Elf Jahre nach dem eigenen EU-Beitritt übernimmt Bulgarien zum 1. Januar 2018 erstmalig den halbjährlich wechselnden Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Im Rahmen des mit Estland und Österreich vereinbarten Achtzehnmonateprogramms (Estland hat den Vorsitz gegenwärtig inne, Österreich im Anschluss an Bulgarien) hat Sofia politische Prioritäten festgelegt. Gleichzeitig fällt die bulgarische Ratspräsidentschaft in eine Zeit richtungsweisender Entscheidungen über die Zukunft der Europäischen Union.
Die Verbindungsstelle Brüssel der Hanns-Seidel-Stiftung nahm den Wechsel im Rat zum Anlass für eine Konferenz, die in Kooperation mit dem Wilfried-Martens-Zentrum für Europäische Studien und der Vertretung des Landes Baden-Württemberg bei der Europäischen Union am 30. November durchgeführt wurde. Hauptredner des Abends war neben dem baden-württembergischen Europaminister Guido Wolf der EU-Botschafter Bulgariens, Dimiter Tzantchev. Dieser diskutierte mit dem Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Rainer Wieland, über die aktuellen Herausforderungen der EU.
Entwicklung im Bereich der Wirtschaft hat für die Zukunft Europas eine zentrale Bedeutung. Aktuelle Tendenzen lassen hoffen: Die europäische Wirtschaft ist in einem Aufwärtstrend und die öffentlichen Finanzen stabilisieren sich zunehmend. Gleichwohl, so betonte der Botschafter, dürfe der soziale Zusammenhalt deshalb nicht in den Hintergrund rücken. Die Ausgleichspolitik – die EU spricht hier von Kohäsionspolitik – habe sich als Mechanismus zum Abbau von Wachstumsdifferenzen zwischen den Mitgliedsstaaten bewährt.
Von dem Erfolg des europäischen Modells habe Bulgarien entscheidend profitiert und möchte deshalb einen aktiven und konstruktiven Beitrag zur Vorbereitung des neuen mehrjährigen Finanzrahmens leisten, der 2021 in Kraft treten soll. Mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und dem Einsatz für ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum rücke die EU die junge Generation mehr in den Mittelpunkt der EU-Politik. „Junge Menschen sind der Schlüsselfaktor für die Entwicklung der EU“, so Tzantchev. Hier sieht auch Guido Wolf, Minister der Justiz und für Europa des Landes Baden-Württemberg, eine der zahlreichen und drängenden Aufgaben, die die EU zu bewältigen habe. Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit müsse ein zentrales Anliegen der EU-Politik sein. Das Gleiche gelte für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit durch Investitionen im Bereich Innovation und Forschung, so der Minister.
Botschafter Tzantchev sprach sich dafür aus, den westlichen Balkanländern eine klare europäische Beitrittsperspektive zu geben: „Nach einer längeren Phase der zurückhaltenden EU-Erweiterungspolitik wird die bulgarische Ratspräsidentschaft gemeinsam mit den Kandidatenländern Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina sowie dem Kosovo Aktionspläne erarbeiten.“ Bulgarien möchte die notwendigen Schritte genau benennen, ohne falsche Erwartungen zu wecken. Im Zentrum dieser Bemühungen stehe die Vernetzung – sowohl mit der EU, als auch zwischen den Staaten. Dies soll durch ein zusammenhängendes transeuropäisches Verkehrsnetz erreicht werden, eine gemeinsame Luftverkehrspolitik sowie die Vernetzung der nationalen Energiemärkte.
Was die Perspektive für den EU-Beitritt weiterer Staaten betrifft, äußerte sich Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen Parlaments, deutlich zurückhaltender: „Die EU muss im Moment vielmehr an ihrer Qualität arbeiten und interne Fortschritte erreichen, bevor wir über eine erneute Erweiterung nachdenken können.“ Besonders in den Bereichen eigenständige Finanzierung und Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungspolitik in Form einer intensiveren Zusammenarbeit stellt sich laut Wieland nur eine Frage: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“
Tzantchev betonte auch die Bedeutung einer EU-Strategie in der Sicherheits- und Migrationspolitik. Konkret werde sich Bulgarien für die Einführung einer starken und unabhängigen Europäischen Staatsanwaltschaft einsetzen und unterstütze darüber hinaus eine Intensivierung der Nutzung technologischer Möglichkeiten im europäischen Justizsystem. Neben der Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität werde Bulgarien die Arbeit an angemessenen Lösungen in der Asylpolitik vorantreiben.
Der Themenkomplex Digitalisierung ist ein wichtiger Punkt im Achtzehnmonatsprogramm der Triopräsidentschaft Estland-Bulgarien-Österreich. Sofia hat diese Priorität herausgegriffen und als Schwerpunkt formuliert. Aufgrund der immer weiter voranschreitenden transnationalen Vernetzung und der elektronischen Kommunikation sieht Tzantchev die Cyber-Sicherheit als zentralen Bereich, in dem die bulgarische Ratspräsidentschaft intensiv für eine stärkere Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten eintreten werde.
Mit dem Motto „Einigkeit macht stark“ stellt die bulgarische EU-Ratspräsidentschaft den Gemeinschaftsgedanken als grundlegenden Wert der EU in den Mittelpunkt ihres politischen Programms. Der gemeinsame europäische Leitgedanke eint das „Mosaik ethnischer und kultureller Gruppen“.
Bulgarien möchte sowohl an den Stolz und den Ehrgeiz appellieren, Europäer zu sein, als auch an den Mut und die Phantasie zu notwendigen fundamentalen Reformen.
Autorin: Marina Galli