – das lässt sich vom heutigen Standpunkt aus nicht eindeutig behaupten. Dass die wirtschaftlichen Rahmendaten in den Jahren nach dem Austritt nach unten zeigen werden, dass es zu Arbeitslosigkeit kommen wird, dass die Attraktivität Britanniens für andere europäische Staaten sinkt, weil die Bedingungen des Binnenmarkts so nicht mehr gelten – das ist deutlich. Die Brexiter haben es versäumt, die Menschen auf dieses Tief vorzubereiten. Sie haben das große Empire wieder beschworen, aber unterschätzt, dass sich ein wirtschaftlich geschwächtes Britannien sehr schwer tun wird, ohne die 27 Mitgliedsstaaten im Rücken in machtvolle Verhandlungen einzutreten. Sie haben auch unterschätzt, dass die Feindbild-Beschwörung nur dann Menschen mobilisiert, wenn der Feind noch da ist. Mit dem Austritt aus der EU werden die Maßstäbe an die Politik der Brexiter angelegt. Vorausgesetzt sie finden dann nicht schnell ein neues Feindbild. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Menschen sich abwenden werden.

Aber es macht keinen Spaß nachzurechnen, dass die Briten sich vermutlich verrechnet haben. Zumal wir wissen, dass die Auswirkungen uns alle treffen – vorzugsweise die deutsche, um nicht zu sagen die bayerische Wirtschaft. Im Moment gibt es keine Gewinner – ob sich das ändert, hängt nun vor allem auch von der politischen Gestaltungsmacht derer ab, die die Komplexität erkennen und nicht in das um sich greifende Lager der Vereinfacher wechseln. Denn die Kehrseite des Populismus ist die fehlende Führungsfähigkeit der Eliten. Dazu gehören vor allem Reflexionsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft. Denn der Brexit war nicht nur eine Wahl für ein neues Großbritannien, sondern eine Wahl gegen das Europa, wie die Menschen es heute kennen. 

Was ist der Mehrwert Europas? Wenn es die amtierenden Entscheidungsträger nicht glaubhaft verstehen, solche Visionen und Bilder zu skizzieren, wenn sie die Entfremdung von diesem Gebilde nicht mit massiven politischen Aktionen eindämmen, dann ist nicht Großbritannien das entscheidende Vorbild für einen möglichen weiteren Austritt, sondern es sind die EU-Politiker selbst.

Gut, die insulare Sicht der Welt war schon immer eine andere als die kontinentaleuropäische, eine eigenartige Liebe hat die beiden verbunden. Aber nun ist die Scheidung da und wir werden sehen, ob und wieweit die Partner nun allein besser klarkommen. Wie tief der Populismus nun schon in Europa diffundiert ist, wird sich am Format der Verhandlungspartner zeigen. Bei solchen Trennungen kommt es ja nicht selten vor, dass ein Partner in den völligen Verdrängungsmodus schaltet und das Gegenüber tabuisiert. Alles war dann auf einmal schlecht beim anderen, nur um nicht den eigenen Teil der Verantwortung nicht annehmen zu müssen. Solche primitiven Abwehrmechanismen verdrängen die Realität. Sowohl die Insel als auch der Kontinent haben in diesen Jahren voneinander profitiert. Eine Trennung mit Stil und Anstand ist die beste Möglichkeit, das Beste aus dem zu machen, was jetzt nun mal Fakt ist – und die Türen für eine neue Form der Beziehung offenzuhalten.