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Situation der Christen in der Region Kurdistan-Irak
Nach Niniveh

Autor: Dr. Philipp W. Hildmann

Obwohl die Truppen des IS zurückgeschlagen werden konnten, liegt ein Land in Trümmern. In von Kämpfen zerstörten Städten und Dörfern kehrt so etwas wie fragiler Alltag ein. Wie gehen die Christen der Region mit der neuen Situation um? Eine Reportage.

„Wenn die Christen beim Vergeben scheitern, wie sollten es dann die Jesiden oder Muslime meistern?“ Mit blitzenden Augen steht Rebekha, eine junge Amerikanerin von „World Vision“, vor der großen Landkarte in ihrem Büro in Erbil. Verzeichnet sind darauf die zahlreichen Projekte der christlichen Hilfsorganisation in der Region Kurdistan-Irak.

Ein Kreuz hängt von dem Rückspiegel eines Autos, das auf den Checkpoint zufährt.

Hinter diesem Checkpoint, 20 Kilometer vor Mossul, herrschte über zwei Jahre lang das Terrorregime des IS-Kalifats.

P.Hildmann; HSS

Vertrieben, verschleppt, verschollen

Wie die Sintflut waren die Todesschwadrone der Terrormiliz „Islamischer Staat“ 2014 über diese Weltgegend hereingebrochen und hatten unvorstellbare Gräueltaten an all denjenigen verübt, die nicht bereit waren, sich ihrer radikalen Auslegung des Islam zu beugen. Für Angehörige der uralten Glaubensgemeinschaft der Jesiden, deren Wurzeln hinter das 12. Jahrhundert zurückreichen, gab es als vermeintliche Teufelsanbeter grundsätzlich kein Pardon. In wenigen Wochen fielen den Islamisten über 5.000 Männer und Jungen zum Opfer.

Über 400.000 Jesiden wurden aus ihrer Heimat vertrieben, mehr als 7.000 ihrer Frauen und Kinder wurden verschleppt und sind zum Teil bis heute verschollen. Auch den Christen, deren Wurzeln hier, in der Niniveh-Ebene, bis in das 3. Jahrhundert zurückreichen, erging es wenig besser. Mit grüner Farbe wurden ihre Häuser systematisch von muslimischen Nachbarn für die heranrückenden IS-Milizen markiert. Die Zeichen besagten: „Hier wohnen Christen. Plündern und Vergewaltigen erwünscht.“ Wer fliehen konnte, der floh. Wer es nicht schaffte, erlitt genau dieses Schicksal und wurde nicht selten ermordet. Von den knapp 60.000 Einwohnern al-Hamdaniyas, der einstmals größten christlichen Stadt des Landes, überlebten gerade einmal 80 Christen die IS-Besatzung in der Stadt. Der Rest war geflohen oder ermordet.

In der wiedererrichteten Kirche von Bashiqa: Die Einschusslöcher der IS-Milizen in einer Gedenktafel sind zum Andenken für die Nachwelt belassen worden.

P.Hildmann; HSS

Nach der Rückeroberung Ende 2016 glichen die Straßen und Häuser einem Trümmerfeld. So präsentieren sich uns noch immer die meisten Orte in der Niniveh-Ebene, die wir im Oktober 2018 mit einer kleinen Delegation besuchen – auf der Suche nach den verbliebenen Christen im Nordirak. Es ist eine Reise durch eine menschengemachte Mondlandschaft. Minenfelder. Schützengräben. Check Points. Bis zu 80 Prozent der Infrastruktur ist immer noch zerstört. Als ob der Prophet Jona die Menschen von Niniveh nach seiner Rettung durch den großen Fisch damals nicht zur Umkehr bewogen hätte. Und doch beginnt das Leben in den Ruinen wieder zu blühen.
In Bashiqa etwa, einer kleinen Stadt nahe Mossul, haben die dortigen Christen ihre verwüstete Kirche selbst wieder aufgebaut. Bruder Daniel zeigt uns die zahlreichen Einschusslöcher über seinem Altarraum, in den Kreuzornamenten und Gedenktafeln, die man zur Erinnerung für und Mahnung an die Nachkommenden belassen habe, wie er erklärt. Obwohl der IS die Olivenhaine rund um den Ort abgebrannt habe, um die Lebensgrundlage der Menschen dauerhaft zu zerstören, seien bis heute schon zwei Drittel der Familien wieder zurückgekehrt. Das Zusammenleben von Christen, Jesiden und Muslimen sei allerdings extrem schwierig geworden. Nach dem Erlebten sei es nahezu unmöglich, neues Vertrauen aufzubauen.

Vom Ruß völlig bedeckte Decke einer einst prächtigen Kirche.

Das ausgebrannte Schiff der Kirche von al-Hamdaniya, bei uns eher bekannt unter dem Namen Karakosch.

P.Hildmann; HSS

Rückkehr in eine zerstörte Stadt

Diese Gedanken begegnen uns auch einige Kilometer weiter in al-Hamdaniya. Wir stehen in der ausgebrannten Kirche Al-Tahira Al-Kubra, deren Bilder um die Welt gingen und traurige Berühmtheit erlangt haben. Die Innenwände ragen noch immer schwarz verrußt in die Höhe. Sie sind von Einschusslöchern übersäht. Aber auch hier haben Renovierungsarbeiten begonnen. Hammerschläge hallen durch das Kirchenschiff. Am Altar leuchtet ein frisch geputztes Tabernakel fast unwirklich aus der umliegenden Asche.

Nach der Befreiung im Oktober 2016 sind inzwischen rund 21.000 Flüchtlinge wieder in ihre zerstörte Stadt zurückgekehrt. Der physische Wiederaufbau hat begonnen. Aber auch hier liegen die Wunden tiefer. Bruder Amar empfängt uns im angrenzenden Bischofssitz. Wie tief die Zäsur der IS-Herrschaft ist, verdeutlicht er uns am Beispiel seines Vaters. Dieser habe sein Leben lang als Lehrer in den überwiegend muslimischen Dörfern gearbeitet. Ab 2014 habe er erleben müssen, dass seine eigenen Schüler sich zunehmend gegen ihn, den christlichen Lehrer, gewandt und einige von ihnen sogar Führungspositionen bei der IS-Terrormiliz übernommen hätten. Hier wie andernorts ist es die offensichtlich mangelnde Bereitschaft der Muslime, sich zu begangenem oder zugelassenem Unrecht zu bekennen, was einen Aussöhnungsprozess in den Augen der Christen massiv behindert.

„Es wird viel Zeit brauchen“, meint Bruder Amar mit einem tiefen Seufzer, „diese Probleme zu lösen.“

Info:

Philipp Hildmann, Experte für interreligiösen Dialog und zuständig für Strategieentwicklung bei der Hanns-Seidel-Stiftung, ist im Oktober 2018 in die Region Kurdistan-Irak gereist, um sich unter anderem ein Bild von der Situation der Christen vor Ort zu machen, und um den Kaldäischen Patriarchen Louis Sako ausfindig zu machen und ihn für die Teilnahme an einer Veranstaltung der HSS im Rahmen der 55. Münchener Sicherheitskonferenz zu gewinnen. Sako ist mittlerweile in Rom zum Kardinal ernannt worden und heißt jetzt Louis Raphaël I. Kardinal Sako. Mit dabei waren außerdem zwei Vertreter der ojcos-Stiftung, die Hilfsprojekte in der Region betreiben.

Junger Mann mit Zuckerspritze an einem Tisch voller Törtchen.

Ein süßes Zeichen der Hoffnung nach dem Ende der IS-Besatzung: Der Zuckerbäcker von al-Hamdaniya geht wieder an die Arbeit.

P.Hildmann; HSS

Bedrückt brechen wir auf. Halten in der Ruinenstadt aber noch beim Zuckerbäcker von al-Hamdaniya. Früher hat er zahllose Torten gebacken für alle christlichen Feste in dieser pulsierenden Stadt. Dann hat der IS bei seinem Einmarsch alles zerstört. Jetzt bäckt er wieder. In einem kleinen, provisorischen Hinterhofladen. Kekse und Torten türmen sich. Taufen, Hochzeiten, man sieht die Aufschriften auf den liebevoll gestalteten Süßwaren. Der Zuckerbäcker von al-Hamdaniya. Ein süßes Zeichen der Hoffnung. 

In der Stadt Dohuk außerhalb der zerstörten Gebiete treffen wir den Direktor der christlichen Hilfsorganisation CAPNI, Emanuel Youkhana. Unterstützt von unserer bayerischen Landeskirche organisiert er Programme zum Wiederaufbau zerstörter Dörfer, Existenzgründungen, Gesundheitsprojekte und vieles mehr. Ein beeindruckender Fels der Zuversicht. Auch wenn die Zahl der Christen in den letzten Jahren auf nur noch drei Prozent der Gesamtbevölkerung zurückgegangen sei, meint er, seien gerade die Christen für den Irak von immenser Bedeutung. Das Christentum existiere hier seit fast 2000 Jahren und habe in dieser ganzen Zeit einen gesellschaftlichen Mehrwert geliefert. In Zukunft würden wir Christen nun noch mehr gebraucht. „Während viele andere Mauern bauen, kann die Kirche Brücken bauen. Während viele Hass predigen, kann die Kirche Frieden und Liebe predigen.“ Trotz ihrer geringen Zahl müssten die Christen in der Gesellschaft deshalb wieder präsenter werden. Vor dem Krieg hätten sie die besten Schulen und die besten Krankenhäuser angeboten – und zwar für alle, nicht nur für Christen. Diese Institutionen müssten nun wiederaufgebaut werden. „Wir haben viel zu tun und viel zu geben. Wir sind Kinder der Hoffnung!“ Wenn es nach ihm geht, so unser starker Eindruck, werden die Christen beim Vergeben letztlich doch nicht scheitern, sondern ein Zeichen für die Jesiden und Muslime werden.

Man möchte es den geschundenen Menschen in der Niniveh-Ebene und im Rest des Landes auf ihrem Weg in eine gemeinsame, in eine versöhnte Zukunft von Herzen wünschen.