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HSS macht Bestandsaufnahme zur „Verrohung“ der Gesellschaft
Mehr Mutbürger

Autor: Dr. Susanne Schmid

Wird unsere Gesellschaft wirklich immer brutaler oder fehlt dieser weit verbreiteten Meinung die Faktenbasis? Im HSS-Interview nimmt der Sozialpsychologe, Prof. Dr. Dieter Frey, dazu differenziert Stellung und gibt Ratschläge, wie man im Allltag Zivilcourage zeigen kann.

Ob unsere Gesellschaft tatsächlich „verroht“ und wenn ja, welche Ursachen das hat und welche Gegenmittel wirken, darum ging es auf unserer Veranstaltung gestern Abend im Konferenzzentrum.

Kommunikationswissenschaftler Reinemann warnte davor, den Begriff der „Verrohung“ zu allgemein zu verwenden, sondern mahnte eine Differenzierung an. „Verrohung“ habe sehr unterschiedliche Ausprägungen, käme on- und offline vor.

Die Experten:

Auf der Podiumsdiskussion im Konferenzzentrum der Hanns-Seidel-Stiftung zur „Verrohung der Gesellschaft“ sprachen der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, der Münchner Polizeivizepräsident, Norbert Rademacher, Thomas Stadler vom BRK, Prof. Carsten Reinemann, Direktor des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung sowie Prof. Peter Frey, Leiter des Centre of Leadership and People Management, beide von der LMU. Den Austausch zu einer aktuellen gesellschaftlichen Debatte leitete Dr. Stefan Meining vom BR. „Wir brauchen weniger Wutbürger – mehr Mutbürger“ war, plakativ zusammengefasst, das übereinstimmende Ergebnis des Abends, dem sich ein Plädoyer für eine offene, menschenwürdige Gesellschaft anschloss.

Übereinstimmend berichteten der Polizei- und BRK-Vertreter von Angriffen auf Polizeibeamte und Rettungspersonal. „Jeder Angriff ist einer zu viel“, sagte Thomas Stadler. Rademacher nannte gegenseitige Wertschätzung essentiell. Die Gesellschaft müsse hinter den Helferinnen und Helfern stehen, denn diese träten schließlich auch für die Gesellschaft ein. Schuldirektor Meidinger sah im schulischen Bereich das größte Problem im „Cyber-Mobbing“ in Sozialen Netzwerken und Instant Messaging Diensten. Unter diesem Begriff wird das absichtliche Beleidigen, Bedrohen, Bloßstellen, Belästigen über einen längeren Zeitraum hinweg verstanden. Die – oft anonym agierenden - Täter (oder: „Bullys“) suchen sich ein Opfer, das sich nicht oder nur schwer zur Wehr setzen kann. Dieses Machtungleichgewicht zwischen Opfer und Täter nutzen diese aus. Das Opfer wird oft sozial isoliert oder nimmt die Attacken in Kauf, um diese Isolation zu vermeiden. Hier seien die Schulen, aber auch die Eltern gefragt und müssten Wege finden, den Mädchen und Jungen Werte und Respekt zu vermitteln. Es gebe noch viel zu tun. Reinemann schlug vor, im ersten Halbjahr eines jeden Schuljahres zusammen mit den Schülerinnen und Schülern zum Beispiel klare Regeln für den Umgang mit Internet und Messaging Diensten zu erarbeiten. Wichtig sei hier insbesondere, dass die Gruppe, also die Klasse selbst, gegen Cybermobbing einschreite. Auch WhatsApp sei übrigens kein rechtsfreier Raum. Gerade die Schule müsse symbolisieren, dass jede Schülerin und jeder Schüler ein wertvoller Teil der Gesellschaft sei.

Professor Frey forderte eine „Ausbildung in Zivilcourage“ mit Wertevermittlung, Wertereflektion und Wertebildung, da entsprechende Appelle, Zivilcourage zu zeigen, alleine nicht reichen würden. Mit ihm haben wir ein Interview zum Themenkomplex geführt:

Ein Mann mittleren Alterss mit krausem Haar und gedankenvoller Stirn hat den Zeigefinger bedeutsam an seine Schläfe gelegt, den Kopf leicht schief gelegt und sagt etwas offenbar Differenziertes.

Prof. Dr. Dieter Frey ist seit 2007 akademischer Leiter des LMU Center for Leadership and People Management und war 25 Jahre Lehrstuhlinhaber für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Frey ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Träger des Deutschen Psychologie-Preises 1998. Von 2003 bis 2013 war er akademischer Leiter der Bayerischen Elite-Akademie.

Dieter Frey

HSS: Herr Professor Frey, schwinden Respekt und gute Umgangsformen tatsächlich, oder täuscht der Eindruck?

Prof. Dr. Frey: Zunächst ist es mir wichtig zu betonen, dass unsere Gesellschaft nicht von einem totalen Werteverfall betroffen ist. Die Mehrheit der Bevölkerung agiert nach wie vor mit Respekt und wertschätzendem Umgang. Es ist ähnlich wie bei der Kriminalität, wo man auch nicht sagen kann, dass die Kriminalitätsrate insgesamt steigt, aber sogenannte gravierende Gewalttaten mit Körperverletzungen nehmen in der Tat zu. Und so ist es auch beim Umgang miteinander, dass eine Minderheit von Menschen im Falle vermeintlicher Bedrohung oder vermeintlicher Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, sehr schnell ausrasten, handgreiflich werden, andere anschreien und beleidigen und mit Wörtern und Ausdrücken um sich werfen, die man besser nicht laut sagen sollte. Zudem findet ein Wertewandel statt. Frühere Werte wie Disziplin, Achtung vor Autoritäten und Hierarchien, Höflichkeit und Selbstbeherrschung verlieren an Bedeutung. Dagegen werden absolute Freiheit in jeder Hinsicht, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung immer zentraler. Das bedeutet für manche auch, genau so zu leben wie man möchte, ohne sich in irgendeiner Art und Weise einschränken zu lassen oder Rücksicht zu nehmen. 

HSS: Wo sehen Sie dafür die Ursachen?

Die Ursachen sind vielfältig. Etwa ein Drittel der Bevölkerung fühlt sich durch die vielfältigen weltweiten Veränderungen, die mit Globalisierung, Digitalisierung, Unsicherheiten im Hinblick auf Wohnen, Arbeit, Rente und auch mit der Migration zu tun haben, verunsichert, verängstigt, bedroht. Diese Menschen erleben einen Kontrollverlust und fühlen sich von der Gesellschaft abgehängt. Und das geht bis in die Mittelschicht hinein. Wenn sie dann zusätzliche Freiheits- oder sonstige Einschränkungen wahrnehmen, die sie frustrieren, reagieren sie relativ schnell mit Aggression.


HSS: 
Ein weiteres Phänomen ist das zunehmende Misstrauen gegenüber Politik, Presse und Parteien. Wie erklären Sie sich das?

Ja, die Aggression oder manchmal auch die Wut richtet sich vermehrt gegen Repräsentanten der Politik und damit auch der Parteien, denen das Verständnis für die tatsächlichen Probleme der Menschen abgesprochen wird. Und besonders die Menschen, die sich eher als Verlierer fühlen, die sehen, dass die Jugend abwandert, der Tante-Emma-Laden schließt ebenso wie die Bank- oder Postfiliale, haben das Gefühl, dass sich die Politik überhaupt nicht mehr für sie interessiert und sie fühlen sich ohnmächtig und im Stich gelassen. Und dann geschieht es sehr leicht, dass die Verzweiflung, die sich dort aufbaut, in Aggression und Gewalt umschlägt. Dies überträgt sich dann in einer Generalisierung vor allem auch auf die Presse, weil dieser unterstellt wird, sie würde nicht objektiv berichten, sondern obrigkeitshörig die Realität beschönigen.


HSS: 
Gerade die Sozialen Medien stehen in dem Ruf, dass dort zum Teil ein besonders grober und unversöhnlicher Umgangston herrscht. Hat sich das in jüngster Zeit verschärft oder ist es einfach ein Phänomen des Cyberspace von Beginn an?

Das war eigentlich schon von Beginn der sozialen Medien an so, dass der Umgangston, aufgrund der Anonymität, zunächst lockerer und dann sehr schnell grober war. Und durch die zusätzlichen, bereits angesprochenen Frustrationen eines Teils der Bevölkerung hat sich dies in letzter Zeit erheblich verstärkt. Negativaspekte aufgrund der genannten Verunsicherungen und mit Kontrollverlust verbundenen Ängste, sowie aufgrund weiterer ganz heterogener Mechanismen, wie Globalisierung, Digitalisierung, Verlustängsten in Bezug auf Wohnen, Rente, Arbeitsplatz, Ausländern, die als drohende Überfremdung empfunden werden, schlagen sich gerade in den sozialen Medien nieder. Hier kommt noch ein interessantes Phänomen dazu, nämlich, dass Menschen diese Negativaspekte akkumulieren und man quasi Individualität herstellt, indem man Dinge noch extremer ausdrückt. Dazu kommt noch ein allgemeines Phänomen unserer Bevölkerung, nämlich etwas, das ich Aufmerksamkeitsfetischismus nenne, sowie falsch verstandene Freiheit, denn Freiheit wird oft gleichgesetzt mit Freizügigkeit in dem Sinne, dass man meint, sich alles erlauben zu können. Und man will sich seine Einzigartigkeit beweisen, indem man Dinge besonders extrem formuliert, das, was man liest nicht nur "liken" sondern noch toppen will, so dass wir es hier praktisch mit einer Eskalation von negativem Effekt, von Hass, von Wut zu tun haben. In den sozialen Medien erhält man, meist noch stärker als bei einer Face-to-Face Interaktion, die Unterstützung durch Gleichgesinnte, weil man bei jeder aggressiven Aussage sofort Bestärkung und Zustimmung bekommt und sich dadurch noch sicherer ist, dass die Hassbotschaft von der Mehrheit geteilt wird, auch wenn dies objektiv betrachtet, natürlich gar nicht der Fall ist. Es besteht also eine unsägliche Mischung von wahrgenommenen, unterschwelligen Bedrohungen, wahrgenommener Ungerechtigkeit, dem Gefühl nicht verstanden und ernst genommen werden, verbunden mit Anonymität, einem gewissen Grad von falschverstandener Selbstverwirklichung, die alle Freiheiten zulässt, sowie einem gewissen Grad von Narzissmus, also der extremen Überschätzung der eigenen Wichtigkeit.

Dazu muss man sagen, dass es natürlich nicht nur eine Ursache gibt, sondern dass multiple Ursachen vorliegen. Sehr oft ist es so, dass Menschen die Komplexität von Ursachen nicht sehen und erkennen können. Und das ruft dann oft Parteien und Organisationen auf den Plan, die nur einen Faktor benennen, der angeblich für alle negativen Entwicklungen verantwortlich ist, nämlich die Ausländer und die sogenannte „Überfremdung“, durch die gleichzeitig die soziale Identität der Menschen bedroht sei. Sie fühlen sich bedroht obwohl es oft in ihrem Umkreis kaum Ausländer gibt. Die Toleranz ist ja insgesamt dort am größten, wo es schon in der Vergangenheit einen hohen Ausländeranteil gab. Den Menschen wird dann suggeriert, dass alle Probleme und Ängste die sie haben (wahrgenommener Kontrollverlust, zu geringe Rente, Angst um den Arbeitsplatz, zu hohe Mieten etc.) durch die Ausländer hervorgerufen werden, so dass die naheliegendste Lösung darin besteht, die Grenzen dicht zu machen und die sich bereits im Land befindlichen Migranten so menschenverachtend zu behandeln, dass sie das Land freiwillig wieder verlassen, bzw. so viele wie möglich abzuschieben.


HSS: 
Was hilft? Nutzen härtere Strafen als Mittel der Abschreckung? Ist die bisherige inhaltliche Auseinandersetzung mit den im Netz verbreiteten Vorurteilen und Ideologien ausreichend?

Genauso wie es multiple Ursachen gibt, gibt es auch multiple Lösungen und nicht nur eine Lösung. Ich glaube schon, dass härtere Strafen helfen, vor allem konsequentere Strafen, das heißt, dass menschenunwürdige Botschaften, also Hassbotschaften und natürlich auch Gewalt tatsächlich sofort und hart bestraft werden, so dass die Leute wirksame Signale der Abschreckung sehen. Es muss auch absolut tabu sein, dass es rechtsfreie Räume gibt. Die bisherige inhaltliche Auseinandersetzung mit den stereotypen Vorurteilen und rechten Ideologien ist aus meiner Sicht nicht ausreichend. Zu jeder Negativäußerung müssten mindestens zwei ihr widersprechende Äußerungen kommen, zum Beispiel: „Das ist nicht fair. Das sehe ich nicht so. Das ist unmöglich. Das ist falsch.“, damit die Leute, die diese Hassbotschaften verbreiten, sehen, dass sie nicht die Mehrheitsmeinung vertreten, sondern die bisher schweigende Mehrheit ihnen eben nicht zustimmt.


HSS: 
Welche Rolle spielt zivilgesellschaftliche Bildung in diesem Kontext?

Zivilgesellschaftliche Bildung spielt eine ganz zentrale Rolle, denn der Staat ist ja überfordert. Notwendig sind Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung, die geprägt sind durch Werte und Normen und die über Wissen und Handlungskompetenzen verfügen, wie man sich in den betreffenden Situationen verhalten soll und die dies auch vermitteln können. Generell weiß man ja, dass Bildung einen Puffer gegen Stereotype und Vorurteile darstellt. Es geht dabei nicht nur um die Vermittlung der Werte und Normen unterschiedlicher Religionen, Kulturen, Länder, als quasi die Vermittlung interkultureller Kompetenzen, sondern gleichzeitig darum, die Erfahrung zu machen, wie man mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen umgeht.


HSS: 
Was kann jeder einzelne von uns tun?

Jeder einzelne kann sehr viel tun, etwa indem er sich schlicht bewusst ist, dass es um die Einhaltung ganz zentraler Werte unseres Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“), der Demokratie geht, dass also Pluralismus möglich ist und auch unterschiedliche Meinungen möglich sind und dass vor allem menschenunwürdige und menschenverachtende Aussagen absolut indiskutabel sind. Wer dazu schweigt, macht sich meines Erachtens mit verantwortlich. Es reicht nicht zu sagen, dass man das alles nur schrecklich findet, sondern man muss sich zumindest, möglichst in der Gruppe Face-to-Face und/oder schriftlich äußern und klar sagen: „Das finde ich nicht fair.“ „Das finde ich nicht ok.“ „Das finde ich nicht respektvoll.“ Zivilcourage ist hier auch das Stichwort. Und je mehr Leute das tun, umso mehr sehen die Menschen, die zum Beispiel Hassbotschaften verbreiten, dass es durchaus auch andere Positionen als die eigene gibt und dass diese anderen Meinungen sogar in der Mehrheit sind. Und das fängt eigentlich schon im Kindergarten an, geht in der Familie, in der Schule, in den Universitäten und in den Firmen weiter. Insofern haben diese Institutionen eine große Verantwortung für Wertebildung.


HSS: 
Herr Professor Frey, Sie haben zu Zivilcourage geforscht. Kann man Zivilcourage lernen? Wie kann man die Bereitschaft zum Hinsehen, zum Einschreiten und zur Gegenrede erhöhen? Was können wir tun, um uns nicht selbst in Gefahr zu bringen?

Natürlich kann man Zivilcourage lernen, ähnlich wie Fähigkeiten zur Ersten Hilfe in Kursen gelernt werden können. Und man macht das ja nicht nur zum Spaß, sondern man weiß, dass diejenigen, die vor kurzer Zeit einen Erste Hilfe Kurs absolviert haben, in der Tat wissen was im Fall des Falles zu tun ist und dass sie dieses Wissen auch umsetzen können, dass sie also auch über Handlungskompetenzen verfügen. Und das Interessante dabei ist, wer Wissen und Handlungs-kompetenzen hat, fühlt sich auch eher verantwortlich, wenn etwa ein Unfall passiert ist, anzuhalten und einzugreifen. Und ähnlich ist es auch bei der Zivilcourage, wie unsere Forschung zeigt. Appelle an Zivilcourage bringen wenig, sondern ich muss konkret wissen: Was sage ich bei ausländerfeindlichen Äußerungen am Biertisch, an der Kasse, in der Straßenbahn oder im Freundeskreis und wie widerlege ich solche Aussagen. In unseren Kursen lernen die Leute zum Beispiel, dass man zumindest sagt: „Das ist unfair.“ „Das sehe ich ganz anders.“ Und sie lernen auch, dass man möglichst nichts alleine machen soll, sondern möglichst immer noch Unterstützer braucht. Auch dass man, wenn man angemacht wird, nicht im selben Ton und auf demselben Niveau zurückkeifen soll, sondern versuchen soll, zu deeskalieren, zu versachlichen, zumindest aber seinen gelernten Automatismus abrufen kann: „Ich finde es trotzdem nicht in Ordnung.“ „Ich finde es trotzdem menschenunwürdig“. Wie schon gesagt ist es wichtig, um uns selber nicht in Gefahr zu bringen, dass man viele Dinge auf keinen Fall alleine machen soll, dass man sich, dort wo Gefahr droht, wo andere Menschen also mit Fäusten und Messer agieren, möglichst nicht einmischt, aber auf jeden Fall die Polizei ruft, oder man kann andere ermuntern einzuschreiten und sich zu artikulieren. Aber gar nichts tun, geht gar nicht.


HSS: 
Herr Professor Frey, wir danken Ihnen für das Gespräch. 

Gesellschaftliche Entwicklung, Migration, Integration
Dr. Susanne Schmid
Leiterin