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Portraits jüdischer Persönlichkeiten
Gesichter unseres Landes: Max Mannheimer

Wir feiern 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und Bayern und würdigen den essentiellen Beitrag, den jüdische Persönlichkeiten für die Geschichte, Kultur, Wissenschaft und Wesensart unseres Landes geleistet haben. Heute im Portrait: Max Mannheimer - Zeitzeuge, Versöhner und Advokat der Demokratie.

Wäre Max Mannheimers Leben ein Theaterstück, bestünde es aus vier Akten: Die Kindheit und Jugend in Neutitschein, stellvertretend für das Leben osteuropäischer Kulturdeutscher mosaischen Glaubens. Es folgte die Zeit als entrechteter „Untermensch“ und Häftling in den Konzentrationslagern, als Beispiel für Ausgrenzung und Vernichtung. Dann der Neuanfang als deutscher Bürger in der Nachkriegszeit und schließlich die letzte Lebensphase, in der er unermüdlich als Zeitzeuge tätig war und zum öffentlichen Max Mannheimer wurde.

Der Überlebende

Geboren wurde er 1920 in Mähren in der neugegründeten Tschechoslowakei als Nachfahre aschkenasischer und sephardischer Juden. Seine Eltern stammten aus verschiedenen Regionen des ehemaligen Kaiserreichs Österreich-Ungarn. Seine Muttersprache war Deutsch. Die glückliche Kindheit legte wohl den Grundstein für seine spätere Resilienz.
Mit dem Einmarsch der Nazis 1938 begann die Entrechtung: Der Lebensmittelgroßhandel seines Vaters wurde enteignet und der gelernte Kaufmann arbeitete von da an im Straßenbau. Dadurch entging er zunächst der Vernichtung: Bei der Selektion an der Todesrampe in Auschwitz wiesen ihn die Schwielen an den Händen als Arbeiter aus.
„Theresienstadt – Auschwitz – Warschau – Dachau“ lautete der schlichte Titel, unter dem seine Erinnerungen, sein „Spätes Tagebuch“ 1985 erstmals in den Dachauer Heften erschienen. Es waren die Lager, in denen er zwei Jahre als Häftling unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit leistete, und in denen er fast seine gesamte Familie verlor. 1945 wurde er befreit. Er hatte Auschwitz verlassen, aber Auschwitz sollte ihn nie mehr verlassen. Unweigerlich überschatteten die Jahre der Verfolgung und der Internierung die übrigen. Depressionen und Erinnerungen verfolgten ihn. Der Körper dagegen erholte sich schnell. Ärzte hatten ihm wegen der vom Hunger und Misshandlung geschädigten Organe ein Lebensalter von höchstens 40 Jahren gegeben. Bei seiner Befreiung war er an Typhus erkrankt, auf unvorstellbare 36 kg abgemagert und wegen zweier zerquetschter Wirbel um 5 Zentimeter geschrumpft.

Max Mannheimer überlebte die Schoah und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum unermüdlichen Mahner gegen Unmenschlichkeit und Brückenbauer für die Zukunft.

Max Mannheimer überlebte die Schoah und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum unermüdlichen Mahner gegen Unmenschlichkeit und Brückenbauer für die Zukunft.

Elija Boßler

Nachkriegszeit und Neubeginn

Deutschland werde nun eine Demokratie, überzeugte ihn schon ein Jahr später eine deutsche Frau, die sozialdemokratische Widerstandskämpferin Elfriede. Aus Liebe zu ihr und der gemeinsamen neugeborenen Tochter folgte er ihnen in das Land der Täter, das er sich geschworen hatte nie mehr zu betreten. München wurde sein Zuhause. Hier eroberte er sich in der Nachkriegszeit etwas Normalität zurück, arbeitete viel, pendelte nach Frankfurt, um seine kleine Familie zu ernähren, zog sich aber auch zurück in eine geschützte Umgebung mit Seinesgleichen und Wohlgesinnten, Überlebenden, Widerstandskämpfern. Er fing an zu malen, übermalte die Schrecken, bannte sie auf Leinwände. Mithilfe anderer Leinwände – des Kinos – lenkte er sich ab. Er fand einen kleinen Frieden. Die weiterhin grassierende Diskriminierung schien ihm nichts anzuhaben oder er fand es nicht wert dagegen anzukämpfen, handelte es sich doch nicht um Unrecht, sondern um Ungerechtigkeit zwischen gleichgestellten Bürgern.

Als seine Frau an Krebs starb, schrieb er seine Erinnerungen für die nun siebzehnjährige Tochter auf. Zwanzig Jahre verwahrte sie diese ungelesen, hielt sich an das Tabu des Unerzählten, bis Historiker nach dem Manuskript fragten.

Max Mannheimer heiratete ein drittes Mal, die amerikanische Schriftstellerwitwe Grace. Er bekam einen Sohn und konzentrierte sich auf das kleinbürgerliche Glück. Es war die Zeit des Weiterlebens. Als seine Erinnerungen erschienen und er zum gefragten Zeitzeugen wurde, hatte er sich seelisch und körperlich regeneriert, um die nächsten drei Jahrzehnte eine erstaunliche Energie in seine letzte Berufung zu investieren.

Zeitzeuge und Erzähler

Die Bürde des Überlebens beglich er seine letzten 30 Lebensjahre mit dem Erzählen des Erlebten. Seine Eltern, seine Brüder, seine Schwester, seine erste Frau ließ er in seinen Berichten wieder aufleben. Er versuchte, ihrem sinnlosen Tod einen Sinn zu geben. Er hat ihnen ein Denkmal und mit seiner persönlichen Geschichte ein Mahnmal für die Zukunft gesetzt. Er war Brückenbauer und Versöhner. Der jüdische Agnostiker, den eine enge Freundschaft mit einer katholischen Ordensschwester verband, ging mit gutem Beispiel voran. Er erzählte von der Vergangenheit, war aber zukunftsgewandt: Seine Zuhörer würden die Verantwortung dafür tragen, dass so etwas nicht wieder geschieht. Das war seine Motivation. Er war nicht Ankläger oder Richter, wie er stets betonte, sondern Zeitzeuge. Er zeugte von der Vergangenheit, um Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Max Mannheimer war nicht nur Opfer einer Diktatur, er war ein präsenter Akteur in der Bundesrepublik. Er wurde vom Objekt des grausamsten Kapitels deutscher Geschichte zum Subjekt der deutschen Gegenwart. Er war Demokrat durch und durch. Kaum einer wusste den Wert der Demokratie so zu schätzen wie er. Er war Optimist, aber kein Träumer. Er hat leidvoll erfahren müssen, wie menschlich Unmenschlichkeit ist. Es war ihm ein Anliegen, Jugendliche gegen die Verlockung populistischer Sirenengesänge zu impfen, sie vor dem Sog einer Radikalisierungsspirale zu bewahren und sie mit Kopf und Herz für die Demokratie, die Menschlichkeit und die Freiheit zu gewinnen.

Das Vermächtnis

Max Mannheimer hinterlässt keine jüdischen Nachfahren, aber seine Erben sind wir alle, denn die Bürde der Geschichte zu tragen obliegt nicht allein den Juden. Er war ein Humanist, der wusste, dass wir nur gemeinsam die Flammen der offenen Gesellschaft weitertragen können, damit die Kinder der Lichter „nie wieder“ der Finsternis anheimfallen.

Sein Name steht für den Holocaust, den Antisemitismus, die Verbrechen der NS-Diktatur. Diese Geschichte geht uns immer noch an: Sie ist gerade aus unserer Perspektive kein „Vogelschiss“, sondern das Grauen, auf dessen Trümmern und als dessen Antithese unsere Bundesrepublik entstand, um uns genau davor zu schützen. Es ist zugegebenermaßen kein schönes Kapitel unserer Geschichte, an das damit erinnert wird. Aber ohne das Wissen um diese Zeit können wir weder unsere Vorfahren noch unsere Gegenwart verstehen. Uns damit auseinanderzusetzen bedeutet eben nicht nur, die Geschichte, sondern auch uns selbst zu verstehen, zu versöhnen und gegen neue Herausforderungen gewappnet zu sein. Wenn wir nicht wissen, welche Abgründe sich hinter den Schutzdämmen unserer Demokratie verbergen, verstehen wir auch deren Notwendigkeit nicht mehr. Schließlich stehen die im Grundgesetz in Recht gegossenen Werte der Menschlichkeit und Freiheit im Kontrast zum nationalsozialistischen Totalitarismus. Max Mannheimer verkörperte diese Werte, die Notwendigkeit ihrer Verteidigung und fast ein Jahrhundert deutscher Geschichte und jüdischen Lebens in Deutschland. Mit Optimismus, Humor und Lebenslust wurde er 96 Jahre alt.

Autorin: Judith Faessler ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz in München und Enkelin Max Mannheimers.

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Thomas Klotz
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