Welche Möglichkeiten bieten die Verfassungsänderungen und die Regierungsumbildung - von russischen Medien als „Januarrevolution“ bezeichnet - Putin konkret zum Erhalt seiner Macht? Eine Variante könnte darin bestehen, dass er auch in Zukunft Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates bleibt - anstatt diese Funktion dem nächsten Präsidenten Russlands zu überlassen. Dafür spricht die Tatsache, dass Putin seinen Gefolgsmann Dmitri Medwedew, den bisherigen Ministerpräsidenten, zum stellvertretenden Vorsitzenden dieses Gremiums bestimmt hat - im Übrigen ein extra für Medwedew geschaffener Posten. Der Einfluss des Nationalen Sicherheitsrates ist enorm, denn hier laufen die Sicherheitsstrukturen des Landes mit seinen Geheimdienststrukturen zusammen.
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Putin den Vorsitz im Staatsrat übernimmt, einem Gremium, das dem Kreml helfen soll, die Entscheidungen der Zentralmacht in den russischen Regionen durchzusetzen. Bislang hat der Staatsrat keine allzu große Bedeutung im staatlichen Gefüge Russlands, doch nach den Vorstellungen Putins soll eine der von ihm vorgeschlagenen Verfassungsänderungen diesem Gremium mehr Macht zuweisen, indem sein Status und seine Funktion genauer definiert und in der Verfassung verankert werden.
Eine dritte Variante könnte sein, dass Putin Vorsitzender des Föderationsrates (Oberhaus des Parlaments) wird, mit dem sich der Staatspräsident zukünftig abstimmen soll, bevor er Leitungsposten in den Sicherheitsstrukturen besetzt - auch diese Neuerung ist Teil von Putins Vorschlägen für Verfassungsänderungen. Eine weitere Möglichkeit könnte darin bestehen, dass der jetzige Präsident - wie schon von 2008 bis 2012 - nach Ablauf seiner Amtszeit die Rolle des Ministerpräsidenten übernimmt. Darauf könnte die Tatsache hindeuten, dass Putin in seinen Reformvorschlägen die Macht des Parlaments gegenüber der des Präsidenten stärken will, was die Stellung eines möglichen neuen Premiers Putin gegenüber seinem Nachfolger als Präsident aufwerten würde. Gegen diese Lösung spricht, dass Putin schon seit Längerem den Eindruck erweckt, er sei des politischen Tagesgeschäfts überdrüssig und würde sich lieber im Hintergrund strategischen Fragen widmen.
Noch unwahrscheinlicher erscheint die nach russischen Maßstäben durchaus nicht ungewöhnliche Mutmaßung mancher Beobachter, die vorgeschlagene Verfassungsreform könne im Nachhinein als so tiefgreifend angesehen werden, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung einen Neubeginn der staatlichen Ordnung Russlands markiert; verbunden mit der Schlussfolgerung, dass die Zählung der Amtszeiten des Präsidenten insofern wieder von vorne beginnen und Putin einfach Präsident bleiben könne.
Der Zeitpunkt der jüngsten Regierungsumbildung und der Vorstellung der von Putin vorgeschlagenen Verfassungsänderungen ist nur auf den ersten Blick überraschend. In den vergangenen Monaten hatte der Präsident immer weniger Entscheidungsfreude an den Tag gelegt, selbst wenn es um Fragen ging, deren Lösung vom Präsidenten und seinem Umfeld dringend erwartet worden war. Zuletzt hatte sich der Eindruck aufgedrängt, dass Putin vom Kampf um seine Nachfolge regelrecht gelähmt war und eine Art Befreiungsschlag brauchte, zu dem ihm seine jährliche, im Vergleich zu den Vorjahren um einige Wochen vorverlegte Rede zur Lage der Nation am 15. Januar die passende Gelegenheit bot.
Zumal auch das immer wieder ins Spiel gebrachte Szenario, Putin könnte bei einer möglichen Vereinigung von Russland und Belarus in der Zukunft das Präsidentenamt eines solchen Unionsstaates anstreben und auf diese Weise an der Macht bleiben, in den Wochen zuvor mehr und mehr an Überzeugungskraft verloren hatte. Zu erbittert war der Widerstand des weißrussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka gegen die mögliche Bildung eines derartigen Unionsstaates gewesen, so dass diese Möglichkeit inzwischen selbst in Russland weithin als eher unwahrscheinlich angesehen wird.
Der Schritt, den bei den Russen unbeliebten, von Korruptionsvorwürfen belasteten und als Regierungschef bestenfalls mäßig erfolgreichen Medwedew abzulösen, erschien zuletzt als überfällig. Außerdem könnte der Kremlchef mit seiner Entscheidung, den inzwischen von der Duma bestätigten Michail Mischustin als neuen Ministerpräsidenten vorzuschlagen, einen Beitrag zur Befriedung der beiden konkurrierenden Lager innerhalb der russischen Elite (und Regierung) geleistet haben. Weder der liberale Wirtschaftsblock noch die vorwiegend aus Geheimdiensten und Militär hervorgegangenen Silowiki können Mischustin, den bisherigen Leiter der russischen Steuerbehörde, als einen der ihren beanspruchen. Der designierte Premierminister soll sowohl dem zu den Silowiki zählenden Rosneft-Chef Igor Setchin als auch dem liberalen Leiter des Rechnungshofes Alexei Kudrin nahestehen und war selbst nicht nur als Staatsbeamter, sondern auch in der Privatwirtschaft tätig. Als Leiter der russischen Steuerbehörde steht er für eine grundlegende Reform und Modernisierung des russischen Steuersystems mit dem Ergebnis eines deutlich erhöhten Steueraufkommens und effektiver Bekämpfung von Korruption und Steuerkriminalität. Politisch ist der Kompromisskandidat Mischustin bisher jedoch kaum in Erscheinung getreten und wird insofern auch nicht als möglicher Nachfolger Putins als Staatspräsident gehandelt. Auch die von Putin vorgeschlagene Neuverteilung und Ausbalancierung der Macht zwischen Präsident, Parlament und Staatsrat per Verfassungsänderung könnte die Konsensfindung zwischen Liberalen und Silowiki erleichtern, wenngleich sie mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im westlichen Sinne freilich wenig zu tun hat.
Bemerkenswert ist, dass Putins Reformvorschläge der russischen Verfassung prinzipiell Vorrang vor dem Völkerrecht einräumen und vorsehen, dass Entscheidungen internationaler Organe zukünftig nur noch dann in Russland gelten sollen, wenn sie keinen Bestimmungen der russischen Verfassung entgegenstehen. Die Internetzeitung Meduza kommentiert dies mit der Feststellung, russische Staatsbürger dürften im Falle einer Annahme der Verfassungsänderungen (durch Referendum) nur noch eingeschränkt die Möglichkeit haben, ihre Rechte vor internationalen Gerichten wie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzuklagen. Außerdem sollen nach Putins Vorstellungen die Voraussetzungen für Präsidentschaftsbewerber verschärft werden: Sie müssen mindestens 25 Jahre lang (derzeit 10 Jahre) ununterbrochen in Russland gelebt haben und dürfen zukünftig keine andere Staatsangehörigkeit oder dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung eines anderen Staates besitzen oder besessen haben. Regierungskritische Medien merken hierzu an, diese vorgeschlagenen Neuerungen seien vor allem gegen Michail Chodorkowski und den oppositionellen Aktivisten Alexei Nawalny gerichtet. Auch russische Richter, hochrangige Staatsbeamte und Spitzenpolitiker dürfen nach den Vorstellungen Putins zukünftig keine ausländische Staatsbürgerschaft und keinen Wohnsitz im Ausland mehr haben.
Festzuhalten bleibt, dass der Kreml aus den Massenprotesten gegen Putins Rückkehr ins Präsidentenamt in den Jahren 2011 und 2012 gelernt zu haben scheint und den künftigen Machterhalt des Staatspräsidenten diesmal behutsamer vorbereiten will. Der Anschein demokratischer Legitimität soll auf jeden Fall gewahrt werden, auch wenn dieser Schein mit demokratischer Legitimation westlicher Prägung nichts zu tun hat. Klar ist, dass die „Januarrevolution“ des Wladimir Putin gut vorbereitet war und nur ein kleiner Kreis Eingeweihter vorher davon gewusst hat - alleine schon, um mögliche Gegenspieler des Kremlchefs davon abzuhalten dazwischenzufunken. Man kann gespannt sein, was in den nächsten vier Jahren noch so alles passiert; in Moskau wird es jedenfalls so schnell nicht langweilig.
Autor: Jan Dresel, HSS-Moskau