Print logo

Migration aus Südosteuropa nach Deutschland und Westeuropa
Braindrain weiter ungebremst

Die Migration innerhalb Europas ist seit der EU-Osterweiterung stark gestiegen Das bringt Probleme mit sich, vor allem für die Herkunftsländer. Besonders junge, mobile und gut ausgebildete Menschen locken die Chancen in Westeuropa.

Das Thema Migration ist wohl so alt wie die Menschheit und gelangte in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder aus besonderen Anlässen, etwa in den 1990er Jahren während des Balkankrieges, in den Vordergrund der politischen und gesellschaftlichen Diskussionen. Seit 2015, als klar wurde, dass sich die vielen Millionen Menschen, die aus politischen, wirtschaftlichen, klimatischen oder auch anderen Gründen aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa drängen, nicht mehr alle geordnet überprüfen und gegebenenfalls zurückweisen lassen, ist Migration zu einem europäischen Dauerthema geworden. Bereits 2015 hatten laut Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes weltweit 65 Millionen Menschen ihre Heimat aufgrund von politischer Verfolgung, Krieg und Gewalt verlassen müssen, und diese Zahl dürfte sich seitdem noch erhöht haben. Doch gleichzeitig entscheiden sich auch innerhalb Europas immer mehr Menschen zu emigrieren, zumeist, um sich aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen einen neuen Lebensmittelpunkt zu suchen.

Zwei Männer sitzen in der offenen Gepäcktür eines Reisebusses und reden miteinander.

Rund ein Fünftel der Bevölkerung Serbiens will das Land auf der Suche nach besser bezahlten Jobs und mehr Wohlstand verlassen.

eugeniu; ©0; Pixabay

Steigende Binnenmigration nach der EU-Osterweiterung

Die gravierenden Folgen dieser aktuellen Entwicklungen für die EU als Ganzes und für die einzelnen Mitgliedsländer sind in den letzten Jahren offen zutage getreten. Zwar überlagerte die Flüchtlingskrise insbesondere 2015 und 2016 das politische Geschehen und den medialen Diskurs, doch die umfangreiche europäische Binnenmigration, insbesondere von Ost- bzw. Südosteuropa nach Westeuropa, hat weiterhin großen Einfluss auf die innere Entwicklung insbesondere derjenigen Länder, die von Auswanderung in bedeutendem Ausmaß betroffen sind. Diese Migration von den weniger zu den weiter entwickelten Regionen und Staaten Europas gab es schon in früheren Jahrhunderten. Allerdings haben Umfang und Intensität dieser Vorgänge in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich an Dynamik gewonnen, und ein Ende dieser, für manche Gesellschaften möglicherweise existenzbedrohenden Prozesse, ist bisher noch nicht abzusehen.

Gründe dafür gibt es viele. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90, das Ende der Sowjetunion zu Beginn der 90er Jahre und die darauffolgende Transformation der ostmittel- und südosteuropäischen Länder sowie die Globalisierung und Öffnung der EU nach Osten mit der Erweiterung von 15 auf 28 Länder zwischen 2004 und 2013 haben unmittelbaren Einfluss auf die EU-Binnenmigration gehabt. Sie tragen zu weitreichenden Veränderungen im demografischen, sozialen und kulturellen Bild bei – nicht nur in den betroffenen Staaten, sondern auch auf der Ebene der EU. Ihre Auswirkungen werden in den Medien der westlichen Ländern oft einseitig diskutiert. Überschrift: Probleme bei der Integration. Die Perspektive der Herkunftsländer wird dabei meist vernachlässigt. So fokussierte sich der politische und mediale Diskurs in Deutschland seit 2013 auf das Thema „Armutszuwanderung“ etwa aus Rumänen oder Bulgaren. Dabei rückte in den Hintergrund, dass Deutschland durch den Gewinn von Hochqualifizierten und Handwerkern aus diesen Ländern auch profitieren kann, während in Ost- und Südosteuropa ein gravierender Bevölkerungsverlust und ein sogenannter „Braindrain“, der Verlust vieler gut ausgebildeter Fachkräfte, junger Wissenschaftler und kritischer Köpfe, zu beklagen ist, die das eigene Land voranbringen könnten. In diesem Artikel soll am Beispiel von vier Ländern Südosteuropas die aktuelle Situation um die Auswanderung dargestellt werden, um dann ihre Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft zu analysieren und Perspektiven für eine bessere Steuerung der Migration aufzuzeigen.

Bulgarien, Rumänien, Kroatien und Serbien

Die Situation ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die Statistiken der betroffenen Staaten sind oft lückenhaft, sodass Schätzungen wissenschaftlicher Institutionen oft zuverlässiger erscheinen als die Zahlen der örtlichen Statistikbehörden. So hat ein Abgleich der statistischen Daten des bulgarischen Nationalen Statistikinstituts und des deutschen Ausländerzentralregisters zur Einwanderung bulgarischer Staatsbürger ergeben, dass im Jahr 2015 offiziell 24.487 Bulgaren das Land verließen, während das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg für diesen Zeitraum 71.709 Zuzüge aus Bulgarien vermeldete. Vermutlich haben die meisten abgewanderten Bulgaren ihren Hauptwohnsitz in der Heimat nicht abgemeldet. Zudem stellt das Phänomen der Rückkehrer die südosteuropäischen Statistikbehörden vor Probleme, weil diese oft nicht registriert werden..

Bulgarien

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist das Land am Rand des Schengenraums stark von Abwanderung betroffen. Über eine Million Bulgaren sind seit 1989 emigriert. Nach offiziellen Angaben kehrten 230.000 zurück. Zwischen dem Höchststand im Jahr 1985 und dem Jahr der Volkszählung 2011 ist die bulgarische Bevölkerung von knapp 9 auf 7,35 Millionen um 18% geschrumpft. Ende 2017 lebten noch 7,05 Millionen Menschen in Bulgarien, was einen jährlichen Bevölkerungsrückgang von 0,7% seit 2011 bedeutet. Dies liegt auch an einer sehr niedrigen Geburtenrate von 9 Kindern pro 1000 Einwohner im Jahr (ähnlich wie in Deutschland) und einer hohen Sterberate (1,5%, in Deutschland 1,1%).

Die beliebtesten Zielländer bulgarischer Emigranten waren im Jahr 2011 mit 16% Russland, mit je rund 9% Spanien, Deutschland und Griechenland, mit je 6% die Türkei und Libyen, Italien mit 5,5%, die USA mit 4,5% und das Vereinigte Königreich mit 4%.Mit insgesamt 596 Millionen USD kamen 2012 die mit Abstand höchsten Finanztransfers von Auslandsbulgaren aus der Türkei, was neben der unmittelbaren Nachbarschaft der beiden Länder auch auf historische Migrationsbewegungen zurückzuführen ist: In den 1990er Jahren war die Türkei ein Hauptzielland der Arbeitsemigration sowohl für die Bulgaren, als auch für die Rumänen.

Nach aktuellen Angaben des bulgarischen Außenministeriums lebten Anfang 2019 rund 2,4 Millionen Bulgaren im Ausland, davon mehr als 1,5 Millionen in der EU. Allein im Jahr 2018 ist die Zahl der in Deutschland lebenden Bulgaren um 30.000 auf rund 340.000 in Deutschland angewachsen. Vergleichbar viele Bulgaren leben nur noch in der Türkei. Deutschland ist seit Jahrzehnten eines der attraktivsten Zielländer für bulgarische Migranten, die oft überdurchschnittlich gut ausgebildet sind. Die Gründe hierfür sind geografische Nähe (im Vergleich zu den anderen Ländern Westeuropas, ausgenommen Italien), relativ hohe Löhne, das gute Sozialsystem sowie bestehende bilaterale Abkommen. Während Deutschland von dieser Zuwanderung profitiert, sieht die bulgarische Wissenschaftsakademie für ihr Land im kommenden Jahrzehnt eine Lücke von 400.000 qualifizierten Arbeitskräften. Auch Ärztemangel wird spürbar: 2017 gab es nur noch 28.000 Ärzte in Bulgarien, jeder fünfte Mediziner war innerhalb von sieben Jahren ausgewandert. Bereits seit 1989 existieren Austauschprogramme für Studierende, wissenschaftliches Fachpersonal und Fachkräfte bestimmter Branchen. Dadurch sind Netzwerke entstanden, die bis heute Migrationsentscheidungen prägen. Auch die die hohen Direktinvestitionen und zahlreichen Firmensitze deutscher Unternehmen in Bulgarien lassen Deutschland für viele Bulgaren als attraktives Ziel erscheinen. Dazu kommt der Umstand, dass Deutschland den größten Absatzmarkt für bulgarische Produkte darstellt.

Rumänien

Laut Statistischem Bundesamt lebten Anfang 2019 rund 700.000 Menschen rumänischer Herkunft in Deutschland. In Italien und Spanien liegt die Zahl der Rumänen, die dort leben und arbeiten, bei jeweils über einer Million. Kaum ein anderes EU-Land nutzt die Freizügigkeit so stark wie Rumänien. Auch bei der Familienmigration führt das Land die Statistik an. Rund vier Millionen Rumänen (20% der gegenwärtig 20 Millionen Einwohner) leben nach staatlichen Schätzungen außerhalb des Mutterlandes. Diese Zahl erhöht sich in den Sommermonaten durch Saisonarbeiter auf Baustellen und in der Landwirtschaft um eine weitere Million.

Obwohl Rumänien 2016 mit 6,9% das größte Wirtschaftswachstum innerhalb der EU verzeichnen konnte, haben laut rumänischem Statistikamt (INS) im Jahr 2017 rund 220.000 Bürgerinnen und Bürger dauerhaft das Land verlassen. Das ist der größte Anstieg der Migration seit 1990. Vor allem junge und gut gebildete Menschen zog es ins Ausland. Die Altersgruppe der 20-29-Jährigen betrug mit 31.5% fast ein Drittel der Emigranten. Niedrige Löhne, das vergleichbar schwache Sozialsystem, politische und ökonomische Unsicherheit sowie bessere Jobchancen im Ausland gelten als vorrangige Beweggründe. Die starke Auswanderung hat zur Folge, dass Rumänien in den letzten drei Jahrzehnten 23% seiner Arbeitsbevölkerung verloren hat – vor allem Physiker, Ärzte, IT-Spezialisten, Elektrotechniker und Mechaniker. 30.000 Ärzte und 20.000 Pflegekräfte sowie die Hälfte aller Bauarbeiter haben inzwischen das Land dauerhaft verlassen. Dafür arbeiten 5.000 Vietnamesen auf rumänischen Baustellen. Die Regierung hat für dieses Jahr ein Kontingent von 20.000 Arbeitskräften aus Nicht-EU-Ländern festgelegt, laut Expertenschätzungen werden aber 300.000 benötigt. Infolgedessen wird befürchtet, dass ausländische Investitionen zurückgehen, weil es an Fachpersonal fehlt.

Gabriela Mirescu, eine rumänische Politologin, die in der Schweiz lebt, weist auf einen deutlichen Generationenunterschied zwischen den Auswanderern der Wendezeit und vielen heutigen Emigranten hin:

„Anfang der 1990er Jahre musste ein rumänischer Arzt im Westen oft als Taxifahrer beginnen und jahrelang auf die Anerkennung seiner Studien warten. Heute kommen Ärztinnen und Ärzte mit einem Vertrag in der Tasche und können gleich auf Station gehen.“  

Die ältere Generation der Auswanderer habe sich im Zielland noch durchkämpfen müssen, um einen akzeptablen Beruf und Anschluss in der Gesellschaft zu finden, heute fänden zumindest die beruflich gut Qualifizierten rascher Arbeit und könnten sich schneller im neuen Umfeld integrieren, so Mirescu. Beiden Generationen gemeinsam bleibt jedoch die Verbundenheit mit der Heimat: Sie pflegen den Kontakt und schicken Monat für Monat Geld an die Familien – ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Kroatien

Kroatien gilt als traditionelles Auswanderungsland. In der Zeit vor dem 1. Weltkrieg waren die USA, Südamerika, Südafrika, Australien und Neuseeland Hauptzielländer, in der Zwischenkriegszeit wurde Mittel- und Westeuropa (Deutschland, Österreich, Belgien und Frankreich) bevorzugt und zwischen 1960 und 1990 war die Auswanderung auf Westeuropa, vor allem Deutschland, gerichtet. Während des Jugoslawienkrieges 1991-95 kam es zu Fluchtbewegungen nach Westeuropa. Viele dieser Flüchtlinge kehrten nach Kriegsende in die Heimat zurück, sodass trotz der katastrophalen Kriegsfolgen der Bevölkerungsverlust zwischen den Volkszählungen von 1991 und 2001 auf rund 7% (von 4,78 auf 4,44 Mio. Einwohner) begrenzt blieb. Mit dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union 2013 begann eine umfangreiche Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte in andere EU-Länder, vor allem nach Deutschland. In der Folge ist die Bevölkerung bis zum 2019 auf unter 4,1 Mio. zurückgegangen. Nach aktuellen Zahlen von Eurostat verlor Kroatien allein 2018 29.300 Einwohner, der Bevölkerungsrückgang betrug damit in diesem Jahr rund 0,7% und war ähnlich hoch wie in Bulgarien und in Rumänien.

Für kroatische Migranten sind vor allem Österreich und Deutschland, hier vor allem Bayern, von großem Interesse. Während im bevölkerungsmäßig zehnmal kleineren Österreich rund 250.000 Kroaten leben, wuchs die Zahl der kroatischen Staatsbürger, die dauerhaft in Deutschland ansässig sind, zwischen 2010 und 2018 von 220.000 auf etwa 396.000 an. Dabei ergab sich im vergangenen Jahr aus kroatischer Sicht ein Verlust von 29.000 Bürgern, denn 58.000 zogen nach Deutschland und nur 29.000 kehrten zurück. Laut bayerischer Ausländerstatistik leben derzeit 98.000 Kroaten in Bayern, davon 38.000 in München, womit die Kroaten knapp vor den Türken die größte Ausländergruppe in der bayerischen Landeshauptstadt stellen. Ein positiver Effekt der Auswanderung ist der Finanztransfer durch die kroatische Diaspora in die Heimat. Laut einem Bericht der Deutschen Welle vom 30.03.2018 wurden insgesamt 2,12 Milliarden Euro im Jahr 2017 von kroatischen Staatsbürgern aus dem Ausland in die Heimat transferiert, was annähernd 5% des kroatischen BIP entspricht. Darin zeigt sich die enge Verbundenheit der Ausgewanderten mit ihrer Heimat.

Ein großes Problem, das viele junge Menschen auch zum Verlassen der Heimat drängt, stellt die Jugendarbeitslosigkeit dar. Knapp jeder dritte Jugendliche und junge Erwachsene ist ohne Anstellung. Eine Umfrage der kroatischen Ärztekammer vom April 2016 unter jungen Ärzten im Alter bis zu 40 Jahren ergab, dass mehr als die Hälfte von ihnen ernsthaft an Auswanderung dachte und 80% in der Heimat keine positive Zukunft für sich sahen. Als Hauptgründe für eine mögliche Auswanderung gaben die jungen Ärzte bessere Gehälter im EU-Ausland an, bessere Arbeitsbedingungen und soziale Absicherungen sowie Möglichkeiten für berufliche Weiterentwicklung. Das dürfte auch für viele in anderen Berufen gut ausgebildete potentielle Auswanderer gelten.[5]

Wegen des Arbeitskräftemangels hat die kroatische Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, darunter auch den Import von Arbeitskräften in den Bereichen Industrie und Tourismus. Bis Ende 2018 wurde eine Quote von 65.000 Arbeitnehmern für die Industrie genehmigt. Die importierten Arbeitskräfte kommen vor allem aus Bosnien und Herzegowina, Serbien, Albanien, Mazedonien und dem Kosovo.

Serbien

Die Bevölkerung der Republik Serbien altert und schrumpft. Als Ursachen hierfür werden die konstant niedrige Geburtenrate (neun Geburten jährlich pro 1000 Einwohner, bei einer Sterberate von 14) und die Auswanderung der vergangenen Jahrzehnte genannt. Das serbisches Statistikamt bietet auf seiner Webseite zwar keine Statistiken zur Emigration, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veröffentlichte aber 2018 eine Schätzung, die besagt, dass im Zeitraum von 2012 bis 2016 etwa 245.000 Serben ausgewandert seien, also durchschnittlich 49.000 Menschen im Jahr. Über die Hälfte sei nach Deutschland ausgewandert, 17 Prozent nach Österreich. An dritter Stelle unter den Zielländern ist Slowenien. In der Studie wird allerdings betont, dass die genannten Angaben nicht nur dauerhafte Auswanderung, sondern auch sogenannte temporäre Arbeitsmigration, unternehmensinterne Migration sowie saisonale (meistens geringqualifizierte) Arbeitskräfte und Studierende im Ausland umfassen. Vor diesem Hintergrund muss man laut der Studie bei der Berechnung der Auswanderungszahlen diejenigen Menschen berücksichtigen, die nach einem temporären Aufenthalt im Ausland nach Serbien zurückkehrten. Laut Angaben der OECD  waren dies im jährlichen Durchschnitt der Periode 2012-2016 33.300 Personen.

Ein großer Teil der serbischen Auswanderer sind gut ausgebildete Personen im mittleren Alter, die in der Emigration eine Chance für ihren beruflichen Aufstieg und die finanzielle Absicherung ihrer Familien sehen, andererseits wandern auch viele geringqualifizierte Kräfte nach Westeuropa aus – für beide Gruppen ist Deutschland nach wie vor am attraktivsten. In den vergangenen Jahren wurde eine immer intensivere Migration der jüngeren Bevölkerung aus Serbien, hauptsächlich Richtung Westeuropa verzeichnet. Die Ergebnisse diverser Befragungen in Serbien enthalten düstere Prognosen laut denen immer mehr junge Menschen den eindeutigen Wunsch äußern, das Land so bald wie möglich zu verlassen, ohne dabei einen Plan für eine spätere Rückkehr zu haben.

Nach einer Studie des Think Tanks Srbija 21 will rund ein Fünftel der Bevölkerung das Land auf der Suche nach besser bezahlten Jobs und mehr Wohlstand verlassen, davon befindet sich ein Drittel der Befragten in der Altersgruppe von 18-29 Jahren. Als wichtigste Motive für eine Emigration werden ein höherer Lebensstandard, besser bezahlte Arbeit und die allgemein „schlechte Situation“ im eigenen Land angegeben. Serbien ist zwar der mit sieben Millionen Einwohnern der größte Staat auf dem Westbalkan, war aber infolge der Balkankriege und des Kosovo-Krieges 1999 jahrelang gegenüber dem Westen isoliert und ist mit einem Bruttonationaleinkommen von 5.180 USD pro Einwohner im Jahr 2017 (gegenüber 12.430 USD des Nachbarn und EU-Mitglieds Kroatien) wirtschaftlich relativ schwach geblieben.  Anders als für die Bürger aus Kroatien, Rumänien und Bulgarien, die als EU-Mitglieder von der Arbeitnehmerfreizügigkeit profitieren, ist die Arbeitsaufnahme in Westeuropa für Bürger aus Serbien vergleichsweise schwierig. Medizinisches Pflegepersonal findet aber, zum Beispiel infolge eines entsprechenden Abkommens mit Deutschland, relativ leicht eine Anstellung.

Auswirkungen der Migration und Perspektiven für die Länder Südosteuropas

Die Auswirkungen der innereuropäischen Migration, die in Folge der EU-Osterweiterungen seit 2004 und der daraus resultierenden Arbeitnehmerfreizügigkeit stark angestiegen ist, sind besonders für die weniger entwickelten Neumitglieder im  Südosten Europas äußerst folgenreich, ebenso für die Beitrittskandidaten des Westbalkans wie Serbien. Wenn man bedenkt, dass nach einem Bericht der Sofioter Nachrichtenagentur Novinite 2015 rund 2,5 Millionen Bulgaren im Ausland arbeiteten, aber nur 2,2 Millionen auf dem bulgarischen Arbeitsmarkt aktiv waren, dann

fällt es nicht schwer sich vorzustellen, wie sehr die bulgarische Wirtschaft unter dem Mangel an Fachkräften leidet. Dies dürfte in ähnlichem Maße für die EU-Länder Rumänien und Kroatien gelten, die ebenfalls in den vergangenen Jahren eine starke Abwanderung von Arbeitskräften nach Westeuropa erfuhren. Dadurch wird auch die Innovationsfähigkeit und Produktivität der Wirtschaft eingeschränkt. Die demografische Entwicklung ist ebenfalls infolge der Abwanderungen sowie der sehr niedrigen Geburtenrate in allen untersuchten Ländern deutlich bis dramatisch rückläufig. In Serbien ist sie mit einem jährlichen Bevölkerungsrückgang von 0,3% noch am geringsten.

Ein wichtiger Aspekt ist zudem die Binnenmigration vom Land in die großen Städte. Manche ländliche Gegenden in Bulgarien sind von „Entvölkerung“ bedroht. Die Regierung versucht, Menschen aus Mazedonien, Moldawien und der Ukraine durch erleichterte Einbürgerungsbedingungen anzuwerben und dort anzusiedeln. In Serbien lebt infolge drastischer Landflucht bereits rund die Hälfte der sieben Millionen Einwohner in den fünf Großstädten, während in vielen kleinen Orten oft nur noch wenige Hundert Menschen übrigbleiben. Der Bevölkerungsrückgang sowie der Mangel an Fachkräften hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheits-, Renten- und Bildungssysteme.

Der vielzitierte Braindrain, der Verlust der Hochqualifizierten durch Auswanderung, ist besonders für Länder, die sich in Transformation befinden, sehr nachteilig. Er führt nicht nur zu enormen Schwierigkeiten bei der Erarbeitung und Umsetzung von Reformen sondern auch zu einem langfristigen Mangel an Spezialisten und Fachexperten. Darüber hinaus schadet das Fehlen höher gebildeter Wähler dem Demokratisierungsprozess. Teile der alten Eliten in Politik und Verwaltung werden begünstigt, wenn potenzielle Kritiker und Oppositionelle das Land aus Protest verlassen. Die Abwanderung vieler Wissenschaftler und Studenten aus Südosteuropa an mittel- und westeuropäische Universitäten gefährdet zudem die Qualität der Hochschulen vor Ort. Mittel- und langfristig können sich hier jedoch auch positive Effekte ergeben, wenn es gelingt, zukünftig mehr auf internationalem Niveau bewährte Wissenschaftler zur Rückkehr in die Heimat zu motivieren.

Chancen und Nutzen

Trotz der vielen negativen Auswirkungen der gegenwärtigen innereuropäischen Migration sehen Experten und Wissenschaftler in den entsprechenden Ländern auch damit verbundene Chancen. Vladimir Grecic, Ökonom und Universitätsprofessor in Belgrad, antwortete in einer Interviewreihe des österreichischen Monatsmagazins Kosmo zum Thema: „Wenn die junge Elite das Land verlässt: Serbien“ auf die Frage, ob die Migration auch als Gewinn für Serbien genutzt werden könne, folgendermaßen:

“Bei Emigration aus weniger entwickelten Ländern und Ländern in der Entwicklung hört man meistens Besorgnis wegen des Verlusts der Hochqualifizierten und Facharbeitskräfte, des sogenannten Brain-Drains. Daneben aber sehen einige sich entwickelnde Länder die Emigration als Strategie zur Anregung von Entwicklung, nicht nur wegen der Deviseneinkünfte oder des verminderten Drucks auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch aufgrund von Hinweisen, dass die Diaspora mit finanziellen Investitionen in den Heimatländern und durch den Transfer von Know-How und Fertigkeiten zur Entwicklung beitragen kann.“

Prof. Tado Juric, Politologe und Germanist an der Kroatischen katholischen Hochschule in Zagreb, zeigte sich in seinem in seinem Interview mit Kosmo zur Emigration aus Kroatien etwas skeptischer:

„Migration muss tatsächlich nicht unbedingt Verlust bedeuten und Abwanderung muss nicht als dauerhafter Verlust für den Staat gesehen werden. Zu betonen ist jedoch, dass es in Fällen, in denen es um die endgültige Migration ganzer Familien geht, wie in dem Fall, in dem sich Kroatien (aber auch Bosnien-Herzegowina und Serbien) befindet, keine positiven Auswirkungen auf das Herkunftsland gibt außer dem Einfluss der Abwanderung der jungen unbeschäftigten Bevölkerung auf den Arbeitsmarkt. […] Wie es scheint, ist das einzige was uns übrigbleibt, um die zu kämpfen, die noch nicht abgewandert sind, und zu versuchen, die, die bereits gegangen sind, zu einer zyklischen Migration zu motivieren. Dabei denken wir an das Modell sogenannter transnationaler Räume, nach dem Migranten ein Leben an zwei Orten entwickeln und pflegen. So wird sich ein gewisser Anteil auch in der Heimat auf geschäftliche Unternehmungen einlassen."

In Bulgarien, das eine lange Tradition sowohl mit Aus- wie mit Rückwanderung hat, werden die Veränderungen im Zusammenhang mit der innereuropäischen Migration als Dynamiken angesehen, deren Chancen zu begreifen und entsprechend zu nutzen sind. Dank der gestiegenen Mobilität der Studierenden können deren internationale Erfahrungen in der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kultur Bulgariens zunehmend positiv genutzt werden. Die Rückkehr von Migranten als wertvolles Humankapital stellen zusammen mit Geldüberweisungen der Emigrierten und Arbeitsmarkteffekten die positiven Aspekte der Migration dar. Die Rückkehrer bringen oft viele berufliche Kontakte, erweiterte Sprachkenntnisse und breitere kulturelle Perspektiven mit, die für ihre bulgarischen Arbeitgeber sehr nützlich sein können. Nicht wenige haben Geld angespart und investieren dies in der Heimat. Bulgaren, die gute Qualifikationen im Ausland erworben haben, werden im eigenen Land besonders positiv betrachtet, haben damit vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten und beziehen höhere Gehälter. Ähnliche Chancen sollte es auch für rumänische Migranten geben, zumal die Wirtschaft deutlich wächst, doch eine stark polarisierte politische Landschaft und Korruption haben zu einer innenpolitischen Dauerkrise geführt. Daher kommen die möglichen positiven Aspekte von Aus- und Rückwanderung derzeit in Rumänien weniger zur Geltung.

Perspektiven

Auf die demografische Krise infolge der Abwanderung reagierten die Regierungen in den betroffenen Ländern gelegentlich mit der Aufforderung an die Bevölkerung, mehr Kinder zu bekommen – wie aus den äußerst niedrigen Geburtenraten ersichtlich ist, mit mäßigem Erfolg. Auch eine gezielte Einwanderungspolitik, wie sie Länder in Nordeuropa bis vor kurzem verfolgt haben, kommt aufgrund der ablehnenden Haltung der Bevölkerung Südosteuropas gegenüber Flüchtlingen und Immigranten nicht in Frage, außer bei Immigranten der gleichen Nationalität. Länder wie Kroatien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien haben Personen mit kulturhistorischen Wurzeln in ihren Ländern großzügig die eigene Staatsbürgerschaft verliehen, in der Hoffnung, damit die durch Auswanderung erlittenen Bevölkerungsverluste auszugleichen. Aber dies war selten erfolgreich: Mit Bosnien geschichtlich verbundene Kroaten oder Moldawier, die auch einen rumänischem Pass besitzen, zieht es eher in ein wohlhabendes Land als nach Zagreb oder Bukarest.

Der Politik in den Ländern Südosteuropas ist inzwischen klar geworden, dass nur eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsumstände zumindest einen Teil der an Arbeitsemigration denkenden Bevölkerung zurückhalten kann. Selbst im Beitrittskandidatenland Serbien, wo die von der EU-Kommission kritisierte Wirtschaftspolitik der Regierung Vucic bisher darauf beruhte, durch staatliche Subventionen das Steuer in der Hand und die Regierungspartei an der Macht zu halten, scheint man ernsthaft umzudenken. Inzwischen lobte der IWF die Sparpolitik, die den Finanzhaushalt stabilisiert habe. Doch die Kürzung von Gehältern und Pensionen der Beamten befördert nach Ansicht von Ökonomen weiter die Emigration. Auch mit diesem Thema befasst sich nun die serbische Regierung nach langem Abwarten intensiver. Auf Initiative des Ministers für Arbeit und Soziales, Zoran Djordjevic, wurde Anfang 2019 eine Koordinierungsgruppe für Monitoring wirtschaftlicher Migration gegründet, die sich aus Experten, Universitätsdozenten, Ministern und Vertretern des Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbandes zusammensetzt und als Hauptaufgabe die Ermittlung der Ursachen der immer intensiveren Auswanderung von Jugendlichen aus Serbien sowie die Formulierung von Vorschlägen gegen diese Entwicklungen hat.

In Kroatien ist man da schon bedeutend weiter. Die Studie „Migration Trends in Croatia“ kommt zu dem Schluss, dass aufgrund der engen Verbundenheit der kroatischen Diaspora mit dem Heimatland die Chance besteht, zukünftig noch viel mehr Rückkehrer zu gewinnen, was einen sehr positiven Effekt auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung haben könne. Dafür müsse aber ein Programm für Remigration erstellt werden, das administrative Hindernisse minimiert, geeignete Unterkünfte anbietet und besonders für Hochqualifizierte zeitbegrenzte Steuererleichterungen beinhaltet. Durch mehr Rückwanderung würde auch die Diaspora dazu motiviert, ihre Investitionen in Kroatien auszubauen. Aufgrund der gegenwärtig aber noch wenig konkurrenzfähigen Wirtschaft und der geringen eigenen Ressourcen empfehlen die Autoren dem Land, sich mit geeigneten Partnern auf regionaler, europäischer und internationaler Ebene zusammenzutun, um koordiniert eine nachhaltige zielorientierte Migrationspolitik in Schwung zu bringen.

In Bulgarien gibt es seit 2018 gewisse Anzeichen dafür, dass die Emigrationsrate wieder sinkt und das Land attraktiv wird für heimkehrende Ingenieure und IT-Experten, die durchschnittlich zehn Jahre im Ausland gearbeitet haben. In der Serie „Die Heimkehrer“ des privaten Senders Bulgaria on Air werden in seriöser Weise Bulgaren jeden Alters vorgestellt, die zurückgekehrt sind, um in ihrer Heimat zu investieren: Ärzte und Künstler, Gründer im IT- und Craft-Beer-Sektor. TV-Moderatorin Petya Kertikowa sagt dazu:

„Die Menschen, die zurückkehren, sind unglaublich wichtig für Bulgarien, sie haben andere Erfahrungen und eine neue Perspektive, die die Wirtschaft verändert und unser Land vorwärtstreiben kann“.

Um Migration weiter einzudämmen und Auslandsbulgaren zurückzugewinnen, muss sich aber die politische, wirtschaftliche und soziale Lage im Land spürbar verbessern. Mehr junge engagierte Bulgaren in der öffentlichen Verwaltung und den Institutionen könnte das Vertrauen der Jugend in den Staat stärken. Ferner wird von vielen engagierten zivilgesellschaftlichen Akteuren gewünscht, dass Politik und Verwaltung mehr Bereitschaft zu Dialog zeigen und sich besser koordinieren. Damit könnte ebenfalls wertvolles Vertrauen aufgebaut werden.

Am schwierigsten ist es derzeit, die Perspektiven für Rumänien im Zusammenhang mit Migration darzustellen, solange keine politische Stabilität herrscht oder zumindest absehbar ist. Besonders anschaulich drückt ein Artikel des deutschen Schriftstellers und Journalisten Matthias Greffrath, erschienen in Le Monde diplomatique zu Beginn der rumänischen EU-Ratspräsidentschaft am 10.01.2019, die Stimmung in dem Land aus:

„Das Land ist auf der Kippe. Es ist noch nicht entschieden, was aus Rumänien wird, aus seiner Demokratie, aus seinen Bauern. Ob die Wanderung in die Wohlstandszonen Westeuropas das Land ausbluten, ob die nächste Wirtschaftskrise die autoritären Kleptokraten verführen wird, mit nationalistischer Rhetorik milden Faschismus zu installieren. Oder ob es doch noch gelingt, einen Plan B zu entwickeln. Es wird davon abhängen, ob genug Barsans und Bogdans und Ingenieure und Ärzte dableiben, oder NGOs wie ‚Leben geben‘, die in drei Wochen vier Millionen Euro gesammelt hat und eine Klinik für krebskranke Kinder baut. Aufgeklärte Bürger, die staatliche Strukturen schaffen in einem Land, das jetzt in einem merkwürdigen Nebeneinander verharrt: von Wachstumsregionen, die als Automobilzulieferer, Hightech-Dienstleister oder Agrarrohstofflieferanten doch abhängig von den westeuropäischen Wertschöpfungsketten bleiben – jedenfalls, solange die Löhne immer noch ein Sechstel der deutschen betragen; von immer noch kaum berührter Wildnis, in die Holzmultis und der Tourismus neue Schneisen schlagen, und von gut ausgebildeten Fachkräften und Ingenieuren, die aber auswandern wollen.“

Der Autor bedankt sich für die wertvolle Unterstützung durch die Leiterin des HSS-Projekt-büros in Belgrad, Dagmar Konstantinovic, den Projektleiter Rumänien, Daniel Seiberling, den Büroleiter in Sofia, Bogdan Mirtchev, sowie den Büroassistenten in Zagreb, Nikola Djuricic.

Südosteuropa
Armin Höller
Leiter