Print logo

Brexit Update
Theresa May verliert erneut Abstimmung über Austrittsabkommen

Nach der historischen Niederlage im Januar hat die britische Premierministerin am Dienstag Abend eine weitere politische Schlappe im Unterhaus erlitten. 391 Abgeordnete stimmten gegen das von ihr mit der EU verhandelte Austrittsabkommen, nur 242 dafür. Damit herrscht 16 Tage vor dem geplanten EU-Austritt Großbritanniens weiterhin große Unsicherheit und die politische Krise vertieft sich.

Die erneut deutliche Niederlage für Theresa May, der es trotz zusätzlicher rechtlicher Garantien aus Brüssel gestern Abend lediglich gelungen war, seit der letzten Abstimmung über das Austrittsabkommen im Januar 40 Tories zur Zustimmung zu bewegen, sorgt für allgemeine Ratlosigkeit und Frustration. 

Das Parlamentsgebäude in London mit Demonstranten davor

Heute Abend stimmt das Unterhaus ab, ob ein No-deal-Szenario ausgeschlossen werden soll. Dafür hat Theresa May den Fraktionszwang aufgehoben.

A.Richter; HSS

"Remainer" und "Brexiteers" jubeln gemeinsam...

Als die Demonstranten vor dem Parlament das Ergebnis über Lautsprecher kurz vor halb Acht erreichte, wurde auf beiden Seiten gejubelt – die Remainer weil sie auf ein zweites Referendum und die Verhinderung des Brexits hoffen, die Brexiteers da sie den Deal als unfair für ihr Land ansehen und eher ein Verlassen der EU ohne Abkommen hinnehmen würden. Die meisten Abgeordneten verschwanden nach der Abstimmung direkt in ihre Büros oder den „Tea Room“, zu dem Journalisten keinen Zutritt haben, um hinter verschlossenen Türen die weiteren Schritte zu planen. Den einen oder anderen Staatssekretär sah man trostlos durchs Fenster auf die Themse blicken. Der Rest traf sich - typisch britisch – an der Bar, um bei ein paar Pints den Abend vergessen zu machen oder zu feiern. Am Ende hatte der Abend jedoch keinen Gewinner, denn die Gegner des Abkommens nehmen in Kauf, dass ihr Land damit ungeregelt aus der EU austritt, was katastrophale Konsequenzen für die Wirtschaft zur Folge hätte.

Am heutigen Mittwoch Abend folgt eine weitere wichtige Abstimmung bei der die meisten Abgeordneten hoffen, genau ein solches no deal Szenario zu verhindern. Theresa May kündigte in ihrer Erklärung nach der Niederlage an, die Fraktionsdisziplin für die heutige Abstimmung aufzuheben, wohl wissentlich, dass Mitglieder ihres Kabinetts sonst zurücktreten würden - eine Rücktrittswelle wäre das Letzte, das Theresa May momentan gebrauchen kann. Prognosen legen nahe, dass eine Mehrheit des Parlaments gegen Austritt ohne Abkommen stimmt.

Für die Premierministerin ist es ein besonders harter Tag, da sie sich zunächst mittags dem Parlament zu Prime Ministers Questions stellen musste und nur während des Spring Statements, der jährlichen Erklärung zum Haushaltsentwurf des Schatzministers, Luft holen konnte. Aufgrund stimmlicher Probleme wurde die anschließende Debatte über ein no deal Szenario im Unterhaus von Umweltminister Michael Gove, einem der führenden Brexiteers der Referendums-Kampagne aber zuletzt großen Verfechter des Abkommens, eröffnet. Beobachter spekulierten daraufhin sofort, ob dies ein Zeichen für die Nachfolgeregelung Mays sei, über die immer lauter diskutiert wird. 

Demonstrierende Briten in den Straßen Londons mit Plakaten

May will es dem Parlament überlassen, ob ein Brexit ohne Deal ausgeschlossen werden soll oder nicht.

A.Richter; HSS

Problem des "Backstops" bleibt ungelöst

Der von der Regierung vorgelegte Antrag für die heutige Abstimmung ist bewusst vage formuliert („Das Unterhaus lehnt eine Zustimmung zum Verlassen der EU am 29. März ohne Austrittsabkommen und Rahmenbedingungen über die zukünftigen Beziehungen ab und weist darauf hin, dass ein Verlassen der EU ohne Abkommen der Standard nach britischen und EU Recht bleibt, es sei denn, das Unterhaus und die EU ratifizieren ein Abkommen “), so dass einige Abgeordnete durch einen entsprechend formulierten Änderungsantrag („no no deal ever“) sicherstellen wollen, dass ein Austreten ohne Abkommen vom Tisch genommen wird. Konservative Mitglieder der europakritischen European Research Group (ERG) haben jedoch auch einen Änderungsantrag vorgelegt, der einen Austritt ohne Abkommen vorsieht. Dabei soll der sogenannte „backstop“, jenes umstrittene Protokoll des Austrittsabkommens, das eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern soll, durch „alternative Vereinbarungen“ ersetzt und durch „Stillstandsabkommen“ bis 2021 Handelsbeeinträchtigungen vermieden werden.

Die Taktik der Regierung für die Abstimmung ist demnach, ein no deal Szenario nicht kategorisch auszuschließen – das hatte Theresa May bisher abgelehnt – sondern es dem Parlament zu überlassen, durch einen entsprechenden Änderungsantrag mehrheitlich seine Präferenz auszudrücken und damit die Hand der Premierministerin zu forcieren. Dies erlaubt es auch Kabinettsmitgliedern wie dem Brexit Minister Stephen Barclay, dem Antrag der Regierung nicht zu folgen.

Wütende "Leevers" demonstrieren für den harten Brexit

Alternative zum abgelehnten Austrittsabkommen: ein zweites Referendum, Neuwahlen, oder einen Austritt ohne Abkommen.

A.Richter; HSS

Nicht ganz unwichtig für die Debatte ist die heutige Veröffentlichung der Zolltarife, die im Falle eines ungeregelten Austritts zu erheben wären. Daraus geht hervor, dass an der irischen Grenze keine Kontrollen stattfinden und auf irische Waren die nach Nordirland eingeführt werden, keine Zölle erhoben werden würden. Diese Maßnahme sei in Anerkennung der besonderen Situation auf der irischen Insel und auch nur temporär. Außerdem kündigte die Regierung an, dass unter den temporären Tarifen 87% der importierten Waren zollfrei eingeführt werden könnten (bisher waren es 80%). Stimmen aus der Wirtschaft haben die ohne vorherige Konsultationen gefällte Entscheidung stark kritisiert. Zwar sollen dadurch Verbraucher vor abrupt ansteigenden Preisen geschützt werden, viele wundern sich jedoch, warum eine Regierung, die die Freiheit, Freihandelsabkommen abzuschließen, als einen der größten Vorteile von Brexit erklärt hat, ihre Verhandlungsmacht – die Reduzierung oder gänzliche Abschaffung von Einfuhrzöllen - gegenüber zukünftigen Handelspartnern freiwillig mindert. Dies würde der Labour Partei und einigen Tory-Rebellen in die Hände spielen, die seit langem für eine Zollunion plädiert haben. Kommentatoren haben darauf hingewiesen, dass der Zeitpunkt für die Veröffentlichung der Zolltarife am Tag der Haushaltsdebatte nicht ganz zufällig sein könnte - Finanzminister Philip Hammond, der für einen „sanften“ Brexit plädiert, hat eine Zollunion bisher nicht ausgeschlossen.

Hammond, dem nach den letzten Prognosen des Office for Budget Responsibility deutlich mehr Geld zur Verfügung stehen als erwartet, hatte in letzter Zeit immer wieder bekräftigt, dass die zusätzlichen £20 Milliarden (etwas über 23 Mill Euro) in öffentliche Dienstleistungen investiert werden könnten. Dies, so die Drohung, sei aber nur möglich, solange das Parlament das Austrittsabkommen zügig verabschiede und Großbritannien geregelt aus der EU austrete. Ansonsten müsse die Regierung im Falle eines no deal Szenarios andere Prioritäten setzen und verstärkt der Wirtschaft dabei helfen, mit dann eintretenden Regeln und Zöllen der Welthandelsorganisation zurechtzukommen. Die heutige Veröffentlichung der Zollpolitik passt dazu.

Verlängerung immer wahrscheinlicher

Sollte sich das Unterhaus am Mittwochabend tatsächlich gegen ein no deal Szenario aussprechen, findet eine dritte Abstimmung am Donnerstag, den 14. März, statt, bei der über eine Verlängerung von Artikel 50 – und möglicherweise auch über andere Alternativen - entschieden wird. Selbst Steve Baker MP, stellvertretender Vorsitzender der European Research Group und unnachgiebiger Brexiteer plädiert für eine Verlängerung, um mehr Zeit für die Vorbereitungen für einen Austritt ohne Abkommen zu lassen.

Die EU hatte in ihrer Erklärung deutlich gemacht, dass eine kurze Verlängerung nur bis zur Europawahl am 23. Mai möglich wäre. Auch Theresa May bekräftigte in ihrer Erklärung nach der Niederlage, dass ein Antrag in Brüssel für eine Verlängerung gut begründet sein müsse. Das Parlament müsse sich klar positionieren, welche Alternative zum abgelehnten Austrittsabkommen es bevorzuge – ein zweites Referendum, Neuwahlen, oder einen Austritt ohne Abkommen. Die letzte Variante wird heute Abend wohl von den Abgeordneten mehrheitlich ausgeschlossen, für die anderen Optionen gibt es bisher allerdings keine Mehrheit. Labour, dessen Führungsriege erst kürzlich zähneknirschend ihre Unterstützung für ein zweites Referendum erklärt hatte um nicht weitere Abgeordnete an die neue Independent Group zu verlieren, drängt diese Woche (noch) nicht auf ein “People’s Vote“, wissend, dass dafür momentan keine Mehrheit im Parlament zu finden ist. Dies ist nicht nur auf eine eher lauwarme Begeisterung für ein weiteres Referendum zurückzuführen, sondern eine taktische Entscheidung, die Abstimmung im Parlament erst dann zu forcieren wenn alle anderen Optionen abgelehnt worden sind.

Es bleibt spannend. 

Autor: Anja Richter, HSS-Großbritannien

Leiter Institut für Europäischen und Transatlantischen Dialog

Dr. Wolf Krug