Am Ausgang der Bundestagswahl konnte niemand zweifeln: Dass Angela Merkel als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wiedergewählt werden würde und dass CDU und CSU wieder klar die stärkste Fraktion stellen können, war angesichts der demoskopischen Lage seit Monaten zu erwarten. Der Abstand zur SPD blieb groß und konnte vom Herausforderer nach dem kurzfristigen "Schulz-Effekt" nach seiner Nominierung Anfang des Jahres nicht wieder verringert werden. Die Landtagswahlen im Frühjahr 2017 brachten in drei Bundesländern gute Ergebnisse für die CDU und enttäuschende Resultate für die SPD; in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen verlor sie sogar das Amt des Ministerpräsidenten. Wenige Wochen vor der Bundestagswahl brach auch noch das rot-grüne Regierungsbündnis in Niedersachsen auseinander; bei der vorgezogenen Landtagswahl am 15. Oktober 2017 gilt bislang ebenfalls ein Regierungsverlust für die SPD als wahrscheinlich.
Auch die weiteren Ergebnisse waren im Grundsatz absehbar: Den Grünen wurde ebenfalls ein eher schwaches Ergebnis vorher gesagt, für die Linke wurde ein vergleichbares Resultat erwartet und die FDP konnte klar mit einem Wiedereinzug in den Bundestag rechnen. Auch für die AfD wurde ein Überschreiten der 5%-Hürde erwartet - unklar war, wie hoch sie tatsächlich abschneiden würde. Allerdings gab es auch Unwägbarkeiten: Laut dem Institut für Demoskopie Allensbach glaubten vier Wochen vor der Wahl zwar 45% der Bevölkerung, diese sei bereits entschieden, aber 46% der Bürgerinnen und Bürger waren noch unsicher, wem sie ihre Stimme geben sollten - mehr als bei allen Bundestagswahlen seit 1998 (FAZ, 23.8.2017). Dies gefährdete zwar nicht die Aussicht von CDU und CSU, wieder stärkste Formation im Bundestag zu werden, ließ aber mehrere Koalitionsmöglichkeiten denkbar erscheinen. Tatsächlich zeigte sich am Wahlabend, dass nur die große Koalition oder ein Jamaica-Bündnis zwischen den Unionsparteien, der FDP und den Grünen rechnerisch möglich war. Noch am Wahlabend verkündete der Spitzenkandidat und SPD-Vorsitzende Martin Schulz, dass er in die Opposition gehen wolle.
Klar ist auch: Zentrale Themen, die diese Wahl entschieden haben und die schon in den Monaten zuvor für die Wähler relevant waren, setzten auch hier wichtige Rahmenbedingungen. Infratest dimap hatte vier Wochen vor der Wahl ermittelt, dass 21% der Wähler erwarteten, dass die neue Regierung sich vorrangig um den Themenkomplex Flüchtlinge/Einwanderung/Asylpolitik kümmere, nur für 9% sei die soziale Gerechtigkeit das vorrangige Thema gewesen.
Zuletzt haben dann auch CDU, CSU und SPD in den demoskopischen Daten an Boden verloren – möglicherweise ein Ausdruck der Skepsis gegenüber den Lösungsangeboten in diesen Feldern. Das Resultat hat diese Erwartungen bestätigt. Mit sieben Parteien und sechs Fraktionen erscheint der Bundestag so fragmentiert wie nie in den letzten Jahrzehnten. Sowohl die Union als auch die SPD mussten Verluste hinnehmen. Die Union kam auf 32,9% der Zweitstimmen und wurde klar stärkste Kraft. Allerdings war dies das zweitschlechteste Ergebnis seit 1949. Andererseits hat die Union klar die strategisch beste Ausgangsposition für die Regierungsbildung und die weitere Legislaturperiode. Der größte Verfolger, die SPD, kam nur auf 20,5% und erreichte somit das schlechteste Resultat bei Bundestagswahlen überhaupt. Drittstärkste Kraft wurde die AfD mit 12,6%, die aber im Parlament isoliert bleiben und – wie Frauke Petry am Tag nach der Wahl demonstriert hat – durchaus von Abspaltungen geplagt sein und damit faktisch eine achte Gruppierung im Bundestag bedeuten könnte. Die FDP holte ein mit 10,7% gutes Ergebnis und zog wieder in den Bundestag ein. Aber auch mit ihr würde es nicht zu einer bürgerlichen Mehrheit reichen, so dass die Grünen mit 8,9% für eine Koalition benötigt würden, wenn eine große Koalition tatsächlich nicht mehr in Frage käme. Auch die Linken mit 9,2% dürften im Bundestag relativ isoliert bleiben.
Das Wahlrecht sorgt durch die extrem hohe Anzahl von Überhangmandaten dafür, dass den 299 direkt gewählten Abgeordneten 410 Listenkandidaten gegenüberstehen, so dass der neue Bundestag von 631 auf 709 Mandate anwachsen wird. Davon profitieren alle Parteien außer der CSU, die nur durch ihre 46 direkt gewählten Abgeordneten vertreten sein wird.
Erfreulich ist, dass die Wahlbeteiligung wieder deutlich angestiegen ist von 71,5% auf 76,2%. Diese zusätzliche Mobilisierung hat aber offenbar den verschiedenen Parteien unterschiedlich stark genutzt. Die Union hat insgesamt zwar 380.000 Stimmen von den Nichtwählern gewonnen, aber die Verluste mit 1,36 Millionen Stimmen an die FDP und 980.000 Stimmen an die AfD haben diesen Gewinn mehr als aufgezehrt. Insgesamt fiel der Verlust an die AfD bei der Bundestagswahl im Vergleich eher höher aus als bei den letzten Landtagswahlen. Selbst die SPD hat 360.000 Stimmen aus dem Nichtwählerlager geholt, aber auch 470.000 Stimmen an die AfD verloren – dazu kamen noch fast ähnlich hohe Verluste an FDP, Linke und Grüne. Damit wurde das Mobilisierungsdefizit der SPD auf dramatische Weise deutlich. Auch die Grünen holten 230.000 Stimmen von den Nichtwählern und sogar 380.000 Stimmen von der SPD, verloren aber an Linke, FDP und sogar 40.000 Stimmen an die AfD. So viele Stimmen verlor auch die FDP an die AfD, konnte aber ansonsten stark von allen anderen Parteien und dem Nichtwählerlager profitieren. Die Linke zog 270.000 Stimmen aus dem Nichtwählerlager und sogar 430.000 Stimmen von der SPD, musste aber 400.000 Stimmen an die AfD abgeben. Die Wahl hat gezeigt: Zusätzliche Mobilisierung kann gelingen, aber die Parteiloyalität ist nur noch gering ausgeprägt.
In den Nachwahlbefragungen wurde deutlich, dass sich die Stimmungslage vor allem bei Migration, Asyl, Flüchtlingen und innerer Sicherheit nicht verändert. Dies hat sich auch auf das Wahlverhalten ausgewirkt. Laut Infratest dimap zeigten sich 55% der Wählerinnen und Wähler nicht zufrieden mit der Flüchtlingspolitik Angela Merkels. Es sagten ebenfalls 70%, der Befragten, sie machten sich Sorgen, dass unsere Gesellschaft immer weiter auseinanderdrifte, 62% der Befragten befürchten, dass die Kriminalität massiv zunehme, 46% der Einfluss des Islam in Deutschland zu stark werde und 38%, dass zu viele Fremde nach Deutschland kämen.
Diese und andere skeptische und besorgte Einstellungen wurden durch die positive Einschätzung der wirtschaftlichen Situation überlagert. Deshalb fiel das Thema soziale Gerechtigkeit an sich auch auf keinen fruchtbaren Boden. Aber in Verbindung mit einer auch künftig kritischen Einschätzung der Migrationspolitik könnte der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit als Folge der Kosten von Migration und Integration stärker zum politischen Faktor werden. Eine stärker fragmentierte Parteien- und auch Fraktionslandschaft im Bundestag könnte auch eine Chance sein, kontroverse Themen lösungsorientert zu diskutieren. Ob dies in einer Jamaika-Koalition möglich ist, wird sich zeigen, wenn sich diese als wirklich einzige Koalitionsoption heraus stellt.