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Analyse zur Abstimmung
Verfassungsreferendum in der Türkei

Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 bedeutete einen historischen Einschnitt in der politischen Geschichte der Türkei. Es ist mit der Republikgründung im Jahre 1923 und dem Übergang zum Mehrparteiensystem im Jahre 1947 gleichzusetzen.

Intensiver Wahlkampf der türkischen Parteien um jede Stimme in Istanbul

Intensiver Wahlkampf der türkischen Parteien um jede Stimme in Istanbul

Lesen Sie bitte hier eine Analyse des Verfassungsreferendums in der Türkei von Dr. Max Georg Meier, Auslandsmitarbeiterder Hanns-Seidel-Stiftung in Bischkek, Kirgisistan.

Bei dem Referendum über das 18 Punkte umfassende verfassungsändernde Gesetz Nr. 6771 gab es eine Rekordbeteiligung: 88,06% der insgesamt 58.366.647 Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Und das noch am Abend verkündete offizielle Ergebnis war äußerst knapp: Den 51,3% "Ja"-Stimmen standen 48,7% "Nein"-Stimmen gegenüber. Die politische Opposition (vor allem die Sozialdemokratische Volkspartei CHP), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/ODIHR) und auch die Türkische Anwaltskammer sprechen von Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung. Es wird der Verdacht geäußert, dass bis zu 2,5 Millionen Stimmen manipuliert worden seien. Zur Erinnerung: Der Unterschied zwischen den beiden Lagern lag bei etwa 1.300.000 Stimmen. Seit dem Referendum ist die Türkei jeden Abend landesweit von schweren Protesten gegen das Abstimmungsergebnis und Präsident Erdogan geprägt.

Gegenstand des Referendums war der Wechsel von einem parlamentarischen zu einem Präsidialsystem mit der Bündelung der Exekutivbefugnisse und mehr Einfluss auf die Justiz in der Hand des Präsidenten. Nach dem Referendum kommt das Land nicht zur Ruhe.

Inhalte des Verfassungsreferendums in der Türkei

Sofern der positive Ausgang des Verfassungsreferendums eine endgültige Bestätigung durch den türkischen Hohen Wahlausschuss (Yüksek Secim Kurulu) erfährt, wird sich die Verfassung der Türkei zum November 2019 (mit Ausnahme von drei Artikeln) wie folgt ändern:

  • Der heute offiziell parteilose Präsident kann Mitglied einer politischen Partei und deren Fraktionsvorsitzender im türkischen Parlament sein (mit sofortiger Wirkung, ohne Wartezeit bis 2019).
  • Die Zahl der Abgeordneten im nationalen Parlament wird von 550 auf 600 erhöht.
  • Parlament und Präsident werden am selben Tag gewählt, wodurch ein Vorteil für die Partei des Präsidenten wahrscheinlich ist.
  • Der Präsident ernennt einen oder mehrere Vize-Präsidenten, sowie die Mitglieder der Regierung, wobei deren Bestätigung durch das Parlament wegfällt.
  • Der Präsident kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die nur unwirksam werden, falls das Parlament eigene Gesetze zum gleichen Thema erlässt. Dies wiederum ist nicht zu erwarten, da die Abgeordneten der Partei des Präsidenten dort wahrscheinlich dominierend sein werden.
  • Die seit Jahrzehnten im türkischen Parlament gültigen Instrumente der Vertrauensfrage und des Misstrauensvotums werden abgeschafft. Dafür soll der Präsident leichter für Straftaten gerichtlich zur Verantwortung gezogen und seines Amts enthoben werden können. In der Praxis dürfte dies jedoch schwierig sein, da dieser 6 der 13 Mitglieder des Richterrats (1) selbst ernennt und die restlichen Mitglieder vom Parlament gewählt werden, in dem seine Partei mit großer Wahrscheinlichkeit die Mehrheit stellt.

Damit wäre die Gewaltenteilung in der Türkei praktisch aufgehoben. Es würde zu einem Ungleichgewicht zugunsten des Präsidenten kommen (Kontrolle über Exekutive und Legislative) und dessen Einfluß auf die Justiz unverhältnismäßig wachsen.

Die Venedig-Kommission des Europarats warnte im Vorfeld des Referendums vor einem "persönlichen Regime" und sprach von der Gefahr des Abgleitens in ein autoritäres System. Die vorgeschlagenen Änderungen würden nicht dem Modell eines demokratischen Präsidialsystems folgen (2).

"Nein-Lager" des Referendums trifft sich am Abend in Istanbul

"Nein-Lager" des Referendums trifft sich am Abend in Istanbul

Bewertung des Wahlkampfs zum Referendum

Cezar Florin Preda von der Wahlbeobachterkommission des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit fasste die Ergebnisse des vorläufigen Abschlußberichts der europäischen Wahlbeobachter wie folgt zusammen (3): "Der Wahlkampf war unausgewogen, weil sich sowohl der Präsident als auch hohe nationale und lokale Funktionäre beteiligten, während Oppositionelle und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen behindert wurden. Zudem wurden administrative Ressourcen missbraucht. Nein-Unterstützer wurden mit Terror-Sympathisanten gleichgesetzt, von der Polizei behindert und geschlagen."

Die OSZE kritisiert weiter, dass die Bürger im Vorfeld des Referendums gar nicht ausreichend über die wichtigen Artikel der Verfassungsänderung informiert worden waren und auch nicht gesondert für jede einzelne angestrebte Änderung abstimmen konnten, sondern nur als Paket.

Auch Vertreter des "Ja"-Lagers haben mittlerweile eingestanden, dass der Wahlkampf zum Referendum nicht fair und unter ungleichen Bedingungen für beide Lager abgelaufen sei.

Es fehlte eine "neutrale Schiedsstelle", mit dem gesetzlichen Auftrag, dafür zu sorgen, dass sich beide Lager ("Ja" und "Nein") an die geltenden Regeln hielten. Rechtliche Mechanismen, insbesondere der türkische Hohe Wahlausschuss, konnten größtenteils nicht aktiv werden, da der immer noch gültige, vom Präsidenten und vom Parlament bestätigte, landesweite Ausnahmezustand (OHAL) einen Riegel vorschob. So gab es keinerlei Kontrolle der Fernsehkanäle, was am Ende dazu führte, dass der Präsident und seine Regierungspartei AKP diese unverhältnismäßig für ihren Wahlkampf instrumentalisierten (Als Beispiel der Zeitraum März 2017: Präsident und Regierungspartei AKP - Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung: 53 Stunden, Oppositionspartei CHP: 17 Stunden und oppositionelle kurdische HDP-Partei: 33 Minuten) (4).

Im Bericht der türkischen Oppositionspartei CHP vom 30.März 2017 mit dem Titel "Ungleiche und ungerechte Propaganda während des Referendumswahlkampfs" gibt es weitere Vorwürfe gegenüber Präsident Erdogan und der Regierungspartei AKP (5): Diese hätten staatliche Ressourcen maßlos für ihre Referendums-Kampagne genutzt. Wahlkampfauftritte seien so zu staatlichen "Grundsteinlegungs-Zeremonien" deklariert und Mittel der staatlichen Sozialhilfe in großen Mengen in den Tagen vor dem Referendum an Haushalte im Namen der Regierungspartei - vor allem über deren Gemeinde- und Stadtverwaltungen - verteilt worden.

Bewertung des Ergebnisses

Wir haben es bei dem "Nein"-Lager mit einer politischen Konstellation zu tun, die es so in der politischen Geschichte der Türkei noch nie gegeben hat: Die sozialdemokratische CHP (die sich immer noch dem Erbe des Staatsgründers Atatürk und der Gründer-Republik verpflichtet fühlt), die HDP (Unterstützer der kurdischen politischen Bewegung), Teile der nationalistischen MHP (in Opposition zu der unerwarteten Entscheidung der Parteiführung, sich dem "Ja"-Lager anzuschließen, obwohl die Partei sich früher der Idee des Präsidialsystems auf das Heftigste widersetzt hatte), aber auch religiös orientierte AKP-Anhänger, die auf das zur Abstimmung stehende und stark autoritäre Züge tragende Präsidialsystem mit großen Zweifeln blickten.

Von diesem Standpunkt aus scheint die Demokratie in der Türkei an Reife gewonnen und wiederum eine wichtige Hürde genommen zu haben.

Hierzu schreibt auch der bekannte türkische Soziologe Prof. Sencer Ayata in der Zeitung Birgün vom 17. April 2017 wie folgt: "Ich denke, dass dieses Referendum der größte Beweis dafür ist, dass sich die demokratische Zivilgesellschaft in der Türkei weiterentwickelt. Die "Nein"-Bewegung ist dabei eine überaus wichtige Erfahrung geworden. In der Türkei sind zum ersten Mal so unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft in einer solchen Breite mit dem Ziel der Verteidigung der Freiheit zusammengekommen".

Aktivisten des Nein-Lagers protestieren in Istanbul jeden Abend seit dem Referendum

Aktivisten des Nein-Lagers protestieren in Istanbul jeden Abend seit dem Referendum

Wohin steuert die Türkei jetzt?

Präsident Erdogan verkündete in den Tagen nach dem Referendum mehrmals, dass er den Bericht der OSZE-Wahlbeobachter nicht anerkenne. Diese Entwicklung ist bedauerlich.

Schließlich ist die Türkei ein Gründungsmitglied der OSZE. Noch bis vor kurzem kamen keine Wahlbeobachter dieser Organisation in die Türkei. Wahlen in der Türkei galten bis auf kleinere Defizite als korrekt, legal und professionell organisiert. Viele türkische Wahlbeobachter waren Teil von OSZE-Wahlbeobachterdelegationen in vielen Ländern der Welt, um die Rechtmäßigkeit dortiger Wahlen zu prüfen.

Am Abend des Referendums rief Präsident Erdogan seinen Anhängern zu: "Es gibt welche, die unseren Sieg klein reden wollen. Aber wir sind die Sieger und das Thema ist beendet!"

Die noch an demselben und in den folgenden Tagen gegen vermeintlichen Wahlbetrug Protestierenden behandelte er mit Nichtbeachtung und dem kurzen Satz: "Immer wieder dasselbe!" und zeigte keinerlei Anzeichen für Verständnis, Dialogbereitschaft oder die Suche nach einem gesellschaftlichen Konsensus.

Im Gegenteil: Präsident Erdogan verschärfte seinen Tonfall noch einmal. Er kündigte an, auch die Wiedereinführung der Todesstrafe und das Ziel der Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu Themen von Referenden zu machen.

Seine erste offizielle politische Entscheidung nach dem Referendum war die Verlängerung des landesweiten Ausnahmezustands, wodurch auch die Versammlungsfreiheit (mögliche Protestkundgebungen) stark eingeschränkt ist.

All die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen, dass die Türkei vor bewegten Zeiten mit intensiven Diskussionen und Auseinandersetzungen steht. Die türkische Zivilgesellschaft und Opposition haben in der politischen Auseinandersetzung mit Präsident Erdogan und der Regierungspartei AKP neuen Mut geschöpft und Selbstvertrauen gewonnen.

Das alles ändert nichts daran, dass offiziell das "Ja"-Lager die Referen­dumsabstimmung gewonnen hat. Es wird jetzt darauf ankommen, wie Präsident Erdogan die mit dem Referendum gewonnene politische Macht gegenüber dem Teil der Bevölkerung, der mit "Nein" gestimmt hat, benutzen wird. Wird er den Konsensus und Dialog suchen, um sich so als "Präsident aller Türken" darzustellen? Oder wird er nach dem Motto "The winner takes it all!" den Anliegen dieser Bevölkerungsgruppe keine Beachtung schenken? Die Beantwortung dieser Fragen hat für den gesellschaftlichen Frieden und die politische Stabilität des Landes große Bedeutung.

Literaturhinweise:

(1) Oberstes Organ für insgesamt 13.000 Richter und Staatsanwälte
(2) Verlautbarung der Venedig-Kommission vom 10. März 2017
(3) Deutschlandfunk: OSZE prangert Missstände an, 19. April 2017
(4) Siehe hierzu: bianet.org/bianet/medya/184761-tv-de-referandum-dagilimi-erdogan-53-saat-chp-17-saat-hdp-33-dakika (The Solidarity for Democracy Platform, 23. März 2017)
(5) Siehe hierzu: chp.org.tr/Haberler/53/yilmaz-esitsiz-ve-adaletsiz-propaganda-surecinde-referendum-raporu-56596.aspx

Naher Osten, Nordafrika
Claudia Fackler
Leiterin