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Joe Bidens erster NATO-Gipfel
Ein neues Kapitel für die Allianz

Joe Bidens erster NATO-Gipfel brachte einige konkrete Beschlüsse aber alte Probleme bleiben. Mit einem neuen strategischen Konzept will die NATO bis 2022 klare Handlungsfelder identifizieren, darunter auch Konzepte für Technologieentwicklung und die strategische Dimension des Cyberraumes.

Die Atmosphäre in Brüssel war geprägt von einer Stimmung des Aufbruchs. Nach vier Jahren, in denen US-Präsident Donald Trump Zweifel an Amerikas Bündnissolidarität geschürt und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Allianz schon den „Hirntod“ attestiert hatte, versprach der jüngste NATO-Gipfel eine Wiederbelebung der Allianz und einen zielgerichteten Blick in die Zukunft. Schon im Vorfeld des Gipfels lies das Weiße Haus ein Factsheet zu Joe Bidens Teilnahme am NATO-Gipfel veröffentlichen, in denen die USA unmissverständlich ihr Bekenntnis zum Artikel 5 der NATO untermauerten (Beistand im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ein NATO-Mitglied) und vorab die Gipfel-Prioritäten kommunizierten. Unter dem Schlagwort NATO 2030 sollte der NATO-Gipfel einerseits dazu dienen, ein neues Kapitel für die transatlantische Sicherheitskooperation einzuläuten, und andererseits die richtigen Weichen für das Bündnis stellen, um die gegenwärtigen, aber auch zukünftigen Herausforderungen in einem durch globalen Wettbewerb geprägten Umfeld erfolgreich meistern zu können.

Der Nordatlantikpakt steht vor neuen Herausforderungen. Die NATO will sich ein neues strategisches Konzept geben, das auf dem nächsten Gipfel 2022 vorgestellt werden soll.

al Istvan; ©HSS; IStock

Während man in vielerlei Hinsicht die bereits beschrittenen Wege weiterging, zum Beispiel die Stärkung der Fähigkeiten zur Bündnisverteidigung und Abschreckung bei gleichzeitigem Dialogangebot an Russland, wurden mit Blick auf China, den Klimawandel und die Rolle von Technologien in der künftigen Konfliktaustragung neue Schwerpunkte gesetzt.

Die wesentlichen Beschlüsse der gemeinsamen Abschlusserklärung im Überblick:

  • Neues Strategisches Konzept: Die Staats- und Regierungschefs haben offiziell die Erstellung eines neuen Strategischen Konzeptes in Auftrag gegeben, das beim nächsten NATO-Gipfel 2022 in Spanien vorgestellt werden soll. Das Strategische Konzept ist das zentrale strategische Grundlagenpapier des Bündnisses, das die wichtigsten Herausforderungen und Positionen der NATO festhält. Das letzte Strategische Konzept stammt aus dem Jahr 2010 und gilt mit Blick auf die geo- und sicherheitspolitischen Umbrüche als überholt.
  • Russland, die noch bestimmende Herausforderung: Die NATO adressiert in klaren Worten das zunehmend aggressive Verhalten Russlands als elementare Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit, besonders mit Blick auf Moskaus konventionelle wie nukleare militärische Modernisierung und Aufrüstung (Krim, Kaliningrad), sein destabilisierendes Verhalten an NATO-Grenzen und seinen hybriden Maßnahmen im Cyber- und Informationsraum. Die NATO-Verbündeten halten an der eingeschlagenen Richtung fest: Ausbau der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten, der Einsatzbereitschaft sowie der Resilienz, Festhalten an der verstärkten Truppenpräsenz an der Ostflanke des Bündnisses und der Schwarzmeerregion sowie der Raketenabwehr. Auch bekräftigen die Verbündeten abermals das 2-Prozent-Ziel und den konsequenten Ausbau ihrer militärischen Fähigkeiten.
  • China und seine systemische Herausforderung für die regelbasierte Weltordnung: In bis dato noch ungekannt scharfen Worten bezeichnet die NATO Chinas Ambitionen und sein zunehmend robustes internationales Auftreten als systemische Herausforderung für die regelbasierte internationale Ordnung, die auch für die Sicherheit der Allianz relevant ist. Zwar möchte das Bündnis einen konstruktiven Dialog mit China aufrechterhalten, doch werden Pekings nukleare Modernisierung und Aufrüstung, seine gemeinsamen Militärmanöver mit Russland und die Anwendung von Desinformation kritisch gesehen. In diesem Zusammenhang möchte das Bündnis Partnerschaften mit demokratischen Staaten in anderen Regionen der Welt noch gezielter ausbauen, um gemeinsam die regelbasierte Weltordnung aufrechtzuhalten.
  • Klimawandel: Der Klimawandel hat immense sicherheitspolitische Konsequenzen, die die Handlungsfähigkeit der Allianz negativ beeinflussen. Aus diesem Grund hat sich das Bündnis darauf geeinigt, einen Aktionsplan zur Klimasicherheit zu verabschieden, um die durch den Klimawandel bedingten Herausforderungen im Bündnis zu bewerkstelligen, ohne jedoch dabei seine Verteidigungsfähigkeit einzuschränken. Die Treibhausgasemissionen ihrer Einsätze und Einrichtungen sollen signifikant reduziert und möglichst bis 2050 klimaneutral werden. Zudem initiiert die NATO einen regelmäßigen High-Level-Dialog zu Klimawandel und Sicherheit. 
  • Technologie – die entscheidende Variable: Die NATO untermauert die Rolle von neuen, disruptiven Technologien für künftige Konflikte. Generell möchte das Bündnis mit Blick auf die technologische Entwicklung die Zusammenarbeit unter den Alliierten ausbauen und dabei die Interoperabilität stärken. Mittels eines sog. Defense Innovation Accelerator soll die zivil-militärische Zusammenarbeit gefördert werden, um mit Blick auf militärisch-technologische Innovation einen wichtigen Vorsprung zu behalten. Ein neuer NATO Innovation Fund soll es NATO-Staaten zudem ermöglichen, gezielt Start-Ups in diesem Bereich zu fördern.
  • Cyberraum: Wegen der gewachsenen Bedeutung haben die NATO-Staaten eine umfassende Cyberverteidigungs-Strategie verabschiedet, um die Koordination unter den Verbündeten und die Abwehrfähigkeiten gegenüber Cyberangriffen sowie die Resilienz kritischer Infrastrukturen zu stärken. Darüber hinaus enthält diese neue Strategie Richtlinien, wie Cyberangriffe, die auch den Bündnisfall nach Artikel 5 nach sich ziehen können, abgeschreckt und notfalls auch aktiv abgewehrt werden können.  
  • Weltraum: Nachdem die NATO beim Gipfel 2019 in London den Weltraum bereits zum fünften offiziellen Operationsgebiet neben Boden, See, Luft und Cyberraum ernannt hatte, geht das Bündnis nun den nächsten logischen Schritt: Wie in den anderen Dimensionen auch kann ein Angriff im oder vom Weltraum aus den Bündnisfall nach Artikel 5 auslösen, sollte sich der Nordatlantikrat im Einzelfall darauf verständigen.

Fazit: Wichtige Weichen gestellt, aber alte Probleme bleiben

Der NATO-Gipfel hat viele wichtige und richtige Entscheidungen gebracht, um die Allianz gemäß ihrem eigenen Anspruch für die Herausforderungen von heute und morgen zu rüsten. Doch die Aufbruchsstimmung in Brüssel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Probleme, die das Bündnis belasten, nicht mit Donald Trump verschwunden sind. Zum einen gibt es nach wie vor „Sorgenkinder“ in der Allianz, die aufgrund ihrer innenpolitischen Entwicklungen die NATO als Wertegemeinschaft unterminieren, wie sie in der Präambel des Nordatlantikvertrages festgeschrieben und auch bei diesem Gipfel erneut bekräftigt wurde. Diese Problematik wird sich auch angesichts von Joe Bidens Agenda, die globalen Demokratien in Konkurrenz zu autoritären Staaten zu einigen und zu stärken, künftig wohl eher verschlimmern. Besonders im Fokus der bilateralen Gespräche von Joe Biden und Kanzlerin Angela Merkel am Rande des Gipfels stand die Türkei und Präsident Recep Erdogan. Neben einer Reihe von Konfliktfeldern, die gerade das amerikanisch-türkische Verhältnis in den letzten Jahren getrübt haben, bereitet Ankaras Kauf des russischen S-400 Luftabwehrsystems dem NATO-Bündnis Sorge.

Zum anderen ist beim NATO-Gipfel deutlich geworden, dass die USA auch unter Präsident Biden den strategischen Fokus mehr auf die Volksrepublik China und den Indo-Pazifik legen und dabei ihre europäischen Partner stärker in die Pflicht nehmen werden. In ihrer Gipfelerklärung demonstrieren die Allianzmitglieder zwar Einigkeit, doch gerade die relativierende Position von Bundeskanzlerin Merkel zum richtigen Ansatz gegenüber China steht exemplarisch dafür, dass die China-Frage von den USA und einigen europäischen Partnern, allen voran Berlin, mit Blick auf die Brisanz und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen unterschiedlich bewertet wird.

Während sich die Allianz also für die Herausforderungen von heute und morgen vorbereiten möchte, muss sie durchaus noch Probleme von gestern lösen.

Autorin: Andrea Rotter, HSS

Außen- und Sicherheitspolitik
Andrea Rotter, M.A.
Leiterin