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Populismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Aufstieg der Ichlinge

Autor: Andrea Rotter, M.A.

Wohin man auch blickt, weltweit schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt, gleichzeitig gewinnen populistische Scharfmacher und Ideologen an Einfluss. Aber was ist die Ursache, was ist die Wirkung? In Berlin haben wir zusammen mit Experten nach einer Formel gesucht, diesen Kreislauf zu durchbrechen.

Während weltweit ein Aufstieg populistischer Bewegungen und Parteien zu beobachten ist, scheint der gesellschaftliche Kitt in vielen Ländern brüchig zu werden. Öffentliche Debatten werden immer unversöhnlicher geführt, extreme Positionen werden salonfähig, Aus- und Abgrenzung von religiösen, ethnischen oder kulturellen Minderheiten nimmt zu. In welchem Zusammenhang stehen Populismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt?

Info:

Die Hanns-Seidel-Stiftung hat am 13. Februar 2019 eine Expertenrunde in Berlin versammelt, um zu diskutieren, was Politik und Zivilgesellschaft anders, besser oder überhaupt machen können, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Darunter: Dr. Volker Ullrich, MdB, Düzen Tekkal, Sozialwissenschaftlerin und Autorin, Prof. Dr. Edgar Grande, Gründungsdirektor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung am Wissenschaftszentrum Berlin und Prof. Dr. Bernd Fabritius, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten.

Zwei ernst schauende Menschen, ein Mann, eine Frau, blicken von links nach rechts aus dem Bild.

Individualisierung hat auch ihre Schattenseiten. Der "Aufstieg der Ichlinge" stellt den Zusammenhalt der Gesellschaft auf die Probe, denn weniger gefühlte Zugehörigkeit und Identifikation führt oft auch zu weniger sozialem Verantwortungsgefühl.

pixel2013; ©0; Pixabay

Eine Hauptursache für viele gesellschaftliche Fehlentwicklungen war in Berlin rasch identifiziert. Sowohl die schleppende Integration, als auch der Aufstieg der Populisten oder die zunehmende gesellschaftliche Partikularisierung, also das Auseinanderbrechen großer sozialer Milieus, scheinen eine gemeinsame Wurzel zu haben: ein Mangel an Identität und gesellschaftlicher Teilhabe.

Alle müssen „mitspielen“ dürfen

Wie auch Volker Ullrich betonte Düzen Tekkal die Bedeutung von Identität und Zugehörigkeit für unsere Gesellschaft. Sie selbst engagiert sich in der Integrationsarbeit für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Gerade da stelle sich oft die Frage „Wer darf mitspielen?“, so Tekkal. Aber auch Teile der autochthonen Bevölkerung fühlten sich ausgeschlossen oder sozial „abgehängt“. Es sei wichtig, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen.

Tekkal stellte ein Projekt mit Jugendlichen mit dem Titel „German Dream“ vor, das zu einer besseren Integration beitragen soll. Sie sagte, dass Minderheiten und ganz besonders Migranten hier in Deutschland Vorbilder bräuchten, die für Erfolg durch gesellschaftliches Engagement, für zivile Verantwortung und ein humanistisches Menschenbild stehen. Sie dürften zudem nicht auf ihren Minderheitenstatus reduziert werden. Das sei kontraproduktiv. Es müsse ihnen glaubhaft vermittelt werden, dass sie „mitspielen“ dürfen.

Auch für Edgar Grande standen Identität und Zugehörigkeit im Zentrum der Frage, warum der gesellschaftliche Zusammenhalt zu schwinden scheint. Als eine wichtige Ursache nannte er die Individualisierung, also das Ersetzen vorgegebener Bindungen (Staat, Klasse, Religion, Familie) durch neue, freiwillige Bindungen. Zusammen mit dem Gefühl der Zugehörigkeit schwindet aber tendenziell auch das private Gefühl gesellschaftlicher Verantwortung. Dieser „Aufstieg der Ichlinge“ trage zur Schwächung gesellschaftlicher Strukturen bei.

Eindruck der Machtlosigkeit vermeiden

Eine zweite wichtige Ursache ist für Grande die Migration, auch innerhalb Deutschlands, etwa vom Land in die Städte. Zugezogene müssen erst neue Bindungen schaffen, was oft nicht rasch gelingt. Die Folge, so Grande, sei zunehmende Segregation. Diese Entwicklungen habe den Zusammenhalt geschwächt. Auch der Rückzug des Staates aus manchen Bereichen, wie zum Beispiel der öffentlichen Daseinsvorsorge, habe dazu beigetragen. An diesem Punkt forderte der Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Bernd Fabritius, dass im Kampf gegen steigende Ungleichheit und empfundene Ungerechtigkeit in der Gesellschaft die Politik nicht den Eindruck erwecken dürfe, gegen gewissen Entwicklungen könne man ohnehin nichts machen.

Konsens des Abends war, dass sich die Phänomene Identität, Integration, Populismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt gegenseitig bedingen und nicht isoliert angegangen werden können.

Daher müsse künftig die Politik ihre Aufgabe darin sehen, Brücken zu bauen, Teilhabe und Identifikation zu ermöglichen und in ihrem gesetzgeberisches Handeln den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den Mittelpunkt zu rücken. Bernd Fabritius fasste dieses Fazit in seiner Forderung nach mehr „empathische Sachlichkeit“ zusammen. Also: Mehr Pragmatismus und weniger Indologie in der Integrationsdebatte.

Der Kampf für Integration und gegen Populismus sei auf allen Ebenen zu führen. Insbesondere die Kommunen spielten dabei eine wichtige Rolle, so Fabritius, und müssten deutschlandweit finanziell angemessene Ausstattungen bekommen.

Außen- und Sicherheitspolitik
Andrea Rotter, M.A.
Leiterin