Die Atmosphäre in Brüssel war geprägt von einer Stimmung des Aufbruchs. Nach vier Jahren, in denen US-Präsident Donald Trump Zweifel an Amerikas Bündnissolidarität geschürt und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Allianz schon den „Hirntod“ attestiert hatte, versprach der jüngste NATO-Gipfel eine Wiederbelebung der Allianz und einen zielgerichteten Blick in die Zukunft. Schon im Vorfeld des Gipfels lies das Weiße Haus ein Factsheet zu Joe Bidens Teilnahme am NATO-Gipfel veröffentlichen, in denen die USA unmissverständlich ihr Bekenntnis zum Artikel 5 der NATO untermauerten (Beistand im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ein NATO-Mitglied) und vorab die Gipfel-Prioritäten kommunizierten. Unter dem Schlagwort NATO 2030 sollte der NATO-Gipfel einerseits dazu dienen, ein neues Kapitel für die transatlantische Sicherheitskooperation einzuläuten, und andererseits die richtigen Weichen für das Bündnis stellen, um die gegenwärtigen, aber auch zukünftigen Herausforderungen in einem durch globalen Wettbewerb geprägten Umfeld erfolgreich meistern zu können.
Während man in vielerlei Hinsicht die bereits beschrittenen Wege weiterging, zum Beispiel die Stärkung der Fähigkeiten zur Bündnisverteidigung und Abschreckung bei gleichzeitigem Dialogangebot an Russland, wurden mit Blick auf China, den Klimawandel und die Rolle von Technologien in der künftigen Konfliktaustragung neue Schwerpunkte gesetzt.
Die wesentlichen Beschlüsse der gemeinsamen Abschlusserklärung im Überblick:
Der NATO-Gipfel hat viele wichtige und richtige Entscheidungen gebracht, um die Allianz gemäß ihrem eigenen Anspruch für die Herausforderungen von heute und morgen zu rüsten. Doch die Aufbruchsstimmung in Brüssel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Probleme, die das Bündnis belasten, nicht mit Donald Trump verschwunden sind. Zum einen gibt es nach wie vor „Sorgenkinder“ in der Allianz, die aufgrund ihrer innenpolitischen Entwicklungen die NATO als Wertegemeinschaft unterminieren, wie sie in der Präambel des Nordatlantikvertrages festgeschrieben und auch bei diesem Gipfel erneut bekräftigt wurde. Diese Problematik wird sich auch angesichts von Joe Bidens Agenda, die globalen Demokratien in Konkurrenz zu autoritären Staaten zu einigen und zu stärken, künftig wohl eher verschlimmern. Besonders im Fokus der bilateralen Gespräche von Joe Biden und Kanzlerin Angela Merkel am Rande des Gipfels stand die Türkei und Präsident Recep Erdogan. Neben einer Reihe von Konfliktfeldern, die gerade das amerikanisch-türkische Verhältnis in den letzten Jahren getrübt haben, bereitet Ankaras Kauf des russischen S-400 Luftabwehrsystems dem NATO-Bündnis Sorge.
Zum anderen ist beim NATO-Gipfel deutlich geworden, dass die USA auch unter Präsident Biden den strategischen Fokus mehr auf die Volksrepublik China und den Indo-Pazifik legen und dabei ihre europäischen Partner stärker in die Pflicht nehmen werden. In ihrer Gipfelerklärung demonstrieren die Allianzmitglieder zwar Einigkeit, doch gerade die relativierende Position von Bundeskanzlerin Merkel zum richtigen Ansatz gegenüber China steht exemplarisch dafür, dass die China-Frage von den USA und einigen europäischen Partnern, allen voran Berlin, mit Blick auf die Brisanz und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen unterschiedlich bewertet wird.
Während sich die Allianz also für die Herausforderungen von heute und morgen vorbereiten möchte, muss sie durchaus noch Probleme von gestern lösen.
Autorin: Andrea Rotter, HSS