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Interview mit Regisseur Josef Pröll
Die Stille schreit

In seinem ergreifenden Dokumentarfilm zeigt Regisseur Josef Pröll am Beispiel der Augsburger Familie Oberdorfer, wie brutal das Nazi-Regime Juden verfolgte, missbrauchte und schließlich ermordete. Mit seinem Werk, das er im Konferenzzentrum der Hanns-Seidel-Stiftung zeigte, kämpft Pröll gegen das Vergessen und den sich wieder in Deutschland ausbreitenden Antisemitismus.

In rasanter Geschwindigkeit macht sich ein Virus breit. Es ist ein alter Bekannter, teilweise in neuem Gewand. Es ist das Virus des Antisemitismus. Ausgerechnet bei uns, im Land der Schoah. Es attackiert zentrale Pfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Es gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es ist ein Lackmustest für unsere offene Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zu sicher geworden ist, dass Hass gegenüber Jüdinnen und Juden nach den unfassbaren Gräueltaten in der Zeit des Nationalsozialismus unmöglich geworden sei.

Dieses Bild zeigt die Maximilianstraße in Augsburg, bevor Jakob Oberdorfer seine Firma und sein Haus zwangsverkaufen musste. Das Aufnahmedatum ist unbekannt. Der Schriftzug "Jacob Oberdorfer" (Mitte unten) wird bald durch Namen der neuen Besitzerin ersetzt: Wilhelmine Hoffmann.

©Pröll

Um diesen Hass geht es auch in dem Dokumentarfilm „Die Stille schreit“ (2018), den der Regisseur Josef Pröll unter Mitarbeit von Miriam Friedmann in vierjähriger Arbeit gedreht hat. Am 5. Oktober hat ihn die Hanns-Seidel-Stiftung in Corona-bedingt kleiner Runde gezeigt und anschließend mit dem Regisseur sowie der Altstipendiatin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland Diana Goldberg und Dr. Robert Sigel aus dem Büro des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus diskutiert.

Die deutsche Lebenslüge 

Der Film zeigt anhand des Schicksals der Augsburger Familie Oberdorfer faktenreich und nüchtern – und gerade deshalb so eindrücklich – , mit welchen Methoden und wie brutal das Nazi-Regime und seine Mitläufer Juden zunächst verunsicherte, dann verfolgte und schließlich missbrauchte und ermordete. Die Dokumentation geht allerdings über das Kriegsende 1945 hinaus und entlarvt dabei nachdrücklich „die größte Lebenslüge der Bundesrepublik“ (Samuel Salzborn), wir hätten die Nazizeit im Allgemeinen und die Schoah im Besonderen umgehend und dauerhaft erfolgreich aufgearbeitet.

Dieser Aspekt leitet nahtlos zur aktuellen Situation in Deutschland über, die uns mit einem wieder verfestigten Antisemitismus in Teilen unserer Bevölkerung konfrontiert. „Man merkt“, so brachte es Diana Goldberg in der Diskussion auf den Punkt, „der Antisemitismus war nie weg. Jetzt kommt er wieder an die Oberfläche.“ Und Dr. Robert Sigel ergänzte: „Wir sind uns zu sicher geworden, dass wir alles gut untersucht und damit aus der Welt geschafft haben.“ Heute begegnet uns der Antisemitismus verschleiert in Aussagen über Corona-Weltverschwörungen, in Israelkritik verpackt, in Relativierungen des Holocaust, aber auch offen in Gestalt rechtsextremer oder muslimischer Judenfeindschaft. Damit einher gehen zunehmende Fallzahlen antisemitisch motivierter Straf- und Gewalttaten.

Nicht nur die feine Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen verschiebt sich. Auch die Wege vom Sagbaren zum Machbaren sind (wieder) kürzer geworden.

Gerade der letzte Punkt verlieh der Diskussionsrunde in der Hanns-Seidel-Stiftung höchste Aktualität. Hatte doch am Vortag ein militärisch gekleideter Angreifer einem jüdischen Studenten mit einem Spaten eine schwere Kopfverletzung zugefügt – vor der Hamburger Synagoge Hohe Weide, an einem der Feiertage des jüdischen Laubhüttenfestes, fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem versuchten Anschlag auf die jüdische Gemeinde in Halle – aus Judenhass.

Die Hanns-Seidel-Stiftung wird sich der Herausforderung des Antisemitismus künftig noch stärker widmen und ihre Aktivitäten dagegen in ihrem Kompetenzzentrum Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Interkultureller Dialog bündeln. Vor diesem Hintergrund hatte sie auch zu dem Film- und Diskussionsabend „Die Stille schreit“ eingeladen.

Ein freundlich lächelnder älterer Herr mit kurzem weißem Bart und Brille.

"Ich will zeigen, wie weit Hass gehen kann, wenn eine ganze Gesellschaft mitmacht. Ich will Geschichte vermitteln, um über die Gegenwart zu diskutieren. Gedenken alleine reicht mir nicht." (Josef Pröll)

©Pröll

HSS: Herr Pröll, was hat Sie dazu bewogen, diesen Film zu drehen?

Josef Pröll: Mir war es wichtig, die Namen der verfolgten Menschen wieder in ihre Heimatstadt zurückzubringen. Die Gebäude zu zeigen, an denen wir heute vorbeigehen, die ihnen gehörten, in denen sie viele Jahrzehnte wohnten oder ihre Betriebe hatten. Sie waren Nachbarn, Freunde, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Viele von ihnen waren weit über die Grenzen ihrer Stadt hinaus bekannt. Mit fast schleichendem Selbstverständnis wurden sie zu Feinden. Ihre systematische Ausgrenzung aus der Gesellschaft war perfide geplant. Viele von Ihnen wurden ermordet. Ich will zeigen, wie weit Hass gehen kann, wenn eine ganze Gesellschaft mitmacht. Ich will Geschichte vermitteln, um über die Gegenwart zu diskutieren. Gedenken alleine reicht mir nicht.

HSS: Was ist das zentrale Motiv des Films und gibt es eine Szene, die dieses besonders auf den Punkt bringt?

Der Film vermittelt viele unterschiedliche Biografien und Eindrücke. Aber was bleibt, ist die fürchterliche Erkenntnis, dass der Weg der Juden aus Ihrer Stadt direkt in die Vernichtung führt. Bürokratisch geplant, von langer Hand vorbereitet. Nichts war dem Zufall überlassen. Die Fahrkarte in die Vernichtung „einfach Auschwitz“ mussten sie selber bezahlen. Der „Aufruf zum Evakuierungstransport“ der Geheimen Staatspolizei der NSDAP gehört zu den wichtigsten Szenen im Film. Er wird teilweise von einem Schauspieler wörtlich verlesen und u. a. mit Bildern Tausender Brillen und Schuhe des Vernichtungslagers Auschwitz unterstrichen. Der Weg in den Tod gehörte von Anfang an zum Menschenverachtenden Programm des Naziregimes.

HSS: Wie ist es zu dem außergewöhnlichen Namen „Die Stille schreit“ gekommen?

Frau Miriam Friedmann, um deren Familiengeschichte es geht, hat maßgeblich am Film mitgearbeitet. Von ihr kommt auch die Idee des Filmtitels. Sie stellt keine materiellen Ansprüche an die späteren Besitzer. Aber wenn sie durch Augsburg läuft und an den verschiedenen Immobilien vorbeigeht, die ihrer Familie einmal gehörten, „schreit sie die Stille an“. Eine Stille des Schweigens der tatsächlichen Geschichten dahinter. Dabei geht es auch um ermordete oder in den Tod getriebene Familienmitglieder.

HSS: Sollte die Frage der Eigentumsrechte von Enteignung Betroffener, die ja auch in Ihrem Film eine Rolle spielt, generell noch einmal aufgerollt werden, oder ist diese Frage inzwischen aus Ihrer Sicht befriedigend geklärt?

Es gab in der Nachkriegszeit die sogenannte „Wiedergutmachung“. Das Thema ist so komplex, dass wir es in unserer Dokumentation bewusst ausgeblendet haben. Um die Geschichte der beiden Familien Oberdorfer und Friedmann nach 1945 darzustellen, wäre ein weiterer Film notwendig.

Aber in Kürze: Mord kann man nicht „wieder gut machen“. Wenn überhaupt, wurden ungefähr nur 10 bis 30 Prozent der gestohlenen tatsächlichen Werte an die jüdischen Besitzer, Hinterbliebenen oder Nachkommen „rückerstattet“. Dabei mussten die Überlebenden oder Angehörigen, die meist nicht mehr in Deutschland lebten, ihren früheren Besitz gegenüber den deutschen Behörden nachweisen. Wenn Menschen fliehen, vor allem wenn es „nur noch“ ums Überleben geht, werden sie aber keine Akten und Papiere mitnehmen. Die vielen Dokumente, die wir eingesehen haben, sind eher beleidigend für die Betroffenen. Aus meiner Sicht ist also nichts befriedigend geklärt. Für neue Verfahren ist es zu spät. Es wäre schön, wenn dafür an den Orten, von z. B. „arisierten“ Besitzes, Gedenktafeln an die wahre Geschichte erinnern würden.

HSS: Gibt es ein Ereignis, das Sie beim Drehen des Films besonders berührt hat?

Als ich durch Holland fuhr, um die Geschichte der geflohenen Mitglieder der Familie Friedmann zu verfolgen, suchte ich das Denkmal von sechs ermordeten Verfolgten. Sie wurden in einem Park in der Nähe des Ortes Zwolle erschossen und mussten ihr Grab selber ausheben. Darunter waren auch die beiden Familienmitglieder aus Augsburg. Das Denkmal liegt etwas abseits und ist schwer zu finden. Also fragte ich eine Frau, die durch den Park lief. „Natürlich kann ich ihnen das Denkmal zeigen, den Ort kennt bei uns jedes Kind. Die Schülerinnen und Schüler kommen jedes Jahr hierher“. Das hat mich tief beeindruckt.

[https://www.diestilleschreit.de/die-stille-schreit/pr%C3%B6ll-josef/]

Josef Pröll ist Techniker und Anwendungsprogrammierer von Beruf. Durch seine intensive theoretische- und praktische Auseinandersetzung mit dem Medium Film war er schon 1980 ein anerkannter Filmemacher und Fotograf. Für seinen ersten, abendfüllenden Kino-Dokumentarfilm wurde er 1985 in der Augsburger Kongresshalle mit dem Otto-Brenner-Kulturpreis ausgezeichnet.

Es folgten sozialkritische Dokumentarfilme und filmische Lebensbiografien. Auch zu den Entwicklungen des Rechtsextremismus in Deutschland. Sein Film „Anna ich hab Angst um dich“ ( hier gehts zum Film ) war der letzte abendfüllende Dokumentarfilm, der in verschiedenen Ländern Europas gezeigt wurde und viele Diskussionen auslöste. Josef ist seit vielen Jahren Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm in Deutschland und Mitglied der Deutschen Journalistenunion.

1970 engagierte sich Josef Pröll für den Erhalt der jüdischen Friedhöfe in Kaufering und die Aufarbeitung der Geschichte der KZ-Außenlager in Kaufering. Er engagierte sich im Kreisjugendausschuss des DGB und arbeitete im Vorstand des Augsburger Stadtjugendringes mit. Josef hat an vielen Zeitzeugenprojekten mitgewirkt und ist bis heute in der Jugend- und Erwachsenenbildung aktiv. Mitte der 1970ger Jahre bis 1985 arbeitete er maßgeblich am Erhalt der Erinnerungen von 32 Verfolgten, unterschiedlicher Opfergruppen des NS-Regimes im Raum Schwaben/Augsburg. Besonders intensiv waren seine Auseinandersetzung mit Überlebenden der Konzentrationslager und den daraus resultierenden psychischen Folgen für die Verfolgten und deren Nachfolgegenerationen. Mehr als 25 Jahre war er im Präsidium der Lagergemeinschaft Dachau aktiv und hat zuletzt, zusammen mit Max Mannheimer, im Comité Int. De Dachau die Nachfolgegeneration der ehemaligen deutschen KZ-Häftlinge vertreten. Gedenkstättenarbeit und die Tradierung dieser Erfahrungen von damals in die heutige Zeit sind für ihn wichtige Anliegen um auch die gegenwärtige politische Situation besser erklärbar und erfahrbar zu machen.

Mit seinen Filmen möchte er Menschen sensibilisieren. 
Josef Pröll ist zertifizierter Referent der KZ-Gedenkstätte Dachau und Ansprechpartner für gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Er ist im Vorstand des „Fördervereins für Int. Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit e.V.“ aktiv und Botschafter des Landratsamtes Augsburg für den Landkreis Augsburg, Botschafter der Aktion „Respekt“ der IG Metall und im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ (Bundesfamilienministerium) Mitglied des Augsburger Begleitausschusses. Seit vielen Jahrzehnten hat er seine Arbeit der Erinnerungskultur und der Jugendarbeit verschrieben, er initiierte und organisierte Projekte und Workshops der Filmarbeit, und leitete Exkursionen in die Gedenkstätten Dachau, Auschwitz und Buchenwald.
Seine intensive Auseinandersetzung mit den Augsburger Familien Oberdorfer, Friedmann und Schnell sowie mit dem Thema „Arisierung“ im Zusammenhang mit dem neuen Film „Die Stille schreit“® waren für ihn neu und zutiefst ergreifend.

HSS: Wie beurteilen Sie den sich erneut ausbreitenden Antisemitismus in Deutschland?

Jeder Angriff gegen Juden, in welcher Form auch immer, ist ein Angriff auf unsere Gesellschaft und auf unsere Demokratie. Antisemitismus hat nie aufgehört zu existieren. Vor allem rechtsextreme Organisationen und Parteien nutzen ihren Einfluss auch über moderne Medien, um erneut Hass zu verbreiten. Noch nie war unsere Demokratie so gefährdet nach 1945. Wir als Gesellschaft werden letztendlich bestimmen, ob Menschen jüdischen Glaubens in Angst leben müssen. Jeder Einzelne ist aufgerufen, Zivilcourage zu zeigen und aufzustehen für den Zusammenhalt und eine friedliche Zukunft in unserem Land.

HSS: Welchen konkreten Beitrag kann ein Film wie „Die Stille schreit“ im Kampf gegen den Antisemitismus heute leisten?

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus steht nach jeder Filmveranstaltung im Raum. Die Diskussion, wie wir als einzelne Bürgerinnen und Bürger, aber auch als demokratische Gesellschaft insgesamt verhindern können, dass sich die Geschichte wiederholt, ist den Anwesenden ein Bedürfnis. Wir haben Rückmeldungen von Zuschauerinnen und Zuschauern, die uns berichten, dass sie der Film, nachdem sie ihn gesehen hatten, noch tagelang beschäftigte.

HSS: Herr Pröll, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Politische Grundlagen, Demokratie und Werte
Michael Hahn
Leiter