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Migration, Flucht und Asyl
Herausforderung für das deutsche Gesundheitssystem

Menschen, die auf ihrer Flucht großen körperlichen und geistigen Belastungen ausgesetzt waren, werden in Deutschland versorgt. Die medizinische Arbeit mit Geflüchteten und Migranten ist eine vielschichtige Herausforderung. Wie ist Deutschland dafür aufgestellt?

Aktuell sind über 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, erklärt der Gründer von „Refudocs“, Dr. Mathias Wedenborn. Der Münchner Kinderarzt hat den „Verein zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen, Asylsuchenden und deren Kindern“ bereits 2014 gegründet, als sich die Flüchtlingskrise zuzuspitzen begann. Seitdem unterstützt der Verein vor allem in München die Behörden bei der Erstversorgung der neu ankommenden Flüchtlinge. Das war besonders 2015 unverzichtbar, als hunderttausende Asylsuchende über die sogenannte Balkanroute nach Europa drängten.

Dass sich eine solches Ereignis jederzeit wiederholen könnte, wird klar, sobald man sich die erbärmliche Situation der unzähligen Flüchtlinge entlang der südlichen Mittelmeerküste und besonders in Libyen ansieht oder die politischen Entwicklungen zwischen der EU und der zunehmend schwierigen türkischen Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan, der offen damit droht, die türkischen Grenzen für die etwa 2,5 Millionen Flüchtlinge zu öffnen, die sich dort derzeit durchschlagen müssen. Zudem sprechen die Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) eine deutliche Sprache: Weltweit sind aktuell über 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Mehr als 40 Millionen davon sind innerhalb der eigenen Länder als Binnenflüchtlinge unterwegs aber über 21 Millionen Menschen haben als Flüchtlinge ihre Heimat verlassen (davon allein 5,3 Millionen palästinensische Flüchtlinge unter UNRWA).

Auf Einladung der HSS wurde im Kloster Banz darüber debattiert wie gut das deutsche Gesundheitssystem auf die vielen Schutzsuchenden vorbereitet ist.

Auf Einladung der HSS wurde im Kloster Banz darüber debattiert wie gut das deutsche Gesundheitssystem auf die vielen Schutzsuchenden vorbereitet ist.

Isabel Küfer

Syrien, Afghanistan und Somalia

Ist man sich dieser Dimensionen bewusst, erscheint die knappe Million Schutzsuchender, die in Deutschland in den letzten zwei Jahren einen Asylantrag gestellt haben, relativ bescheiden. Das liegt auch daran, dass über die Hälfte der Flüchtlinge aus nur drei Ländern stammt: Syrien, Afghanistan und Somalia. Die Meisten finden in den jeweils angrenzenden Staaten eine unsichere Zuflucht. So hat nach der Türkei Pakistan mit 1,6 Millionen die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Auf Platz drei steht bereits der winzige Libanon, der mit seiner Bevölkerung von nur 6,2 Millionen mehr als 1,1 Millionen Flüchtlinge beherbergt, ganz ähnlich wie im an Syrien grenzenden Königreich Jordanien, wo über eine Million Geflüchteter teilweise in riesigen Zeltstädten in der Wüste ausharren muss. 

All dies sagt Wendeborn nicht, um die Leistung Deutschlands klein zu reden. Immerhin hat Deutschland innerhalb der EU mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufgenommen und dabei sogar humanitäre Notwendigkeiten über geltendes Recht gestellt. Außerdem sind die Standards bei der Versorgung der Asylbewerber hierzulande natürlich höher als in den von Krisen gebeutelten Ländern der arabischen Welt. Eine echte Herausforderung für unser Land, gerade auch für das deutsche Gesundheitssystem.

Die Erstuntersuchung umfasst in Deutschland eine verpflichtende ärztliche Untersuchung auf übertragbare Krankheiten, einschließlich einer Röntgenaufnahme der Lungen, um etwaige Tuberkulose oder andere übertragbare Infektionskrankheiten festzustellen. Das würde eine Unterbringung in den Gemeinschaftsunterkünften unmöglich machen. Auch alle empfohlenen Schutzimpfungen sollen sichergestellt werden. Impfskeptiker gibt es unter den Asylbewerbern glücklicherweise kaum. Darüber hinaus haben Asylbewerber das humanitäre Recht auf die Behandlung akuter Erkrankungen.

Dr. Mathias Wendeborn, Gründer des Vereins "Refudocs"

Dr. Mathias Wendeborn, Gründer des Vereins "Refudocs"

Isabel Küfer

Nur ein großes, gut vernetztes Team kann die Erstversorgung gewährleisten

Neben der gesetzlich vorgeschriebenen Erstuntersuchung benötigen die Flüchtlinge oft eine rasche medizinische Versorgung akuter gesundheitlicher Probleme. Ein Recht auf Behandlung besteht für die Geflüchteten als Teil ihres Menschenrechtes auf Gesundheit vor allem in Bezug auf akute Erkrankungen, Schwangerschaft und Geburt. „Doch auch nach der Erstuntersuchung gibt es oft gute Gründe, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen“, merkt Wendeborn an. Für diese Fälle wird die Frage der Versorgung schon komplizierter. „Welcher Arzt ist verantwortlich? Finden sich die Flüchtlinge in unserem Gesundheitssystem zurecht?“ Hier erkannte Wendeborn schon 2014 eine bedeutende Lücke in unserem Gesundheitssystem und gründete „Refudocs“. Mit Hilfe vieler befreundeter Ärzte, Pflegepersonals, engagierter Helfer und empathischer Spender leistet der von der Landeshauptstadt finanziell unterstützte Verein mittlerweile einen Großteil der medizinischen Erstversorgung in und um München. „Ohne die gute Zusammenarbeit mit den Münchner Behörden wäre diese Aufgabe nicht zu bewältigen“, betont Wendeborn. Refudocs gründet sich auf drei Prinzipien: 

  1. Accessibility – Zugänglichkeit: es soll ein niedrigschwelliger Zugang zu Gesundheitsleistungen geschaffen werden; 

  2. Availability – Verfügbarkeit: die Versorgung soll sich möglichst unbürokratisch gestalten. Es werden zum Teil zuzahlungsbefreite oder spendenfinanzierte Medikamente ausgegeben;

  3. Adequacy – Angemessenheit: eine problemorientierte, kultursensible, durch Dolmetscher unterstützte Betreuung des Patienten auch zur Weiterleitung ins Regelsystem soll gewährleistet sein, zum Beispiel beim Übergang von ambulanter in stationäre Versorgung im Krankenhaus.

Dieser Aufgabe stellt sich Refudocs zusammen mit einem großen Team aus Ärzten, Krankenschwestern, dem Sozialdienst, der Caritas, Dolmetschern und einem Heer von Freiwilligen. Für ihr Engagement wurde Mathias Wendeborn und seinem Team 2016 der bayerische Gesundheitspreis verliehen. 

Erschwert wird die Arbeit von Refudocs und ähnlichen Organisationen durch das 2016 verabschiedete „Asylpaket II“. Dr. Eike Hennig, Leiter des Gesundheitsamtes der Landeshauptstadt Magdeburg hat einen guten Überblick über die praktischen Auswirkungen politischer Entscheidungen. „In Bezug auf gesundheitliche Faktoren hat das Asylpaket II die Situation der Flüchtlinge deutlich verschlechtert“, so Hennig. Aktuell dürfen auch Geflüchtete mit gesundheitlichen Problemen abgeschoben werden, Krankenhausaufenthalte gelten als „aufschiebbar“ und die unter Kriegs- und Fluchtopfern häufig vorkommende „Posttraumatische Belastungsstörung“ wird nicht als schwere Erkrankung anerkannt, was Abschiebungen der betreffenden Personen verhindern würde.

Als Leiter eines Gesundheitsamtes hat Dr. Eike Hennig einen guten Überblick über die Krankheitszahlen bei Flüchtlingen

Als Leiter eines Gesundheitsamtes hat Dr. Eike Hennig einen guten Überblick über die Krankheitszahlen bei Flüchtlingen

Isabel Küfer

Asylanten genauso gesund oder krank wie Deutsche

Als Leiter eines Gesundheitsamtes hat Eike Hennig einen guten Überblick über die Krankheitszahlen und die Ursachen der Erkrankungen bei Flüchtlingen und der deutschen Bevölkerung. Die häufigsten Krankheiten, die bei Flüchtlingen vorkommen, spiegeln die Erkrankungen der einheimischen Bevölkerung wieder. Auch seien unter den Flüchtlingen keine besonderen Tropenerkrankungen festzustellen, von Einzelfällen abgesehen. Stattdessen kommen über 90% der Krankheiten ebenso in unseren Breiten vor. Flüchtlinge importieren also nicht, wie von manchen gefürchtet, gefährliche Tropenkrankheiten nach Deutschland. „Es kann mit gutem Recht gesagt werden, dass Flüchtlinge keine besondere Gefahr für unsere einheimische Bevölkerung darstellen und sich auch die Folgekosten für Gesundheitsleistungen im Rahmen halten“, sagt Hennig. Etwas anders sieht es bei psychischen Traumata und durch die belastenden Fluchterlebnisse verursachten Stress-Störungen aus. Kinder und Erwachsene sind davon gleichermaßen betroffen. Eine Untersuchung zur Posttraumatischen Belastungsstörung bei Geflüchteten hat ergeben, dass bis zu 70% der Erwachsenen und 41% der Kinder Zeuge von Gewalt wurden. Etwa jedes vierte Kind mussten den Anblick von Leichen ertragen, 38% haben Krieg selbst miterlebt und jeder fünfte Erwachsene und etwa 5% der Kinder waren Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Die Auswirkungen solcher Traumatisierungen und das Leid der Betroffenen lassen sich kaum ermessen.

Psychhologin Sarah Leistner stellt das Flüchtlingsprojekt des Max-Planck-Institituts vor

Psychhologin Sarah Leistner stellt das Flüchtlingsprojekt des Max-Planck-Institituts vor

Isabel Küfer

RefPsych

Eine Schwachstelle in der Gesundheitsversorgung für Asylanten in Deutschland liegt in den bundesweit ohnehin strapazierten Ressourcen für psychologische Betreuung und Behandlung. Ein einheitlicher Fahrplan, wie dieser Mangel an Angeboten zur psychologischen Versorgung behoben werden könnte, existiert nicht. Erste Schritte in Richtung des Aufbaus effizienter Strukturen geht die Diplompsychologin Sarah Leistner vom Max-Planck-Institut. In ihrem Projekt „RefPsych“ werden Helfer im Umgang mit psychisch belasteten Flüchtlingen geschult, indem Wissen über die Symptome psychischer Erkrankungen und zu praktischen Methoden zur Stressbewältigung bei Flüchtlingen und den Helfern selber vermittelt. Den Einzelfall differenziert zu betrachten ist dabei besonders wichtig, denn jeder Mensch besitzt ein ganz individuelles Maß an Verletzbarkeit oder Anfälligkeit für pathologische Reaktionen auf belastende Situationen. Es gibt Flüchtlinge, die vergleichsweise gut mit den erlebten Grausamkeiten von Folter (bis zu 38% der Erwachsenen), Krieg und Vergewaltigungen umgehen können, während andere schon während oder kurz nach dem Durchleiden der traumatisierenden Situation akute Belastungsreaktionen mit nachfolgender Erkrankung an der „posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS) oder Depressionen zeigen. Hier ist die Politik gefordert, in Zukunft eine psychologische Versorgung der Bevölkerung und der Flüchtlinge flächendeckend sicherzustellen, um Selbstmord, akuten Psychosen, Eigen- und Fremdgefährdung vorzubeugen.

Thomas Löscher, Spezialist für Tropen- und Infektionskrankheiten

Thomas Löscher, Spezialist für Tropen- und Infektionskrankheiten

Isabel Küfer

Reiselust Ursache steigender Zahl an Tropenkrankheiten

Eine weitere Säule des deutschen Gesundheitssystems sind die Tropeninstitute. Auch wenn viele jener exotischer Erkrankungen wie das „Middle-East-Respiratory-Syndrom“ (MERS, ein durch Kamele übertragbares Coronavirus), das „Läuse-Rückfallfieber“ oder Malaria vor allem in den Tropen selbst vorkommen und man meinen sollte, dass diese Krankheiten hiesige Ärzte kaum beschäftigen, muss man sich vergegenwärtigen, dass es allein 2015 weltweit 1,184 Milliarden individuelle Flugreisen gegeben hat.

Allein die Deutschen haben 81 Millionen Auslandsflugreisen unternommen, davon vier Millionen in tropische oder subtropische Gebiete. In der Folge zeigt zum Beispiel die Tuberkulose in Deutschland seit 2012 wieder steigende Zahlen, wobei etwa 3% der Fälle MDR, also Multiresistenzen entwickelt haben, was eine Behandlung mit gängigen Antibiotika unmöglich macht. Möglichkeiten zur Vorbeugung gegen die meisten Tropenkrankheiten: „Schutzimpfungen,  Mückenspray oder Mosquitonetze“, rät Prof. Dr. Löscher, Experte für Infektions- und Tropenmedizin in München.

Christine Schanze berichtet von ihrer Projektarbeit in Afrika

Christine Schanze berichtet von ihrer Projektarbeit in Afrika

Isabel Küfer

Vor Ort: Ärzte ohne Grenzen

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) verfolgt das Ziel, in Krisensituationen humanitäre und medizinische Nothilfe zu geben und ein Sprachrohr für die Menschen in Not zu sein. Gegründet wurde MSF in der 1970er Jahren und hat zahlreiche Einsätze rund um den Globus zu verzeichnen. In den 1990er Jahren wurde MSF dafür mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Für ihre Arbeit verfolgt MSF wichtige Grundprinzipien: finanzielle Unabhängigkeit, Unabhängigkeit von Parteien und Neutralität in Konflikten. Ärzte ohne Grenzen finanziert sich deswegen hauptsächlich über Spenden. „Bei unseren Einsätzen geht es in erster Linie darum, das vor Ort agierende Gesundheitspersonal zu schulen“, sagt Christine Schanze von Ärzten ohne Grenzen, die hauptberuflich als Krankenschwester am Klinikum Bremen Mitte arbeitet. Seit einigen Jahren nimmt sie immer wieder an internationalen Einsätzen der Organisation teil. Erst kürzlich war sie an einem Einsatz auf der griechischen Mittelmeerinsel Lesbos beteiligt und arbeitete unter schwierigen Umständen in einem der überfüllten Flüchtlingslager. „Unsere europäischen Mitarbeiter übernehmen hauptsächlich die Organisation als Projektmanager. Die Arbeit am Patienten wird vor allem durch die einheimischen Mitarbeiter ausgeführt“, so Schanze. Dafür werden in den Flüchtlingslagern und in größeren Orten Gesundheitsposten eingerichtet, in denen die fundamentale Gesundheitsversorgung gewährleistet wird. Hier können im Schnitt bis zu 500 Patienten pro Tag behandelt werden. „Mütter und Kinder haben dabei Vorrang.“ 

Der in Krisengebieten allgegenwärtige Mangel an moderner Infrastruktur zur medizinischen Diagnostik wird durch leicht verfügbare Schnelltests und die Expertise der anwesenden Ärzte oder durch erfahrenes Pflegepersonal so weit wie möglich ausgeglichen. Die Logistik für die Lieferung essentieller Medikamente ist dabei eine große Herausforderung, besonders bei der Sicherung der Kühlkette während des Transportes in heiße Regionen. Neben der Behandlung akuter Erkrankungen wird auch im Rahmen von Impfkampagnen und ernährungsmedizinischen Schulungen verschiedenen Erkrankungen vorgebeugt. Darüber hinaus ist hygienisch sauberes Wasser elementar, sodass sich MSF auch mit der Wasserversorgung vor Ort, der Errichtung von sanitären Anlagen und mit Abfallmanagement beschäftigt. Chirurgische Programme sichern vor allem die geburtshilfliche Versorgung der betroffenen Menschen und helfen bei leichten Verletzungen oder infizierten Wunden. Das ganze Programm von MSF wird durch psychosoziale Maßnahmen abgerundet.

Unsere Betrachtung zeigt, dass die Flüchtlingskrise von 2015 eine große, vor allem organisatorische Herausforderung für das deutsche Gesundheitssystem bedeutete. Ohne den Einsatz von vorerst ehrenamtlichen und später durch öffentliche Behörden mitfinanzierte Vereinen wie  Refudocs, der Arbeit der Behörden (Gesundheitsämter, etc.) oder der Arbeit vor Ort durch Ärzte ohne Grenzen, wären die bisher erreichten Erfolge nicht denkbar gewesen. In Zukunft sollten sich die verschiedenen Akteure aus Politik und Gesundheitswesen vor allem der Problematik der psychologischen und psychiatrischen Betreuung der Geflüchteten sowie dem Übergang von der Erstversorgung in das reguläre Gesundheitssystem widmen.

Autor: Jakob Adler

Universitätsförderung MINT und Medizin
Isabel Küfer, M.A.
Leiterin
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