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Nach Mays Scheitern im Unterhaus
Droht ein ungeregelter Brexit?

So etwas hat es im britischen Unterhaus noch nicht gegeben. Mit überwältigender Mehrheit lehnten die Abgeordneten den über die letzten zwei Jahre mit der EU ausgehandelten Scheidungsvertrag ab. Dennoch tritt Theresa May nicht zurück, übersteht eine Vertrauensabstimmung und kann so Neuwahlen vermeiden. Doch wie soll jetzt die Katastrophe eines ungeregelten Brexit noch abgewendet werden? Die Brexit-Expertin, Dr. Alice Neuhäuser, kommentiert.

Dr. Alice Neuhäuser lehrt Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster. Daneben ist sie Vertrauensdozentin der Hanns-Seidel-Stiftung und stellvertretende Bundesvorsitzende der Alumnivereinigung ehemaliger Stipendiaten der Hanns-Seidel-Stiftung (CdAS e.V.). Im Jahr 2004 war sie Kandidatin der sechsten Direkt- und ersten gesamteuropäischen Wahl des Europäischen Parlaments (Europawahl). Neuhäuser forscht zu Fragen der britischen Europapolitik; kürzlich erschien ihr Aufsatz „Brexit: Warum stimmten 51,9 Prozent der britischen Wähler für den EU-Austritt?“ in der Studie „Die Zukunft Europas in einer Welt im Umbruch“.

Dr. Alice Neuhäuser lehrt Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster. Daneben ist sie Vertrauensdozentin der Hanns-Seidel-Stiftung und stellvertretende Bundesvorsitzende der Alumnivereinigung ehemaliger Stipendiaten der Hanns-Seidel-Stiftung (CdAS e.V.). Im Jahr 2004 war sie Kandidatin der sechsten Direkt- und ersten gesamteuropäischen Wahl des Europäischen Parlaments (Europawahl). Neuhäuser forscht zu Fragen der britischen Europapolitik; kürzlich erschien ihr Aufsatz „Brexit: Warum stimmten 51,9 Prozent der britischen Wähler für den EU-Austritt?“ in der Studie „Die Zukunft Europas in einer Welt im Umbruch“.

HSS

Am Dienstagabend fand die vermutlich wichtigste Abstimmung im Unterhaus seit Jahrzehnten statt. Die Abgeordneten des britischen Parlaments votierten mit 432 zu 202 Stimmen gegen den von der EU und der Regierung des Vereinigten Königreichs ausgehandelten Austrittsvertrag. Großbritannien wird in zehn Wochen – am 29. März 2019 – die Europäische Union verlassen. Nun ist Eile geboten, neue Kompromisslinien auszuloten und das gescheiterte Austrittabkommen so zu überarbeiten, dass dieses die Zustimmung der Parlamentarier im House of Commons noch rechtzeitig erhalten wird. Sollte dies nicht gelingen, scheidet das Vereinigte Königreich ohne Abkommen, also ungeregelt aus der EU aus, was schwerwiegende negative Folgen für die Menschen und die Wirtschaft in Großbritannien hätte und zudem den fragilen Frieden in Nordirland bedroht.

Die Ablehnung des Austrittsabkommens fiel deutlicher als erwartet aus. Lediglich 196 Politiker der Conservative Party, drei der Labour-Fraktion und weitere drei unabhängige Abgeordnete konnten sich zu einem Ja durchringen. Lange war sowohl von Premierministerin Theresa May als auch von EU-Vertretern der Eindruck erweckt worden, bei dem ausgehandelten und am Dienstag zur Abstimmung gestandenen Austrittsabkommen handele es sich um den bestmöglichen Deal für beide Seiten. Lässt man die apodiktischen Brexiteers im Parlament außer Acht, so teilen moderate Kräfte unter den Abgeordneten sogar weitgehend diese Sichtweise; allerdings gibt es einen großen Knackpunkt: Der Backstop ist für viele britische Politiker in der verhandelten Form nicht akzeptabel.

Großbritannien muss einsehen, dass Austrittsverhandlungen keine Rosinenpickerei sind. Zu glauben, als ausscheidendes Mitglied grundlegende Aspekte zum eigenen Interesse durchsetzen zu können, war eine völlig falsche Erwartungshaltung und gilt auch für die kommenden Tage und Wochen. Es ist davon auszugehen, dass das Austrittsabkommen nachverhandelt und in einigen wenigen Punkten wie dem Backstop verändert wird.

Worum geht es beim Backstop? Um Grenzkontrollen zwischen der Republik Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland zu verhindern, um einer Entfesselung neuer Gewalt zwischen lange verfeindeten Katholiken und Protestanten vorzubeugen, sieht der gescheiterte Austrittsvertrag vor, dass Nordirland nach dem vollzogenen Brexit im Binnenmarkt der Europäischen Union verbleibt, während alle anderen Landesteile des Vereinigten Königreichs diesen verlassen.

Sollte es bis zum Ende der Übergangsphase am 31.12.2020 keine weiterführenden Regeln (z.B. in einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien) geben, die Kontrollen auch zukünftig überflüssig machen, so sollte als Notlösung der Backstop in Kraft treten. Die nötigen Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland waren dezentral in den Betrieben geplant gewesen. Eine Kündigung des Backstop setzte die Zustimmung beider Parteien, der EU und Großbritanniens, voraus, was zu scharfer Kritik im Unterhaus führte.

Premierministerin May hatte darüber hinaus eine zeitliche Begrenzung des Backstop gefordert, konnte sich mit diesem Anliegen gegenüber der EU jedoch nicht durchsetzen, weil die EU in dieser Frage nicht nur eine einheitliche Linie verfolgte, auf die sich alle verbleibenden 27 Staaten hatten einigen können, sondern die Interessen seines Mitglieds Irland behauptete. Durch den Backstop sehen zahlreiche britische Politiker die Einheit des Vereinigten Königreichs in Gefahr; eine neue innerstaatliche Trennlinie zwischen Nordirland und dem Rest des Landes würde entstehen. Seit dem Unabhängigkeitsreferendum in Schottland wird die Fragestellung der territorialen Einheit wieder emotional geführt.

Auf Hochtouren wird in den nächsten Tagen nach Kompromisslinien gesucht werden müssen, die für die EU akzeptabel sind und gleichzeitig die britischen Abgeordneten derart zufrieden stellen, dass sie einem überarbeiteten Austrittsabkommen werden zustimmen können. Denkbar ist etwa eine Absichtserklärung der EU, ein nicht zu fernes Datum zu benennen, bis zu welchem ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien erzielt werden soll. Damit wäre der Backstop de facto befristet, ohne dass man einen Termin, bis zu dem der Backstop gilt, explizit im Vertrag verankern muss. Ob sich die britischen Parlamentarier mit solch einer Absichtserklärung der EU zufrieden geben, ist äußerst fraglich. Die Gefahr einer erneuten Ablehnung im House of Commons würde in diesem Fall bestehen bleiben.

Großbritannien wird aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer zeitlichen Begrenzung des Backstop beharren, was Kompromissbereitschaft der EU und vor allem Irlands voraussetzt. Noch ist die Republik Irland nicht zu Zugeständnissen bereit und lehnt eine Befristung kategorisch ab. Sollte es in dieser Frage tatsächlich zu Bewegung kommen, wäre es natürlich für die EU ganz besonders heikel, einem austretenden Mitglied, also einem künftigen Drittland, zulasten eines verbleibenden Mitgliedslandes entgegenzukommen. Mitglieder wie Irland mit einer eher geringen Einwohnerzahl im Vergleich zu bevölkerungsreichen Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien oder Großbritannien gerieten in einer immer größer werdenden EU oftmals ins Hintertreffen. Seit Jahren treibt gerade kleine Mitgliedsstaaten in der EU die Frage um, ob ihre Interessen in der Gemeinschaft ausreichend wahrgenommen und berücksichtigt werden. Der Backstop könnte zum Präzedenzfall werden. Die irische Regierung ließ verlauten, dass sie einen ungeregelten EU-Austritt Großbritanniens gegenüber einem zeitlich befristeten Backstop favorisiere. Da die anderen 26 EU-Länder diese Sichtweise keineswegs teilen, liegt hier ein schwerwiegender Dissens innerhalb der EU vor. Bisher überzeugten die EU-Verhandlungsführer mit und wegen der Einigkeit der verbleibenden Mitglieder. Entgegenkommen gegenüber dem Vereinigten Königreich riskiert diese Eintracht.

Ferner kündigte die irische Regierung an, auch bei einem ungeregelten Brexit auf Grenzkontrollen verzichten zu wollen. Dies könnte in letzter Konsequenz sogar zu einem Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Irland mit erheblichen Folgen für irische Exporte führen. Irische Lebensmittel und vor allem Butter werden von zahlreichen EU-Staaten importiert. Frankreich könnte in diesem Fall irische Einfuhren temporär nicht mehr dulden, womit sich der französische Präsident Emmanuel Macron bei den momentan demonstrierenden heimischen Bauern und der Gelbwesten-Bewegung beliebt machen könnte, würde er die Absatzchancen für französische Produkte im eigenen Land doch so verbessern helfen. Mit diesen denkbaren Folgen konfrontiert, könnte Irland seine ablehnende Haltung zu einer Befristung des Backstop aufgeben, was eine Überarbeitung des Austrittsabkommens in dieser wichtigen Frage ermöglichte und die Chancen für eine Annahme im britischen Parlament deutlich erhöhte.

Eine weitere Option wird als „Norwegen plus“ beschrieben, setzt allerdings die Abkehr von bisherigen roten Linien der britischen Regierung voraus. Angelehnt an das Modell Norwegen, das einem Land, das sich zur Vollmitgliedschaft in der EU nicht durchringen kann, gewährt, aus ökonomischen Gründen Teil des EU-Binnenmarkts zu werden, könnte Großbritannien mit dem Ausscheiden aus der EU in die Europäische Freihandelsassoziation EFTA eintreten, um so im  Binnenmarkt zu verbleiben. In den Monaten nach dem Brexit-Referendum war dieses Szenario als Perspektive für einen so genannten „weichen Brexit“ bereits diskutiert worden. Premierministerin May hatte sich nach der Brexit-Volksabstimmung wegen der Freizügigkeitsregeln des EU-Binnenmarkts gegen einen Verbleib ausgesprochen, weil dies bedeutet hätte, dass das Vereinigte Königreich auch nach dem Ausscheiden aus der EU Zuwanderung akzeptieren müsste und nicht eigenmächtig begrenzen dürfte.  Man spricht von „Norwegen plus“, da  Großbritannien zur Abwendung eines Backstop daneben in der Zollunion verbleiben könnte, was die gesamte Diskussion um einen Backstop hinfällig machte. Mitglieder der Zollunion dürfen jedoch keine eigenen Freihandelsabkommen schließen. Zwei auch in der Kampagne vor dem Referendum genannte Argumente, mit einem Brexit müsse Großbritannien die Rechte erhalten, bilaterale Freihandelsabkommen eigenständig verhandeln zu können und zukünftig selbst darüber zu entscheiden, wer ins Vereinigte Königreich einwandere, müssten fallengelassen werden. Im Unterhaus gibt es eine beträchtliche Anzahl an Abgeordneten mit Sympathien für einen weichen Brexit. May müsste besonders jene Politiker aus Oppositionsfraktionen für ihren Kurs gewinnen, verlöre aber gleichzeitig Anhänger eines geregelten harten Brexit aus den Reihen ihrer eigenen Fraktion, was die „Norwegen plus“-Option als eher unwahrscheinlich erscheinen lässt.

Die Zeit drängt. Noch ist es zu früh, Entwarnung zu geben. Ein ungeregelter Brexit am 29. März 2019 ist weiter möglich. Dieser würde zu großen Unsicherheiten führen, weil all die Rechte für EU-Bürger in Großbritannien und Übergangsbestimmungen für die Wirtschaft obsolet wären. Chaotische Verhältnisse im Flug- und Warenverkehr sind ebenfalls zu erwarten. Es müssten sofort Zölle erhoben und Zollkontrollen durchgeführt werden. Nahrungsmittel und Medikamente könnten knapp werden. Mittelfristig drohen eine steigende Arbeitslosigkeit und eine Rezession.

Noch äußert May die Überzeugung, am Zeitplan festzuhalten. Sie setzt wegen der Sorge aller Beteiligten vor einem ungeregelten Brexit auf das zügige und umfassende Entgegenkommen beim Backstop und möchte den überarbeiteten Austrittsvertrag Anfang März 2019 erneut im Unterhaus zur Abstimmung stellen. Das Austrittsdatum am 29. März 2019 kann wegen der Europawahl im Mai 2019 ohnehin nur minimal verschoben werden. Scheidet Großbritannien nicht bis zur konstituierenden Sitzung des neu gewählten Europäischen Parlaments aus, müsste es an der Europawahl partizipieren. Insofern ist ein Ausscheiden bis Juni 2019 unerlässlich.

Ein zweites Referendum, das der britischen Bevölkerung erneut die Fragestellung vorlegt, ob das Vereinigte Königreich in der EU verbleiben oder austreten soll, wird in Kontinentaleuropa stärker erörtert als auf den britischen Inseln. Noch deutet wenig auf eine neue Volksabstimmung hin.

Onlineredaktion/Internet
Maximilian Witte
Redakteur
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