Dass der amtierende russische Präsident Wladimir Putin bei der Präsidentschaftswahl am 18. März dieses Jahres wiedergewählt würde, daran gab es bereits im Vorfeld des Urnengangs kaum Zweifel. Zu groß war in den Umfragen vor der Wahl Putins Vorsprung gegenüber seinen Konkurrenten, zu überwältigend sind seit Jahren die Zustimmungswerte in der russischen Bevölkerung zu seiner Politik und Amtsführung. Dennoch ist es bezeichnend, dass das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) in seinem Anfang Juni erschienenen Abschlussbericht zur russischen Präsidentschaftswahl kritisierte, dass es keinen echten Wettbewerb unter den Kandidaten gegeben habe. Stimmen, die sich kritisch zur bestehenden Administration geäußert hätten, seien im Wahlkampf kontinuierlich unter Druck gesetzt worden.
Zwar habe die Zentrale Wahlkommission für einen reibungslosen und effizienten Wahlablauf gesorgt, doch Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und der freien Meinungsäußerung sowie Beschränkungen bei der Registrierung der Kandidaten hätten die Freiräume für politisches Engagement im Vorfeld der Wahl eingeengt. Auch wenn die zugelassenen Kandidaten ihren Wahlkampf weitgehend frei und ungehindert hätten führen können, habe die umfangreiche und unkritische Berichterstattung über Amtsinhaber Putin in den meisten Medien für ungleiche Voraussetzungen unter den Kandidaten gesorgt. Das ODIHR berichtet außerdem von Fällen, in denen Druck auf Wahlberechtigte dahingehend ausgeübt worden sei, dass sie zur Ausübung ihres Wahlrechts gedrängt worden seien.
Doch was konkret bedeutet die Wiederwahl Putins für Deutschland und die EU? Seine vierte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation läuft, die neue Regierungsmannschaft steht und auch die Mitglieder der neuen Präsidialverwaltung sind inzwischen ernannt. Bei letzterer Behörde, die für die Koordination der Amtsausübung des Präsidenten zuständig ist, gibt es im Vergleich zur alten Administration kaum neue Gesichter, was darauf hindeutet, dass Putin auf die Fortführung des Status quo und auf alte Vertraute setzt. Die führenden russischen Printmedien sind sich außerdem weitgehend darin einig, dass diese personelle Kontinuität als Signal dafür gedeutet werden kann, dass der Präsident nicht mit aller Macht nach Lösungen für die dringendsten außenpolitischen Fragen und Probleme sucht, sondern eher auf Initiativen anderer wartet. Dabei wäre ein Durchbruch etwa im Ukrainekonflikt durchaus auch im Interesse Russlands. Immer wieder wird in russischen Medien darauf hingewiesen, dass seit Beginn der Gefechte in der Ostukraine mehr als 10.000 Menschen getötet wurden, die Infrastruktur dort weitgehend zerstört sei und sich die Lage der Menschen vor Ort immer weiter verschlechtere.
Immerhin brachte die jüngste Verhandlungsrunde des Normandie-Quartetts am 11. Juni in Berlin zum ersten Mal nach mehr als einem Jahr wieder die Außenminister Russlands und der Ukraine an einen Tisch. Zusammen mit ihren Amtskollegen aus Deutschland und Frankreich berieten sie über konkrete Maßnahmen zur Entschärfung des Konflikts und zum Schutz der Zivilbevölkerung. Doch während das Auswärtige Amt in Berlin von Fortschritten spricht und dabei auf das Bekenntnis aller Beteiligten zu einer anhaltenden Waffenruhe und zum Abzug schwerer Waffen aus den umkämpften Gebieten hinweist, gibt sich die russische Seite deutlich zurückhaltender. Die russische Presse betonte in den Tagen nach dem Treffen, dass außer dem Austausch von Gefangenen und dem deutsch-französischen Angebot, sich an der Minenräumung zu beteiligen, wenig Konkretes vereinbart worden sei.
Neben der Notwendigkeit, dringende Probleme wie den Ukrainekonflikt zu lösen, gibt es im Verhältnis Russlands zu Deutschland und zur EU aber durchaus auch Chancen zur Zusammenarbeit in Fragen, bei denen beide Seiten ähnliche Interessen verfolgen. So eint das Bestreben, das Atomabkommen mit Iran auch nach dem Ausstieg der USA am Leben zu erhalten, Putin und seine Gesprächspartner in der EU. Die große Herausforderung liegt hier darin, die hohen Erwartungen des Iran an die anderen Vertragsparteien möglichst weitgehend zu erfüllen und zugleich die wirtschaftlichen Lasten eines modifizierten Abkommens angemessen auf die verbleibenden Vertragspartner zu verteilen.
Neben außenpolitischen Themen sprechen auch wirtschaftliche und energiepolitische Gründe dafür, eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und Deutschland beziehungsweise der EU anzustreben und den Gesprächsfaden mit Putin aufrechtzuerhalten. Mitte Mai traf Bundeskanzlerin Angela Merkel den russischen Präsidenten in Sotschi und besprach mit ihm unter anderem das Ostsee-Pipeline-Projekt Nord Stream 2. Merkel sprach sich für gute Beziehungen mit Russland aus; es gebe bei allen Differenzen auch Themen, bei denen man einer Meinung sei. Eine Woche später forderte der französische Präsident Emmanuel Macron auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg „gemeinsame Initiativen“ mit Moskau und kündigte die Erarbeitung einer Roadmap an, die eine Normalisierung der französisch-russischen Beziehungen erlaube. Nach den Vorstellungen Macrons soll Frankreich der größte ausländische Investor in Russland werden. Auch in Österreich, Italien und anderen EU-Ländern verleihen die politischen Entscheidungsträger ihrem Wunsch nach einer Stabilisierung der Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union immer wieder Ausdruck.
Trotz aller Möglichkeiten zur Zusammenarbeit darf nicht übersehen werden, dass es neben den Reizthemen Ukraine und Syrien noch weitere Stolpersteine im Verhältnis Russlands zum Westen gibt. Die aktuellen Pläne Russlands und der NATO, die eigene Kampffähigkeit zu erhöhen und die Möglichkeiten der jeweils anderen Seite einzudämmen, tragen stark zu gegenseitigem Misstrauen bei. Insofern dürfte es vorerst schwierig bleiben, gemeinsam mit Russland schnelle Lösungen für die aktuellen Probleme und Streitfragen zu finden. Allerdings gibt es ein Ereignis, von dem sich viele Russen einiges versprechen: die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land. Durch persönliche Begegnungen können so manche Ängste und Vorurteile überwunden werden, und sportliche Großereignisse können außerdem dazu beitragen, wichtige offizielle Gesprächskanäle offen zu halten. In Russland hoffen jedenfalls viele Menschen auf eine friedliche Weltmeisterschaft, denn Fußball hat durchaus das Zeug dazu, eine völkerverbindende Kraft zu sein.