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Corona-Tagebuch: Daheim in Moskau
„Papa, du bist im Weg!“

Sehr spät erst nahmen die Verantwortlichen in Russland die Pandemie ernst. Jetzt muss sich auch unser Vertreter in Moskau im Home-Office einrichten. So fühlt sich die Ausgangssperre in der russischen Hauptstadt an.

25. März 2020: Es ist mein dritter Tag im Home Office in einem der Außenbezirke Moskaus, der von Plattenbauten und speziellen Hochhäusern, die im Volksmund „Kerzen“ genannt werden, geprägt ist. Home Office natürlich wegen des Virus, das derzeit in aller Munde ist. Es ist acht Uhr morgens, draußen scheint die Sonne. Die Reflexion ihrer hellen Strahlen auf meinem Display zwingt mich zum dritten Mal heute Morgen, mich zum Arbeiten woanders hin zu setzen. Meine Frau hat nämlich den Platz am Schreibtisch für sich reklamiert, dann ist unser dreijähriger Sohn durch die Wohnung getobt: „Papa, du bist im Weg!“

Ein Kleinkind sitzt unter einem Sonnenschirm auf einem Handtuch im Wohnzimmer auf einem Teppich und freut sich

Für Ferien am Strand muss man heuer ein bisschen Phantasie aufbringen.

Jan Dresel; ©HSS

Medienanalyse, Telefontermine, Sohn trösten

Nun also platziere ich mich so, dass ich aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Wald schauen kann, in dem noch ein bisschen mehr Betrieb ist als sonst: Jogger, Mütter mit Kinderwägen, ältere Menschen, die nach der grauen Tristesse des russischen Winters das sonnige Wetter auskosten wollen. Nach einer Weile verliere ich mich in den vielen E-Mails, die ich noch zu beantworten habe und merke viel zu spät, dass sich unser Kleiner beim Spielen wehgetan hat. So vergeht die Zeit: meinen kleinen Sohn trösten, dann Presseauswertung, Telefonieren, Excel-Dateien erstellen und immer wieder neue E-Mails.

Das erste Highlight, das etwas Struktur in den Tagesablauf unserer Familie bringen soll, ist für die Mittagszeit vorgesehen: Wir probieren die neu eingerichtete Essensausgabe in der Deutschen Schule aus, die bereits Mitte März den Unterrichtsbetrieb eingestellt hatte. Diese zusätzliche Einnahmequelle in Krisenzeiten soll den Betreibern der ebenfalls geschlossenen Schulcafeteria die Möglichkeit geben, wenigstens um die Mittagszeit etwas Geld zu verdienen. Natürlich gibt es alles zum Mitnehmen. Aus Sicherheitsgründen.

Die Einhaltung dieser Regel wird vom aus Bayern stammenden Geschäftsführer der Schule persönlich überwacht. „Und bitte mindestens 1,5 Meter Abstand zueinander halten“, sagt er in seiner gewohnt freundlichen Art. Als immer mehr Eltern das Abstandsgebot verletzen, wird das „Bitte“ innerhalb weniger Minuten allerdings immer weniger freundlich, und irgendwann greift der gewiefte Geschäftsführer mit langjähriger Führungserfahrung spontan zu einem Stück Kreide und markiert damit energisch die Wartepunkte in der Schlange, die den gebotenen Abstand anzeigen sollen. Die meisten der anstehenden Eltern lächeln verständnisvoll, holen sich ihre Essensration ab und machen sich wieder auf den Weg zurück ins Home Office.

Zwei Polizisten kontrollieren einen jungen Mann.

In Moskau kontrolliert die Polizei die Ausgangssperre streng.

Jan Dresel; ©HSS

Live-Ticker der Handelskammer bestimmt den Tag

Überhaupt ist die Stimmung in Moskau nach wie vor gut. Man darf (noch) aus dem Haus, und die sozialen Netzwerke sind voll von Nachrichten aus Ländern, in denen das Virus schon weiter verbreitet ist. Wenige sprechen davon, es könnte die Ruhe vor dem Sturm sein.

Wieder daheim angekommen sind meine Frau und ich erstaunt, wie gut das Essen ist. „Die kochen halt auf deutsche Art, ist doch klar, dass Dir das schmeckt“, bemerkt meine russische Frau lapidar. Dann geht sie mit unserem Sohnemann kurz an die frische Luft. Das bedeutet für mich etwas Zeit, um störungsfrei an einem Text zu arbeiten, auf den einer meiner Münchner Kollegen wartet. Dachte ich zumindest. Doch dann erreicht mich die Nachricht, dass der russische Präsident am Nachmittag eine Fernsehansprache halten wird. Zurzeit prasseln jeden Tag so viele neue Entwicklungen und Entscheidungen auf uns ein, dass die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer einen Liveticker mit Updates rund um die Krise eingerichtet hat.

Um drei Uhr nachmittags soll Präsident Putin sprechen. Meine inzwischen zurückgekehrte Frau und ich versammeln uns also um kurz vor drei vor dem Fernseher und warten gespannt auf den Beginn der Nachrichtensendung eines der staatlichen Sender. Der einprägsame Jingle erklingt, seit Jahren unverändert. Wird der Staatspräsident seinen Landsleuten empfehlen zu Hause zu bleiben? Kommen Ausgangsbeschränkungen, wie sie etwa seit einigen Tagen in Bayern gelten? Oder wird es gar eine Ausgangssperre geben? Als wir mit angehaltenem Atem dasitzen passiert das, was beim russischen Präsidenten häufig geschieht: Er lässt uns und alle anderen Fernsehzuschauer erst einmal warten. Die Nachrichtensprecherin weist mit routinierter, ja beinahe schon gelangweilter Stimme darauf hin, dass es noch ein wenig dauert, bis sich der Präsident äußert.

Eine weite Wasserfläche, gespiegelt vom wolkenlosen Himmel darüber. Kaltes Licht. Russland.

Auch die Besitzer der Datschen an diesem See in der Nähe Moskaus dürfen die Stadt nur mit elektronischem Ausweis verlassen.

Jan Dresel; ©HSS

„Дорогие друзья“ - „Liebe Freunde“

Mir soll es recht sein, ich setze mich wieder an den Text für meinen Kollegen und bin bald wieder so darin vertieft, dass ich nicht mehr an die Ansprache denke. Als ich nach mehr als einer Stunde mal wieder einen Blick auf den stumm geschalteten Fernseher werfe, hat Wladimir Putin gerade begonnen zu sprechen. Ich schalte den Ton an, rufe meine Frau: Das im ganzen Land wohl bekannte „Дорогие друзья“ („Liebe Freunde“) zur Begrüßung haben wir verpasst, aber die bei ihm oft quälend lange Einleitung - ja, Wladimir Putin weiß, wie man rhetorisch Spannung erzeugt - bekommen wir mit. Der Präsident spricht davon, dass Russland sich wegen seiner geografischen Lage nicht von der Gefahr des Virus abschotten könne. Und dann kommt die Kernaussage seiner Ansprache, die wie eine Bombe einschlägt: Die folgende Woche gilt in Russland als arbeitsfreie Woche, wobei Löhne und Gehälter weitergezahlt werden müssen.

Arbeitsfrei bei gleichzeitiger voller Lohnfortzahlung? Das sorgt offensichtlich nicht nur bei meiner Frau und mir, sondern auch bei anderen Zuschauern für Irritationen, wie die ersten Reaktionen in den sozialen Netzwerken zeigen. Später wird dann präzisiert, dass Mitarbeiter solcher Unternehmen und Institutionen, die schon Home Office eingeführt haben, weiter von zu Hause aus arbeiten dürfen - gut, dass unser Moskauer Büro bereits auf Home Office umgestellt hat. Wir sind sehr erleichtert, dass uns eine strikte Ausgangssperre erstmal erspart bleibt, und ich wende mich wieder dem Text für meinen Münchner Kollegen zu.

10. April 2020: Heute ist Karfreitag. Die Kollegen in unserer Münchner Zentrale haben frei, doch in Russland ist heute kein Feiertag. Im wörtlichen und im übertragenen Sinne: In den vergangenen Tagen haben sich Hinweise verdichtet, dass die seit 30. März für Moskau geltende Ausgangssperre noch weiter verschärft und noch strenger kontrolliert werden soll. Die Einführung obligatorischer elektronischer Ausweise zum Verlassen der eigenen Wohnung soll unmittelbar bevorstehen. Jedes Mal einen elektronischen Ausweis beantragen, um Müll wegzubringen, den Hund Gassi zu führen oder Lebensmittel einzukaufen? Das können sich selbst die hartgesottensten Bewohner der russischen Hauptstadt nicht wirklich vorstellen. Die oben angesprochene arbeitsfreie Woche ist übrigens kurz vor ihrem Ablauf um einen Monat verlängert worden und soll jetzt am 1. Mai enden. Es ist bereits jetzt absehbar, dass insgesamt fünf arbeitsfreie Wochen mit Lohnfortzahlung für viele kleine und mittlere Unternehmen die Insolvenz bedeuten werden.

Flugbegleiterin mit Schutzmaske

Auch in Russland werden immer häufiger Schutzmasken getragen. Besonders dort, wo Mindestabstände nicht eingehalten werden können, können sie helfen, die Ausbreitung des Virus zu erschweren.

Jan Dresel; ©HSS

Digitale Passierscheine

Der dichten Nachrichtenlage entsprechend steht bei mir gleich am Morgen die Presseauswertung im Mittelpunkt. Die in Russland lang erwartete Einigung mit Saudi-Arabien im Ölpreiskrieg, Agenturmeldungen zur Corona-Krise. Neben der Zahl der Neuinfektionen, von denen wie üblich der größte Teil auf die Hauptstadt Moskau entfällt, sticht die Nachricht heraus, dass Präsident Putin das Innenministerium und die russische Nationalgarde („Rosgwardija“) mit einer stärkeren Kontrolle der Einhaltung der Quarantänevorschriften beauftragt hat. Dies gehörte zwar schon zuvor zu deren Aufgaben, aber das Statement des Präsidenten stärkt das Standing beider Institutionen zusätzlich.

Fehlanzeige hingegen, was das Topthema betrifft, auf das alle warten, nämlich die mögliche Einführung dieser obligatorischen elektronischen Ausweise zum Verlassen der eigenen Wohnung. Schon seit Längerem sehen Kritiker die Digitalisierungsbemühungen der Moskauer Stadtregierung, die offiziell zu einer „Smart City“ führen sollen, als Instrument, das im Bedarfsfall auch die Überwachung Einzelner ermöglicht. Immer wieder fällt in diesem Zusammenhang der russische Begriff für „Big Brother“, quasi als wenig schmeichelhaftes Gegenstück zur „Smart City“: Kameras mit Gesichtserkennung, die Auswertung von Mobilfunkdaten oder auch das Nachverfolgen privater PKW-Fahrten sind Teil eines ausgeklügelten Netzwerks von Informationssystemen, die der Moskauer Stadtregierung zur Verfügung stehen.

Doch erst die Corona-Krise hat eine breitere Öffentlichkeit für die Möglichkeiten, vor allem aber auch für die problematischen Aspekte der digitalen Überwachung Einzelner sensibilisiert. Mit deren Hilfe kann schon jetzt die Einhaltung der Quarantänebestimmungen durch Infizierte und deren Angehörige effektiv überwacht werden, was in einer Millionenstadt wie Moskau ansonsten schwierig wäre. Dies mag in einem Land wie Russland einer Mehrheit der Bürger trotz datenschutzrechtlicher Bedenken sinnvoll erscheinen, um die Epidemie einzudämmen; zumal viele Moskauer die durchaus plausiblen Vorzüge der Digitalisierung in der russischen Hauptstadt zu schätzen wissen - dass sie sich Behördengänge sparen, ihre Arzttermine digital vereinbaren oder ihren Parkplatz per App bezahlen können ist eine echte Erleichterung im Alltag. Wenn jetzt aber die Bewegungen sämtlicher Bewohner Moskaus digital überwacht und bei Zuwiderhandlungen bestraft werden sollen, dürften immer mehr Moskowiter dadurch ihre Freiheit über Gebühr beeinträchtigt sehen.

Warten auf Nachrichten

Doch zurück zu meinem Arbeitstag im Home Office. Dadurch, dass in Bayern Feiertag ist, kann ich mich heute auf die Kommunikation mit russischen Partnern und meinen Moskauer Kollegen konzentrieren. Alle halten weiterhin durch und gehen mit der aktuellen Ausnahmesituation sehr verantwortungsvoll um, aber ich spüre, dass es dem einen oder anderen zunehmend schwerer fällt. Wir besprechen nicht nur Themen für Online-Seminare und andere Onlineformate, sondern auch, wie jeder Einzelne mit der Situation umgeht. Ach ja, der Vollständigkeit halber: Seit letzter Woche kochen wir unser Mittagessen angesichts der Ausgangssperre wieder selbst.

Nachdem ich mich durch einige für unsere Arbeit in Russland relevante Schriftstücke gekämpft und außerdem selbst eine ganze Reihe schriftlicher Arbeiten hinter mich gebracht habe, wartet am Abend ein Déjà-Vu auf mich. Meine Frau legt ihren Arm um meine Schulter und fragt mich, ob ich schon mitbekommen habe, was der Moskauer Oberbürgermeister angekündigt hat. Ich fühle mich an den Mittwoch vor zwei Wochen erinnert, als ich über eine Stunde lang auf die Fernsehansprache Wladimir Putins gewartet hatte und sie dann beinahe verpasst hätte. Heute hatte ich den ganzen Tag auf Nachrichten über eine mögliche Verschärfung der Ausgangssperre gewartet - und am Ende sagt mir meine Frau Bescheid, dass es eine offizielle Ankündigung gibt. Der Inhalt passt zu meinem Tag: Neben weiteren zusätzlichen Einschränkungen und Verboten will die Stadt Moskau ab kommender Woche tatsächlich schrittweise elektronische Ausweise einführen, die dann zur Benutzung von Transportmitteln jeglicher Art zwingend benötigt werden. Ich lese den Text mit der Ankündigung und führe mir die Konsequenzen vor Augen: Hoffentlich wird der nächste Karfreitag besser.


Jan Dresel, Russlandexperte und Leiter des HSS-Auslandsbüros in Moskau seit Ende 2016. Davor war er 13 Jahre Jahre lang für privatwirtschaftliche Unternehmen insbesondere auf den europäischen Märkten und in Russland tätig. Neben anderen Führungsaufgaben in Vertrieb und Marketing war er dafür verantwortlich, weltweite Netze von Handelsvertretern und Distributoren aufzubauen und Vertragsverhandlungen mit Kunden und Lieferanten erfolgreich abzuschließen. Nach zehn Jahren in Italien traf er 2014 die Entscheidung, seine umfassende internationale Erfahrung in Moskau zu nutzen, wo er von Anfang 2015 bis Ende 2016 das German Desk einer russischen Wirtschaftskanzlei leitete. Als Vertreter der Hanns-Seidel-Stiftung in der Russischen Föderation setzt er heute alles daran, einer weiteren Entfremdung zwischen Deutschland und Russland entgegenzuwirken und trotz der schwierigen politischen Lage hochrangige Politiker, Wissenschaftler und Nachwuchskräfte aus beiden Ländern miteinander ins Gespräch zu bringen.

Jan Dresel, Russlandexperte und Leiter des HSS-Auslandsbüros in Moskau seit Ende 2016. Davor war er 13 Jahre Jahre lang für privatwirtschaftliche Unternehmen insbesondere auf den europäischen Märkten und in Russland tätig. Neben anderen Führungsaufgaben in Vertrieb und Marketing war er dafür verantwortlich, weltweite Netze von Handelsvertretern und Distributoren aufzubauen und Vertragsverhandlungen mit Kunden und Lieferanten erfolgreich abzuschließen. Nach zehn Jahren in Italien traf er 2014 die Entscheidung, seine umfassende internationale Erfahrung in Moskau zu nutzen, wo er von Anfang 2015 bis Ende 2016 das German Desk einer russischen Wirtschaftskanzlei leitete. Als Vertreter der Hanns-Seidel-Stiftung in der Russischen Föderation setzt er heute alles daran, einer weiteren Entfremdung zwischen Deutschland und Russland entgegenzuwirken und trotz der schwierigen politischen Lage hochrangige Politiker, Wissenschaftler und Nachwuchskräfte aus beiden Ländern miteinander ins Gespräch zu bringen.

©HSS

Jan Dresel, Regionalprojekt Frieden und Demokratie in Osteuropa
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