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Französische Atomwaffen und Militärdoktrin
Epoche der Disruption

Emanuel Macron versteht die Gegenwart als die "Epoche der Disruption" und besinnt sich in seiner Rede in der "École de guerre" in Paris auf nationale Tugenden, beschwört aber auch die internationale regelbasierte Zusammenarbeit. Die Sicherheit Frankreichs ist für ihn eng mit der Sicherheit Europas verbunden. Eine Analyse.

Am Freitag, 7. Februar hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Rede zur französischen Militär- und Atomwaffendoktrin gehalten. Als erster Präsident seit Charles de Gaulle wählte er dafür wieder die Kriegsschule (École de guerre) in Paris, die Ausbildungsstätte für die höchsten Chargen der französischen Streitkräfte. In seiner gut einstündigen Rede umriss der Präsident in seiner Funktion als – parlamentsunabhängiger – Oberbefehlshaber die Leitlinien der Sicherheits- und Verteidigungspolitik seines Landes im Kontext einer „beschleunigten Zerfaserung der internationalen Rechtsordnung“.

Viele Männer in Uniform in einem Saal. Zuhörend.

Das militärische Establishment Frankreichs steht Macron durchaus kritisch gegenüber. Das liegt etwa an dem Verkauf des Turbinenherstellers Alstom oder der Zwangspensionierung eines angesehenen Generals.

©HSS

Macron sprach auch den Zustand des Multilateralismus an, die Fähigkeit zur Normsetzung oder die Infrastruktursicherheit. Fasste man die Rede im Stile eines Inhaltsverzeichnisses zusammen, käme etwa Folgendes dabei heraus:

  1. Die Gegenwart als eine Epoche der Disruption („rupture“)
    • Strategisch – Neue Großmächte, neue Großmachtrivalitäten
    • Normativ – Rückzug des regelgeleiteten Multilateralismus zugunsten von Machtpolitik
    • Technologisch – die Digitalisierung als Souveränitätsproblem
  2. Die vier Pfeiler der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
    • Stärkung des Multilateralismus
    • Pflege (bilateraler) strategischer Partnerschaften
    • Entwicklung europäischer Autonomie
    • Erhalt der nationalen Souveränität Frankreichs
  3. Blick auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen
    • Schutz von Staatsgebiet und -bürgern
    • Ordnungsverlust und failed states
    • Gefahr ungewollter Eskalationen

Nur wenige Tage vor der Münchener Sicherheitskonferenz (14.-16. Februar), zu der er anreisen und ebenfalls eine Rede zur Sicht seiner Regierung auf die internationale Lage halten wird, hat Macron die französische Sicherheitsdoktrin dargelegt. Eine nicht nur inhaltlich delikate Angelegenheit: Das militärische Establishment ist ihm nicht uneingeschränkt gewogen, einerseits wegen seines Eingriffs bei dem Verkauf des strategisch wichtigen Unternehmens Alstom (dazu gleich), aber besonders, weil Macron die Kritik des hochanerkannten Generalstabschefs Pierre de Villiers an seiner Budgetpolitik nicht goutierte – und sie mit dessen Versetzung in den Zwangsruhestand quittierte (Juli 2017).

Während Macron in seiner Rede an der École de guerre auch nicht-militärische Themenfelder mit einbezog, blieben die Verwerfungen im globalen Wirtschaftsgeflecht außen vor, die gerade in letzter Zeit zwischenstaatliche Beziehungen belastet haben. Dem Weltwirtschaftsforum in Davos letzten Monat war Macron ferngeblieben; abzuwarten bleibt, ob er die wirtschaftlichen Aspekte der internationalen Sicherheit auf der Münchener Sicherheitskonferenz ansprechen wird.

Der Élysée-Blick auf eine Epoche der Disruption

Strategisch: Als entscheidend für die Positionierung Frankreichs und Europas in den kommenden Jahren bezeichnete Macron die Entwicklung der Rivalität zwischen den USA und China mit ihren jeweiligen Versuchen der Einflussnahme auf dem Alten Kontinent. Gerade für die Fähigkeit Europas, sowohl in Richtung seiner östlichen wie seiner südlichen Nachbarschaft autonom handeln und seine (auch nicht-militärische) Sicherheit wahren zu können, berge dies wesentliche Herausforderungen. Die „Verwischung der Grenzen von Wettbewerb [compétition] und Gegnerschaft [confrontation]“ trage erheblich zu dieser Lage bei, was wiederum das Risiko einer Abwärtsspirale in sich trage. Hinzu komme die „nukleare Multipolarität“ und fortschrittliche Raketentechnologie, die es auch entfernt gelegenen Regionalmächten ermögliche, auf europäisches Gebiet zu zielen.

Normativ: Macron beklagte die Zerfaserung des rechtsgeleiteten Multilateralismus, die teilweise sogar unter dem rhetorischen Deckmantel der „Rechtswahrung“ stattfinde. Er unterstrich aber, dass Frankreich an der rechtlichen Ordnung der internationalen Beziehungen festhalte. Auch bleibe das Völkerrecht für die große Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten von vitaler Bedeutung, insbesondere, wenn ihr Machtpotenzial begrenzt ist. Dieser strukturelle Wert des Rechts sei ein zusätzlicher Grund für Frankreich, weiterhin für ein regelgeleitetes internationales System einzutreten.

Technologisch: Hinsichtlich der Souveränität bei den aktuellen und künftigen Technologien (wie cloud-computing, Datenspeicherung, 5G-Netz) diagnostizierte Macron eine gerade in Europa lange verbreitete Fehlwahrnehmung, nämlich die Behandlung solcher technologischer Fragen als (rein) wirtschaftliche oder industrielle, statt auch als sicherheitspolitische. Dasselbe gelte auch für kritische Infrastrukturen. Diese Darlegung ist umso interessanter, als sich damit der Präsident Macron abgrenzt vom Wirtschaftsminister Macron – so jedenfalls sieht es aus. Als Wirtschaftsminister (2014-16) und vor allem zuvor als Wirtschaftsberater des Präsidenten François Hollande (2012-14) hatte Macron namentlich den Verkauf der strategisch wichtigen Energiesparte des französischen Konzerns Alstom an das US-Unternehmen General Electric forciert – was bis heute im französischen Sicherheitsestablishment in sehr schlechter Erinnerung geblieben ist. Der Turbinenhersteller für Frankreichs Kernkraftwerke (die gut 70% des Stroms produzieren), aber auch für den Flugzeugträger Charles de Gaulle steht nun unter amerikanischer Kontrolle.

Die vier Pfeiler der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik

1. Multilateralismus: In seiner Rede bekräftigte Macron, dass das internationale Recht die Basis friedlicher Koexistenz sei. Umso nötiger erscheine es, dass Europa und die EU dieses Recht mitgestalten können, damit es nicht „über ihre Köpfe hinweg“ ausgehandelt und gesetzt werde. Unter sicherheitspolitischem Blickwinkel bedürfe es hierfür, scheinbar paradoxerweise, sowohl der multilateralen Rüstungskontrolle wie auch der Stärkung der europäischen Rüstungsfähigkeit: „Die Demokratie und das Recht können ohne force(s) nicht lange bestehen“; der Begriff kann hier sowohl als force („Stärke“, im Sinne von Wehrhaftigkeit) wie auch als forces („Streitkräfte“) verstanden werden. Um bei der internationalen Normsetzung – auch derjenigen zur Abrüstung – mitreden zu können, müssten Europas Staaten also über militärisches Gewicht verfügen.

2. Strategische Partnerschaften: Sie bilden die bilaterale Komponente der französischen Sicherheitspolitik. Durch solche Partnerschaften gelte es, die französischen Interessen zu wahren – egal, in welchem Winkel der Erde. Als Beispiele nannte Macron die Verträge von Lancaster House, welche die französisch-britische militärische Zusammenarbeit seit 2010 tragen, sowie die privilegierte Zusammenarbeit z.B. mit Japan, Australien oder auch Indien im indopazifischen Raum. Diese Komponente ist schon seit Jahrzehnten von besonderer Bedeutung für Frankreichs Regierung, da es durch seine überseeischen Gebiete (die „dom-tom“: départements outre-mer und territoires outre-mer) global präsent ist, was in innereuropäischen Debatten gerne vergessen wird. Aufgrund dieser Gebiete verfügt Frankreich über die größte maritime „ausschließliche Wirtschaftszone“ (die exclusive economic zone des internationalen Seerechtsübereinkommens) der Welt, noch vor den USA.

3. Europäische Autonomie: Bereits im Wahlkampf trat Macron für eine Stärkung der EU und der staatlichen Zusammenarbeit innerhalb der EU ein. In seiner vielbeachteten Rede, die er – bereits als Präsident – an der Pariser Sorbonne (26. September 2017) gehalten hat, hat er diese Absicht in mehrere Punkte aufgeschlüsselt. Europas Verteidigungsautonomie war einer davon. In seiner Rede vor der École de guerre betonte er jetzt, dass dies nicht das Aufgehen der nationalen Armeen in einer europäischen sein könne, sondern in Form verstärkter Koordination auf nationaler Ebene geschehen müsse – von der Beschaffung bis hin zu den Einsätzen. Gerade hinsichtlich der europäischen Autonomie entwickelte Macron eine recht umfassende Vision: Sie müsse nicht nur im Bereich der „hard security“ verwirklicht werden, sondern auch bei der Normsetzung („US-dominiert“), bei der kritischen Infrastruktur wie z.B. Europas Häfen („teils chinesisch kontrolliert“) oder auch im Bereich der sozialen Netzwerke und der Telekommunikation („unter russischem Druck“). Da sowohl Besitz als auch Kontrolle über die kritische Infrastruktur unabdingbar seien, gelte es, Europas Selbstbestimmung auch im Bereich der Standardsetzung – wie bei 5G – oder hinsichtlich der industriellen Basis zu sichern. Man hört den Unterschied zu Macrons Haltung in seiner Zeit als Minister.

4. Nationale Souveränität: Die Verteidigungsfähigkeit sei „das Herzstück einer jeden politischen Gemeinschaft“; ohne könne sie nicht lange bestehen. In dieser Hinsicht war Macron besonders kritisch gegenüber der Politik der europäischen Regierungen seit dem Ende des Kalten Krieges, denn sie seien die einzigen gewesen, welche auch über die 1990er Jahre hinaus Abrüstung betrieben hätten – während sich in allen anderen Teilen der Welt der Trend bereits gewendet hatte. Frankreich habe seine atomare Rüstung bewusst beschränkt gehalten und werde dies auch weiterhin tun, was aber ein Aufgeben seiner Atomwaffen mindestens solange ausschließe, bis das auch die anderen Nuklearmächte täten – allen voran Russland (~7.300 Stück) und die USA (~7.000 Stück). Insofern bleibe auf absehbare Zeit Frankreichs nukleare Force de frappe einer der Eckpfeiler der französischen Sicherheit. Sie in eine etwaige europäische oder in die NATO-Kommandostruktur einzugliedern, schloss Macron aus. Sie bleibt eben der Eckpfeiler der nationalen Sicherheit.

Der Ausblick auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen

Diese nationale Sicherheit – die „vitalen Interessen des Landes“ sei keine bloß französische mehr. Wie schon Präsident Jacques Chirac vor ihm (im Jahr 2006) erklärte Präsident Macron, dass Frankreichs vitale Interessen alle „eine europäische Dimension“ hätten. Frankreich wie Europa als Ganzes stünden vor einer Reihe sicherheitspolitischer Herausforderungen mit teilweise weltweitem Ausmaß. Drei sprach Macron an, nämlich 1. den Schutz des eigenen Territoriums und der eigenen Bürger, also gewissermaßen die klassische „hard security“, die aber auch gegen asymmetrische Bedrohungen wie Terrorismus hergestellt werden müsse. Er sah zudem 2. einen zunehmenden Ordnungsverlust, namentlich durch failed states, wie auch auf dem Meer und im Weltraum (durch Untergrabung oder Kündigung internationaler Abkommen), was an seine eingangs gemachte Beobachtung der „beschleunigten Zerfaserung“ anschloss. Schließlich nannte er 3. die reelle Gefahr unbeabsichtigter Eskalationen, besonders in Stellvertreterkonflikten wie im Irak und in Syrien, die entgleiten und in eine direkte zwischenstaatliche Konfrontation münden könnten – oder gar in die Konfrontationen von Blöcken. Gerade vor diesem Hintergrund sei das Offenhalten und der Ausbau der Kommunikationskanäle zwischen den Mächten (aus europäischer Sicht auch und gerade mit Russland) enorm wichtig.

Autor: Dr. Philipp Siegert, HSS, Frankreich

Leiter Institut für Europäischen und Transatlantischen Dialog

Dr. Wolf Krug