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Visegrád und die EU
Zerfall oder Koalitionsbildung?

Autor: Angela Ostlender
, Dr. Thomas Leeb

Was eint die vier Staaten und wie sehen sie sich und ihre Funktion im europäischen Gesamtsystem? Wie stehen sie zu ihren östlichen Nachbarstaaten? Welche Rolle spielt insbesondere die Slowakei in dieser Konstellation? Die Verbindungsstelle Brüssel lud am 6. Juni 2017 in der Bayerischen Vertretung bei der Europäischen Union in Brüssel zur Diskussion über diese Fragen ein.

Vor dem Hintergrund internationaler Krisen und der damit verbundenen Herausforderungen kam es innerhalb der Europäischen Mitgliedstaaten zur Bildung neuer strategischer Allianzen. Die vier Visegrád-Staaten Slowakei, Polen, Tschechien und Ungarn arbeiten seit einigen Jahren immer enger zusammen. Generell stellt sich die Frage, ob derartige Allianzen die EU als Ganzes schwächen oder ob sie im Gegenteil neue Impulse für dringend benötigte europäische Zukunftsperspektiven liefern können.

Brok: „Beweglichkeit muss möglich sein, wenn EU-Strukturen dauerhaft sein sollen“.

Brok: „Beweglichkeit muss möglich sein, wenn EU-Strukturen dauerhaft sein sollen“.

HSS

Nichteinhaltung von EU-Regeln ist schlichter Vertragsbruch

Als erfahrener Europa- und CDU-Außenpolitiker erinnerte Elmar Brok, MdEP eingangs in seiner Impulsrede an die Entstehungsgeschichte der Visegrád-Gruppe (V4) seit ihrer Gründung im Jahre 1991. Sie sei maßgebliche Grundlage für den erfolgreichen NATO- und EU-Beitritt nicht nur der vier Visegrád-Staaten Slowakei, Polen, Tschechien und Ungarn, sondern auch ihrer Nachbarstaaten gewesen. Während des enormen Transformationsprozesses hätten sich die V4-Staaten stets für die Erhaltung von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Marktwirtschaft eingesetzt. Brok bedauerte, dass inzwischen der Eindruck einer Gegenkraft entstanden sei, versicherte jedoch, dass sich die Mehrzahl der Bürger dieser Länder Europa weiterhin verpflichtet fühlte. Aus seiner Sicht seien europäische Werte, wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den V4 Staaten fest verankert. Gegen eine gemeinsame Interessensvertretung habe Brok nichts einzuwenden, nur dürfe diese nicht mit Veto-Drohungen verbunden sein.  „Beweglichkeit muss möglich sein, wenn EU-Strukturen dauerhaft sein sollen“, so Brok, „aber nur innerhalb des europäischen Wertekorsetts. Die Rechtsakte der EU können nicht unter dem Argument nationaler Souveränität außer Kraft gesetzt werden.“ So gebe es für eine Zurückgewinnung von Zuständigkeiten Prozeduren, die jedoch nicht auf einer einseitigen nationalen Entscheidung beruhen könnten. Die Nichteinhaltung von EU-Regeln sei schlichter Vertragsbruch.

Für Valášek ist Visegrád kein Rammbock gegen die EU.

Für Valášek ist Visegrád kein Rammbock gegen die EU.

HSS

Keine Stärkung der Eurogruppe

Brok unterstrich, dass es viele Schnittmengen zwischen V4 und Deutschland gebe. Deutschland werde, vor allem auch im Interesse seiner östlichen Nachbarn, dem Wunsch des neuen französischen Präsidenten nach einer Stärkung der Eurogruppe nicht nachgeben, um die Entstehung einer „zweigeteilten“ EU in Euro- und Nicht-Euro-Länder zu verhindern. Bei  Verteidigungsfragen herrsche mit den Visegrad-Staaten in vielen Bereichen Übereinstimmung. „Die Flüchtlingsfrage ist auch mit der Frage von militärischen Kapazitäten verbunden“, sagte Brok. Im Hinblick auf weitere Beitrittsgesuche warb Brok für eine Phase der Konsolidierung.  In den vergangenen Jahren sei viel geleistet worden, jedoch müsse man sich nun erreichbare Ziele setzen, um den Bürgern das Gefühl des Fortschritts auch zu vermitteln. „Eine Vollmitgliedschaft ist nicht zwingend notwendig, um in bestimmten Bereichen mit der EU zusammenzuarbeiten. Dies zeigen die Beispiele Norwegen und Schweiz“, führte der CDU-Politiker aus. 

Für Tomáš Valášek, Direktor von CARNEGIE EUROPE, hat die Visegrád-Gruppe vornehmlich eine Koordinierungsfunktion. „Sie ist kein Rammbock gegen die EU“, so Valášek. Das Bild, das oftmals von der V4-Gruppe gezeichnet werde, entspräche keinesfalls ihrem Anliegen. Im Zentrum stehe der gemeinsame Interessensabgleich. Zentrale Inhalte seien das Flankieren der östlichen Nachbarn und der Erhalt des hart errungenen Wohlstands. Sicherheit, Wohlstand und Stabilität gebe es nur durch vollständige EU-Integration.

László Bukovszky bedauert, dass radikale Kräfte die Migrationswelle zu ihren Gunsten nutzen konnten.

László Bukovszky bedauert, dass radikale Kräfte die Migrationswelle zu ihren Gunsten nutzen konnten.

HSS

Aufnahme von Flüchtlingen: Visegrád-Gruppe versus Europäische Union?

Ein zentraler Diskussionspunkt war die Ankündigung der Europäischen Kommission von Sanktionen gegenüber Mitgliedstaaten, die ihren Verpflichtungen laut EU-Flüchtlingsquoten nicht nachkommen. László Bukovszky, Regierungsbeauftragter für Angelegenheiten nationaler Minderheiten (Most-Híd, EVP)  sagte, dass es niemals das Ziel der Visegrád-Gruppe gewesen sei, die EU zu untergraben. Die Migrationswelle habe auf alle V4-Länder enorme Auswirkungen gehabt und zu der Übereinstimmung geführt, dass nicht die V4-Länder das Endziel der Migranten gewesen seien.  Er bedauerte jedoch, dass radikale Kräfte in der Slowakei die Ausnahmesituation der Migrationswelle zu ihren Gunsten nutzen konnten. Bei der Entscheidung, die  Verweigerung der EU-Flüchtlingspolitik zu sanktionieren seien auch innenpolitischen Konsequenzen abzuwägen. Thomas Valášek merkte an, dass es bei der Entscheidung für oder gegen Sanktionen maßgeblich sei, ob Verhalten durch Sanktionen verändert werden könne. Sanktionen dürften nicht dem Selbstzweck dienen. Er bedauerte vor allem die Wahl der Rhetorik der Visegrád-Gruppe  bei der Kommunikation im Rahmen der Flüchtlingsproblematik, mit der sie sich selbst in eine schwierige Lage manövriert habe. Zu Recht kritisierte Umstände seien mit polemischem Gepolter in einen Topf geworfen worden. Es sei nun eine große Herausforderung, die Diskussion wieder auf eine sachliche Ebene zu rücken.

Gemeinsamer Gedankenaustausch mit slowakischem MdEP Ivan Štefanec (4vL): „brauchen einheitlichen EU-Markt im Digitalbereich“

Gemeinsamer Gedankenaustausch mit slowakischem MdEP Ivan Štefanec (4vL): „brauchen einheitlichen EU-Markt im Digitalbereich“

HSS

Slowakische Delegation in Brüssel

Die öffentliche Diskussionsveranstaltung fügte sich ein in den Besuch einer politischen Delegation aus der Slowakei, an deren Spitze der nationale Parlamentsabgeordnete Peter Vörös stand. Im Gespräch mit der CSU-Europaabgeordneten Monika Hohlmeier wurde auch das Weißbuch der Europäischen Kommission in den Blick genommen. Hohlmeier sprach sich für eine optimistische Haltung aus. Die EU-Staaten müssten nach vorne blicken und eine Vision für die Zukunft einer EU-27 entwickeln, so die CSU-Europaabgeordnete. „Wir müssen uns auf die bedeutungsvollen Angelegenheiten konzentrieren und dürfen uns keinesfalls in unwichtige Details verlieren“, betonte Hohlmeier. „Einige EU-Kompetenzen müssen den Mitgliedstaaten zurückgegeben werden, zum Beispiel im Bereich Landwirtschaft.“ Darüberhinaus forderte die Europaabgeordnete eine gemeinsame EU-Entwicklungspolitik.

Außerdem fand ein Gedankenaustausch mit dem slowakischen Europaabgeordneten Ivan Štefanec statt. Der Parlamentarier, der Mitglied im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz ist, hob hervor, dass die Europäische Union immer noch den stärksten Wirtschaftsraum weltweit darstellt. Brüssel und die Mitgliedsstaaten müssten, um diese Position zu halten auch die Digitalisierung aktiv gestalten. „Die Digitalisierung ist ein Schlüsselfaktor für unsere Zukunft. Wir brauchen hier einen einheitlichen EU-Markt und müssen bessere Strukturen schaffen“, so Štefanec.

Moderiert wurde die Veranstaltung durch  Martin KASTLER, M.A., Repräsentant und Regionalleiter der Hanns-Seidel-Stiftung in der Tschechischen Republik, Slowakei und Ungarn.

Belgien (Europa-Büro Brüssel)
Dr. Thomas Leeb
Leiter