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Krise des Libanon
„Wir sind jetzt wirklich in der Hölle“

Der Libanon im Zusammenbruch - intensive Bemühungen des Papstes und libanesischer Kirchenführer, das Land als Friedensmodell im Nahen Osten zu erhalten.

  • Vorzeigeklinik jetzt im Notbetrieb
  • Korrupte politische Klasse trieb das Land in den Ruin
  • Neue Entwicklungen
  • Bemühungen der Kirchen, die Krise zu entschärfen
  • Ökumenisches Kirchentreffen in Rom
  • Auch die Armee in Not
  • Internationale Auswirkungen der Chaos-Lage
  • Der Iran im Libanon

Firass Abiad ist der Generaldirektor der Rafik Hariri Universitätsklinik in Beirut. Einst das führende Krankenhaus des Landes, läuft es inzwischen nur noch im Notbetrieb – eine Folge der schwersten Versorgungskrise in der Geschichte des Landes.

Zelte auf einer Straße in Beitrut. Wimpel und Spruchbänder, auf einem steht "home".

Allein durch die Explosion von knapp 3000 Tonnen Ammoniumnitrats in einer Lagerhalle am Hafen von Beirut im August 2020 wurden 300.000 Menschen obdachlos. Über die Hälfte der Bevölkerung des Libanon lebt inzwischen unterhalb der Armutsgrenze.

Erich Karnberger; ©HSS; IStock

Vorzeigeklinik jetzt im Notbetrieb

Abiad musste am 28. Juni 2021 anordnen, die Klimaanlagen trotz der Sommerhitze nur noch im Operations- und medizinischen Untersuchungsbereich laufen zu lassen. Die Stromabschaltungen des staatlichen Elektrizitätsversorgers dauern inzwischen bis zu 22 Stunden am Tag. „Wir haben keinen Treibstoff für unsere Stromgeneratoren und selbst, wenn wir welchen auftreiben könnten, haben wir kein Geld, ihn zu bezahlen. Wir sind jetzt wirklich in der Hölle,“ schrieb der Klinikdirektor auf Twitter. Chirurgische Eingriffe können wegen Medikamenten- und Materialmangel nur noch in Notfällen erfolgen. Abiad kämpft auch mit der Abwanderung von Ärzten und Pflegepersonal, die ihr Glück im Ausland suchen.

In der schweren Krisenlage dieses Krankenhauses sieht man im Kleinen, die dramatische Not des ganzen Libanon im Frühsommer 2021.

Korrupte politische Klasse trieb das Land in den Ruin

Eine für deutsche Begriffe unvorstellbar korrupte politische Klasse, eingebunden in das System des politischen Konfessionalismus, das die Machtverteilung entlang konfessioneller Linien vorsieht, hat das Land nach dem Bürgerkrieg 1975-1990 in den Ruin getrieben. Die Überschuldung des Libanon hatte während der Währungskrise im Herbst 2019 zum wirtschaftlichen und sozialen Kollaps geführt. Die gewaltige Hafenexplosion am 4. August 2020 verwüstete zahlreiche Stadtviertel, machte 300.000 Beiruter obdachlos und schuf neues Elend.

Das libanesische Pfund ist stark unter Druck, Benzinpreise stiegen um 30 Prozent, an Tankstellen kommt es zu Gewalt. Landesweit werden Hauptstraßen mit brennenden Autoreifen blockiert.

bogdanserban; ©HSS; IStock

Über die Hälfte der Bevölkerung lebt inzwischen unter der Armutsgrenze und ist auf Hilfe von Verwandten aus dem Ausland und Suppenküchen von Hilfsorganisationen angewiesen. Wichtige Medikamente fehlen inzwischen in vielen Apotheken; auch hier wirkt sich der Devisenmangel aus. Die internationale humanitäre Nothilfe konnte zwar bisher Hungertote im Land verhindern, wirksame Maßnahmen der libanesischen Politik selber sind bislang allerdings ausgeblieben. Seit 10. August 2020 ist der Libanon ohne eine reguläre Regierung. Endlose Machtspielereien verhindern bis heute, dass der designierte Ministerpräsident Saad Hariri ein neues und handlungsfähiges Kabinett bilden kann.

Die Hisbollah, schiitische Miliz und politische Partei, militärisch hoch gerüstet und verlängerter Arm des Iran, wird im Libanon immer stärker kritisiert. Gegen ihren Willen sind allerdings keine politischen Entscheidungen möglich, auch keine Regierungsbildung.

Wut und Verzweiflung prägen den Kampf vieler Libanesen um das tägliche Überleben.

Neue Entwicklungen

Die geschäftsführende Regierung hat am 25. Juni 2021 einen Notkredit der längst klammen Nationalbank beschlossen. Mit dem Geld soll wieder Treibstoff ins Land kommen. Nicht nur für die Tankstellen, sondern auch, um zu verhindern, dass das Stromnetz vollständig abgeschaltet werden muss. Ob der Beschluss zügig umgesetzt werden kann, ist derzeit noch offen.

Eine weitere Abwertung des libanesischen Pfundes am Samstag, 26. Juni 2021, hat die Preise weiter steigen lassen, was unverzüglich zu Straßenprotesten empörter Bürger führte. Viele Hauptstraßen wurden landesweit mit brennenden Autoreifen blockiert. Polizei und Militär versuchte weitere Eskalationen zu verhindern. Am Dienstag, 29. Juni 2021, sind die Benzinpreise um rund 30 Prozent gestiegen, weil die staatliche Subventionierung zurückgefahren werden musste. Gewaltszenen an den Tankstellen häufen sich seitdem, was immer mehr Betreiber dazu veranlasst, zu schließen.

Libanesische Fischer und Bootsbesitzer haben ein Geschäft daraus gemacht, Flüchtlinge und Migranten von der Nordküste des Libanon aus nach Zypern überzusetzen. Von Tripoli bis nach Larnaca sind es etwa 180 km.

PeterHermesFurian; ©HSS; IStock

Bemühungen der Kirchen, die Krise zu entschärfen

Zu den wenigen verbliebenen moralischen Autoritäten im Land gehört Patriarch Bechara Boutros al-Rahi (auch al-Rai), geistliches Oberhaupt der größten christlichen Religionsgemeinschaft im Libanon, der Maroniten. Von den etwa eineinhalb Millionen Christen im Land gehören eine Million der maronitischen Kirche an. Die frühe Abspaltung von der syrisch-orthodoxen Kirche ist seit 1445 offiziell mit Rom in einer Kirchenunion verbunden. Wegen dieser zahlenmäßigen Stärke sind sie fest in das konfessionalistische Machtteilungssystem eingebunden. So muss der Staatspräsident nach der Verfassung maronitischer Christ sein.

Patriarch al-Rahi vertritt aber eine unabhängige Position und fordert von allen religionspolitischen Gruppen in der schweren Krise des Landes eine konstruktive Zusammenarbeit, die die Einheit des Libanon im Auge behält. Seit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 forderte er die Regierungsverantwortlichen auf, eigene Interessen hintanzustellen, die Korruption zu beenden und den Libanon als Brücke zwischen Orient und Westen zu erhalten. Er solle ein Land kultureller und religiöser Vielfalt bleiben, ein Versprechen der Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens.

Seit Oktober letzten Jahres bemüht er sich, die Regierungsbildung zu unterstützen und mit allen wichtigen Gruppierungen zu sprechen. Sonntag für Sonntag redet er in seinen stets stark politisch geprägten Predigten den Politikern ins Gewissen, den Libanon nicht als Geisel für ihre persönlichen Interessen zu missbrauchen, sondern ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht zu werden.

Unten, am Meer, breitet sich die Metropole Beirut der Küste entlang aus.

"Dieses liebenswerte Land, das ein Schatz der Zivilisation und Spiritualität ist, über die Jahrhunderte Weisheit und Kultur ausgestrahlt hat und die einzigartige Erfahrung eines friedlichen Zusammenlebens bezeugt, kann nicht einfach [...] denen ausgeliefert werden, die skrupellos ihre eigenen Interessen verfolgen." (Papst Franziskus)

Ökumenisches Kirchentreffen in Rom

Papst Franziskus hatte vor, nach seinem Irakbesuch im März dieses Jahres den Libanon zu bereisen, als Ausdruck seiner Solidarität mit den Menschen in dem krisengeschüttelten Land. Angesichts der Unruhen und einer fehlenden regulären Regierung als Gesprächspartner änderte er sein Vorhaben und hat die religiösen Spitzenrepräsentanten der orthodoxen und der mit Rom verbundenen Kirchen zu einem ökumenischen Treffen nach Rom eingeladen. Auch der ranghöchste evangelische Kirchenmann, Joseph Kassabhas, Präsident des Obersten Rates der evangelischen Gemeinschaft in Syrien und im Libanon, sollte zugegen sein. Insgesamt reisten neun Kirchenführer an.

Die Friedensbotschaft von Papst Franziskus zum Abschluss des Kirchentreffens am 1. Juli richtete sich an die libanesische Bevölkerung, deren politische Führer und an die internationale Gemeinschaft. Der Schrei „Herr, hilf mir!“ ist der Schrei des libanesischen Volkes, so der Papst:

„Mit unserem Gebet wollten wir diesen Schrei begleiten. Lassen wir nicht davon ab, werden wir nicht müde, vom Himmel jenen Frieden zu erbitten, für dessen Schaffung auf Erden sich die Menschen abmühen. Erbitten wir ihn inständig für den Nahen Osten und den Libanon. Dieses liebenswerte Land, das ein Schatz der Zivilisation und Spiritualität ist, über die Jahrhunderte Weisheit und Kultur ausgestrahlt hat und die einzigartige Erfahrung eines friedlichen Zusammenlebens bezeugt, kann nicht einfach dem Schicksal oder denen ausgeliefert werden, die skrupellos ihre eigenen Interessen verfolgen. Denn der Libanon ist ein kleines und großes Land zugleich, aber er ist noch mehr: Er ist eine universale Botschaft des Friedens und der Geschwisterlichkeit, die aus dem Nahen Osten aufsteigt.“

Sein vierfacher Appell:

„An euch, Bürger: Lasst euch nicht entmutigen, verzagt nicht, findet in den Wurzeln eurer Geschichte die Hoffnung wieder, um erneut aufzukeimen. An euch, Politiker in Führungspositionen: auf dass ihr entsprechend euren Verantwortlichkeiten dringliche und solide Lösungen für die gegenwärtige wirtschaftliche, soziale und politische Krise findet, und denkt daran, dass es keinen Frieden ohne Gerechtigkeit gibt. An euch, liebe Diasporalibanesen: auf dass ihr die Energien und die besten Ressourcen, über die ihr verfügt, in den Dienst eures Heimatlandes stellt. An euch, Mitglieder der internationalen Gemeinschaft: Bemüht euch gemeinsam darum, die Bedingungen zu schaffen, damit das Land nicht versinkt, sondern einen Weg des Aufschwungs einleitet.“

Nach dem ökumenischen Treffen sagte Patriarch al-Rahi dem libanesischen Fernsehsender LCBI, mit dem Papst sei auch über die Rolle der Hisbollah und eine Neutralität des Libanon diskutiert worden. Letzteres ist seit letztem Herbst ein dringendes Anliegen des Patriarchen, um sein Land aus den internationalen und nachbarschaftlichen Konflikten herauszuhalten.

Er habe dem Papst vorgeschlagen, eine Reihe christlicher und islamischer Politiker zu Beratungen nach Rom einzuladen.

Der maronitische Kirchenführer blickte in seiner Sonntagspredigt am 4. Juli 2021 auf das Treffen in Rom zurück und sagte, der Papst habe mit seiner Botschaft einen „Fahrplan“ bereitgestellt, der dem Land den Ausstieg aus der gegenwärtigen Krise ermögliche. Dabei wiederholte er ein Anliegen, das er seit Monaten immer wieder vorbringt, nämlich eine internationale Konferenz unter Schirmherrschaft der UNO abzuhalten. Der Libanon brauche angesichts des Zusammenbruchs „die Hilfe seiner Brüder und Freunde“.

Auch die Armee in Not

Die drückende Finanznot des Libanon macht auch vor der Armee nicht Halt, einer 80.000 Mann starken Truppe. Obwohl diese reguläre Streitmacht insbesondere von den USA und Frankreich Jahr für Jahr mit Waffen und Ausrüstung in beträchtlichem Umfang unterstützt wird, musste der Oberbefehlshaber, General Joseph Aoun, Alarm schlagen. Aoun ist Maronit und mit dem Staatspräsidenten verwandt. Der Währungsverfall ließ auch die Kaufkraft des Solds schwinden. Auch die Qualität der täglichen Truppenverpflegung sank und mit ihr die Moral der Soldaten.

Deprimierend war die Feststellung des Armeechefs in einer Rede vor Offizieren: „Die Soldaten hungern und leiden wie der Rest des Volkes.“ General Aoun bereiste zwar befreundete Länder und warb um humanitäre Hilfe, aber nicht für die Bevölkerung des Libanon, sondern für seine eigene Truppe. Auf einer virtuellen Spenderkonferenz, an der sich 20 Staaten beteiligten, auch Deutschland, wurden Versorgungsgüter für die Armee eingeworben, Verpflegung und Sanitätsmaterial, nicht Waffen und Munition.

Die westlichen Staaten wissen um die Bedeutung der libanesischen Streitkräfte als einzige überparteiliche Institution im Land. Bei weiteren schweren Unruhen wären demoralisierte Soldaten kaum geeignet, um als tatkräftige Ordnungsmacht aufzutreten. Befürchtungen von Beobachtern, es könne zu Desertionen in größerem Maßstab kommen, haben sich bislang nicht bestätigt. Medien berichteten aber, Vorgesetzte hätten Soldaten unterer Ränge Zweitbeschäftigungen erlaubt, um ihre Familien über Wasser halten zu können.

Internationale Auswirkungen der Chaos-Lage

Hunderte Libanesen haben seit letztem Jahr versucht, über das Meer in den Süden Zyperns, also in das Gebiet der EU zu gelangen. Die Entfernung von der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli bis nach Larnaca, an der Südostküste Zyperns, beträgt knapp 180 km.

Es sind nicht nur Flüchtlinge aus Syrien, die dem Elend in den Flüchtlingslagern entkommen wollen, sondern seit Sommer 2020 auch immer mehr Libanesen. Fischer und Bootsbesitzer im Norden des Libanon machen seitdem ein Geschäft daraus und bringen hunderte von ihnen nach Zypern. Sehr schnell waren die Aufnahmekapazitäten des Inselstaates erschöpft. Die zypriotischen Behörden vereinbarten mit der libanesischen Seite, diese illegalen Überfahrten zu unterbinden und schnelle Rückführungen in den Libanon möglich zu machen.

Die Überfahrtversuche nach Zypern gingen danach deutlich zurück. Seit Mai 2021 aber steigen sie wieder an, trotz zahlreicher Medienberichte über tödliche Irrfahrten kleiner Boote im letzten Herbst. Falls sich die Situation im Libanon weiter verschlechtert, ist damit zu rechnen, dass noch viel mehr Libanesen die Überfahrt nach Südzypern wagen werden. Auch die Rückführungen würden ins Stocken kommen und damit das EU-Mitglied Zypern zwingen, von anderen Partnerländern Unterstützung zu fordern. Damit wäre die Situation in der Levante ein direktes Problem auch der EU.

Der Iran im Libanon

Ein weiterer internationaler Kontext enthält Konfliktstoff anderer Art: Das Hineinregieren des Iran in den Libanon durch die Hisbollah, ohne deren Zustimmung keine neue Regierung gebildet werden kann.

In den gegenwärtig laufenden internationalen Verhandlungen mit dem Iran über eine Rückkehr zum alten Iran-Atom-Abkommen ist der Libanon, so Analysten, ein Ass im Ärmel Teherans. Je nach Verlauf der Gespräche könne der Mullah-Staat zur Beilegung der Libanon-Krise beitragen oder sie verschärfen. Seit Monaten wirft Patriarch al-Rahi der Hisbollah überdies vor, sie maße sich das Recht an, über die Köpfe der Libanesen hinweg über Krieg oder Frieden mit Israel entscheiden zu können.

Ausblick

Seit neun Monaten ist der Libanon ohne wirklich handlungsfähige Regierung und es sieht nicht nach einem Ende der politischen Selbstblockade aus. Berichte, dass Saad Hariri seinen Auftrag zur Regierungsbildung zurückgeben wolle, wurden von ihm inzwischen dementiert. Ohne eine neue und international seriös erscheinende Regierung stellen weder der Internationale Währungsfonds noch befreundete westliche und arabische Staaten frische Kredite zur Verfügung, wie immer wieder betont wird.

Auf dem Rücken einer gepeinigten Bevölkerung geht die libanesische Tragödie also weiter.

Die Basisreserven der Nationalbank, die nach Medienberichten gegenwärtig noch etwa 15 Mrd. US-$ betragen, schmelzen weiter ab, auch wenn die Subventionen grundlegender Güter zurückgefahren werden. Setzt die Regierung diese Reserven ein, wie beschlossen, um dringend nötige Treibstoffimporte für Autos, Elektrizitätswerke und Stromgeneratoren zu bezahlen, dann sind auch diese letzten Mittel bald erschöpft. Diese Notfinanzierung ist aber innenpolitisch umstritten, weil sie auf Einlagen zurückgreift, die der Bank gar nicht gehören.

Entspannung zeigt sich an einer anderen Front. Seit zwei Monaten bewegen sich die Neuinfektionen mit Corona auf einem niedrigen Niveau, zwischen 140 und 210 Fälle pro Tag. Die Pandemie hatte auch den kleinen Zedernstaat von Sommer 2020 bis April 2021 im Würgegriff. Optimisten im Land hoffen nun darauf, dass nach dem Ende der langen Kontaktbeschränkungen viele Auslandslibanesen zu Verwandtenbesuchen anreisen und Dollars mitbringen.

Autor: Gerhard Arnold