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Portraits jüdischer Persönlichkeiten
Gesichter unseres Landes: Carry Brachvogel

Wir feiern 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und Bayern und würdigen den essentiellen Beitrag, den jüdische Persönlichkeiten für die Geschichte, Kultur, Wissenschaft und Wesensart unseres Landes geleistet haben. Heute im Portrait: Carry Brachvogel - Eine Größe der Münchner Frauenbewegung.

Literarischer und politischer Werdegang

Seit 1894 prägt die bürgerliche Frauenbewegung, die sich für das Recht auf Bildung, Beruf und Erwerbstätigkeit für Frauen einsetzt, die Stadt München. Die Szene wird von Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Frauenrechtlerinnen bestimmt. Eine von ihnen ist Karoline „Carry“ Brachvogel.

1895 wird Carry Brachvogel, 31 Jahre alt, mit ihrem Debütroman Alltagsmenschen berühmt. Das Buch handelt von Elisabeth, einer jungen Frau des Münchner Großbürgertums, deren Leben von Langeweile und Weltfremdheit geprägt ist. Dieser Zustand ändert sich auch nicht, als Elisabeth verheiratet wird und damit die gesellschaftliche Bestimmung einer Frau der damaligen Zeit erreicht. Schließlich entflieht Elisabeth ihrem eintönigen Dasein in eine Affäre. Anhand von Elisabeths Geschichte übt Carry Brachvogel harsche Kritik an der damaligen Erziehung der Mädchen des Großbürgertums und der generellen Rolle der Frau im 19. Jahrhundert.  Sie ist Gastgeberin eines literarischen Salons, in dem sich regelmäßig auch Max Haushofer und Emma Haushofer-Merk, ebenfalls prominente Gesichter der Münchner Literatur-Szene, einfinden.

1903 tritt die jüdisch-stämmige Carry Brachvogel in den überkonfessionell ausgerichteten Verein für Fraueninteressen ein und wird 1913 in den Vorstand gewählt. Der Verein lässt auch männliche Mitglieder zu und führt in seinen Mitgliederlisten prominente Namen wie Max Haushofer und Rainer Maria Rilke. Nach ihrem Eintritt widmet Carry Brachvogel ihr Schreiben immer stärker der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Sie schafft verschiedene Frauentypen, welche sie in ihren Romanen und Erzählungen darstellt, und legt dabei stets großen Wert auf das Bild der arbeitenden Frau. Auch den Biografien real existierender einflussreicher Frauen nimmt sie sich an.

1913 gründet sie die Kommission für Bühnenangelegenheiten und, gemeinsam mit Emma Haushofer-Merk, den Verein Münchner Schriftstellerinnen. Nach der ersten offiziellen Sitzung des Vereins zählt dieser 68 Münchner Schriftstellerinnen und Journalistinnen als Mitglieder. Der Verein verfolgt den Zweck, in München lebende Schriftstellerinnen und Journalistinnen zu vertreten und eine Plattform für den beruflichen Austausch zu bieten. Die Mitglieder dürfen ihre Werke nicht unter Wert verkaufen, der Verein fordert die gleiche Bezahlung von männlichen und weiblichen Schriftstellern. 1918 wird der Name des Vereins in Münchner Schriftstellerinnen-Verein geändert.

„Modern sein heißt für die Frau nicht etwa, nur einen Beruf haben, promovieren oder an Wahltagen einen Stimmzettel abgeben wollen, nein, modern sein heißt für die Frau, ihr Leben nicht ausschließlich auf die Liebe festlegen, heißt dem Manne nicht die Gewalt zu binden und zu lösen zugestehn. Modern sein heißt für die Frau ein eigenes Gesetz in der Brust tragen, dessen Erfüllung ihr vielleicht nicht banales Glück, gewiß aber das höchste Glück der Erdenkinder gewährt: die Persönlichkeit. Modern sein heißt für die Frau wohl lieben bis zum höchsten Opfermut, nicht aber bis zur Selbstvernichtung, heißt sich nur fürstlich, nie aber närrisch verschwenden, heißt ein Unlösbares in sich tragen, das nie zerstört werden kann, sozusagen ein Fideikommiß der Seele, das ewig unveräußerlich bleibt“.

Auswirkungen des ersten Weltkriegs

Der 1914 ausbrechende erste Weltkrieg hat Einfluss auf die Arbeiten der Münchner Schriftstellerinnen. Carry Brachvogel schreibt den Text Die Frau und der Krieg, in welchem sie die Verantwortung betont, welche Frauen im Krieg zukommt. Sie sieht Frauen als Kämpferinnen gegen Arbeitslosigkeit, Hunger und Not. Während des Krieges übernimmt Carry Brachvogel die Leitung der Nähstube des Vereins für Fraueninteressen, in welcher bis zu 150 Arbeiterinnen tätig sind. Später wird ihr für diesen Dienst das Bayerische Ludwigskreuz verliehen. Auch ein weiterer Roman aus Carry Brachvogels Feder erscheint in dieser Zeit. Schwertzauber wird 1917 veröffentlicht und beschreibt die Veränderungen, die Menschen im Laufe eines Krieges durchmachen, von anfänglicher Kriegslust hin zu Verzweiflung und Tod.

Die bürgerliche Frauenbewegung erholt sich nur schwer vom Ersten Weltkrieg und der Verdrängung ihrer Themen durch die Konzentration auf das „Vaterland“. 1917 verlässt Carry Brachvogel den Vorstand des Vereins für Fraueninteressen, bleibt aber Mitglied. Aufgrund der wirtschaftlichen Einbußen durch den Krieg publiziert sie in dieser Zeit viel.

Der Einsatz für die Rechte von Frauen bewegte Carry Brachvogel zeitlebens. Sie gründete zusammen mit Emma Haushofer-Merk den Verein Münchner Schriftstellerinnen im Jahr 1913. Die bekannte Schriftstellerin war auch Gastgeberin eines literarischen Salons in Schwabing.

Der Einsatz für die Rechte von Frauen bewegte Carry Brachvogel zeitlebens. Sie gründete zusammen mit Emma Haushofer-Merk den Verein Münchner Schriftstellerinnen im Jahr 1913. Die bekannte Schriftstellerin war auch Gastgeberin eines literarischen Salons in Schwabing.

Theodor Hilsdorf; Münchner Stadtmuseum

Einführung des Frauenwahlrechts

Am 12. November 1918 wird in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt. Aus diesem Anlass verfasst Carry Brachvogel das Buch Frauen in der Politik. Die satirische Schrift unternimmt eine Reise durch die Jahrhunderte und stellt Frauen vor, die in ihrer Zeit politische Macht oder Einfluss hatten. So begegnen einem hier Katharina die Große, Elisabeth von England, Marie Antoinette und andere bekannte Frauennamen. Das Fazit ist dennoch ernüchternd, Frauen sind laut Carry Brachvogel „aus der Politik Ausgesperrte“. So schreibt sie:

„Der Staat ist eine Schöpfung des Mannes. Männer haben ihn ausgedacht, haben ihn aufgebaut, haben seine Grenzen gezogen, seine Gesetze bestimmt, haben ihn mit Krieg belastet oder mit Werken des Friedens beglückt. […] Die Frau, die den Staatsgedanken nicht ausdachte, hat auch, nach dem Gebot der Männer, an seinem Ausbau keinen Anteil haben dürfen. Zum Waffendienst durch ihre körperliche Beschaffenheit untauglich, blieb sie auch von jeglichen politischen Rechten ausgeschlossen, genau so, wie die Unmündigen, Verbrecher und Irrsinnigen, und es hatte beinahe den Anschein, als ob innerhalb des Staates überhaupt kein Raum für sie wäre.“

Die Verantwortung hierfür schreibt sie auch den Frauen zu, welche jahrhundertelang in naiver Warteposition verharrt hätten. Carry Brachvogel zweifelt, trotz der Einführung des Wahlrechts, daran, dass sich die Situation für Frauen nun maßgeblich verändern würde. In den 1920er-Jahren veröffentlicht sie weitere erfolgreiche Werke. 1925 wird sie zur ersten Vorsitzenden des Schriftstellerinnen-Vereins gewählt, in dem sie sich nach wie vor für die Belange seiner Mitglieder engagiert.

Nationalsozialismus

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 zerschlägt die deutsche Frauenbewegung. Carry Brachvogel erhält aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Berufs- und Publikationsverbot. 1933 wird ihr der Vorsitz des Münchner Schriftstellerinnen-Vereins entzogen, wovon sie nur schriftlich in Kenntnis gesetzt wird. Ein paar Monate später wird der Verein aufgelöst. Das Bild der modernen Frau hat im nationalsozialistischen Regime keinen Platz.

Am 21. Juli 1942 wird Carry Brachvogel in das KZ Theresienstadt verschleppt und dort am 20. November 1942 ermordet. Ihr Leben war der – vor allem wirtschaftlichen – Gleichberechtigung von Männern und Frauen gewidmet, welche bis heute noch nicht erreicht ist.

Autorin: Kerstin Neuhaus, angehende Sozialarbeiterin (B.A.) und Mitarbeiterin des Kompetenzzentrums Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Interkultureller Dialog der Hanns-Seidel-Stiftung.

Carry Brachvogel: Hebbel und die moderne Frau. München: G. C. Steinicke 1912.

Judith Ritter: Die Münchner Schriftstellerin Carry Brachvogel: Literatin, Salondame, Frauenrechtlerin. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2016.

Evas Töchter – Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung 1894-1933. Hrsg. von Ingvild Richardsen. München: Volk Verlag 2018.

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Bildung, Hochschulen, Kultur
Thomas Klotz
Leiter