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Äthiopien
Ein Nobelpreisträger stellt sich den Wählern

Äthiopien ist ein Land mit einer jahrtausendealten Geschichte und einem klaren Sendungsbewusstsein: Neben einer herausragenden wirtschaftlichen Bedeutung für die Region und Afrika insgesamt will das Land heute auch eine führende Rolle im Demokratisierungsprozess Afrikas übernehmen. Die Entwicklung des 20. Jahrhunderts von der Monarchie über sozialistische Experimente und der autoritären Regierung der vergangenen rund 30 Jahre soll jetzt in eine demokratische Staatsform und Gesellschaft münden, die politische und ethnische Diversität fördert.

  • Wahlen in Äthiopien
  • Abiy Ahmed - Friedensnobelpreisträger und Kriegspremier 
  • Bedeutung Äthiopiens für Afrika
  • Exkurs - Entwicklung Äthiopiens
  • Äthiopiens sechste Parlamentswahl - Eine Analyse von Zemelak Ayitenew Ayele 

Vor kurzem fanden in Äthiopien allgemeine Wahlen statt, die über die Zusammensetzung des äthiopischen Parlamentes und damit auch über die Position des Premierministers entscheiden. Der bisherige und zukünftige Premierminister Abiy Ahmed erhielt 2018 das wichtigste Staatsamt in der laufenden Legislaturperiode. Der als Reformer angetretene Abiy stellt sich also zum ersten Mal der rund 37 Millionen starken Wählerschaft – allerdings unter ungleich schwierigeren Bedingungen als bei seinem Amtsantritt 2018, als er in einer Woge des Erfolges seiner politischen Reformen in Äthiopien und Friedensbemühungen in Ostafrika nicht nur zum demokratischen Hoffnungsträger im eigenen Land wurde, sondern auch den Friedensnobelpreis erhielt.
Die Wahlen, die von Premierminister Abiy als erster Versuch zu freien und fairen Wahlen im Land bezeichnet wurden, stehen unter gemischten Vorzeichen: Zweimal wurde der Wahltermin wegen COVID-19 und logistischen Problemen verschoben und auch jetzt waren die gesamte Region Tigray (38 Wahlkreise) und weitere 64 Wahlkreise von der Wahl ausgeschlossen - nahezu 20 Prozent der 547 Mandate im äthiopischen Parlament. Die Nachwahlen für diejenigen Wahlkreise, die bei der aktuellen Wahl nicht teilnehmen konnten, sind für September vorgesehen. Es ist fraglich, ob bis dahin eine neue Regierung ihr Amt antreten kann.  

Mehr als 40 Parteien traten zur Wahl an und haben Chancen auf Sitze im Parlament – während 2015 nur die 4 Parteien der damaligen Regierungskoalition ins Parlament einzogen.
Abiys Wohlstandspartei hat annähernd 2.500 Kandidaten registriert, die nächstgrößte Partei „Äthiopische Bürger für soziale Gerechtigkeit“ immerhin noch knapp 1.400. Der „Oromo Federalist Congress“ OFC, die Partei, die die größte ethnische Gruppe in Äthiopien, die Oromo, politisch vertritt, boykottiert die Wahl und unterstützt damit ungewollt Premierminister Aby, einen Oromo. Zahlreiche übrige Parteien treten jeweils nur in bestimmten Regionen an und sind daher keine wirkliche Herausforderung für die Wohlstandspartei.

Da die Europäische Union keine Wahlbeobachter nach Äthiopien gesandt hatte, ist zur allgemeinen Bewertung das Urteil der Wahlbeobachtermission der Afrikanischen Union ausschlaggebend. Diese erklärte am Donnerstag, dass nach ihren Erkenntnissen die Wahl insgesamt „ordentlich, friedlich und glaubwürdig“ durchgeführt wurde. 

Die offiziellen Wahlergebnisse werden erst in einigen Wochen erwartet, da auch die Stimmen für die Regionalparlamente noch ausgezählt werden müssen. Es sieht aber danach aus, dass die Wohlstandspartei von Präsident Abiy Ahmed die absolute Mehrheit im Parlament erreichen und seine Bestätigung im Amt damit nur noch eine Formsache sein wird.

Jetzt liegt es an Abiy, die Kritiker im Land und in der internationalen Gemeinschaft durch die Fortsetzung der 2018 begonnen Reformpolitik zu überzeugen.

Vor einem Wahllokal in Addis Abeba warten Wähler darauf, ihre Stimme abzugeben. Noch dauert die Auszählung der Stimmen in Äthiopien an, doch voraussichtlich darf der amtierende Präsident Abiy Ahmed damit rechnen, in seinem Amt bestätigt zu werden.

Vor einem Wahllokal in Addis Abeba warten Wähler darauf, ihre Stimme abzugeben. Noch dauert die Auszählung der Stimmen in Äthiopien an, doch voraussichtlich darf der amtierende Präsident Abiy Ahmed damit rechnen, in seinem Amt bestätigt zu werden.

ISS Äthiopien

Vom Friedensnobelpreisträger zum Kriegspremier

Abiy Ahmed war 2018 mit einer umfangreichen Reformagenda angetreten, die von Frieden mit dem Nachbarstaat Eritrea, der Amnestie politischer Gefangener und mehr Rechten für kleinere Volksgruppen im Land geprägt war. Nach 25 Jahren sozialistischer Militärdiktatur und 27 Jahren autoritärem, von der „Volksbefreiungsfront von Tigray“ (TPLF) geführten „ethnischen Föderalismus“, sollte eine Zeit der Demokratie und des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Aufschwungs beginnen.

Das Motto der neuen Wohlstandspartei ist dabei „medemer“ – frei übersetzt als „zusammenkommen“, „zusammenwachsen“, aber auch: „Annäherung durch die Überwindung von Gegensätzen“. Dies ist ein wichtiger Aspekt der äthiopischen politischen Realität. Weder die sozialistische Militärdiktatur, noch der mit eiserner Faust gesteuerte „ethnische Föderalismus“ haben es in über 50 Jahren verstanden, die divergierenden ethnischen und regionalen Interessen des Landes einander anzunähern. Nicht nur verlangen zahlreiche Ethnien und Regionen Sonderrechte, vor allem die kleine Region Tigray im Norden des Landes war nicht bereit, die dominierende Rolle, die sie in den vergangenen 27 Jahren durch die TPLF innehatte, aufzugeben. Der politische Konflikt eskalierte rasch und führte ab November 2020 zur militärischen Auseinandersetzung.

Abiy Ahmend sieht sich nun der Herausforderung gegenüber, mit demokratischen Mitteln das zu erreichen, worin seine autoritären Vorgänger nicht erfolgreich waren, nämlich eine Balance zwischen regionalen ethnischen, wirtschaftlichen und kulturellen Besonderheiten und dem staatlichen Zusammenhalt Äthiopiens insgesamt zu finden. Dabei wurde rasch deutlich, dass nach dem Ende des autoritären Regimes die ethnischen und regionalen Konflikte nicht weniger wurden, sondern deutlich zunahmen. Nicht nur die Region Tigray erlebt blutige Auseinandersetzungen, auch in zahlreichen anderen Gebieten des Landes werden „alte Rechnungen“ beglichen oder es wird die vermeintliche Gunst der Stunde genutzt, um Fakten zugunsten der eigenen Ethnie zu schaffen. Das Gebiet Sidama beispielsweise hat es verstanden, in nur wenigen Monaten ein eigenständiges Subjekt der Bundesrepublik Äthiopien zu werden.

Warum ist Äthiopien von so zentraler Bedeutung für Afrika?

Äthiopien wird seit langem eine besondere Bedeutung für Afrika im Allgemeinen und dem krisengeschüttelten sogenannten „Horn von Afrika“ (Eritrea, Djibouti, Äthiopien und Somalia) im Besonderen zugesprochen, es gilt als Stabilitätsanker in der Region. Seit 1961 war die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba Sitz der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) und ist seit 2001 Gründungssitz der Afrikanischen Union (AU) und der AU-Kommission.

Dabei hat Äthiopien selbst Probleme genug: Das nach Nigeria mit rund 110 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land Afrikas zählt trotz jahrelangem Wirtschaftswachstum immer noch zur Gruppe der „LLDC“, den am wenigsten entwickelten Ländern der Erde. Äthiopien ist nicht durch Bodenschätze und natürliche Ressourcen gesegnet, es gibt weder Öl, Gas noch andere fossile Brennstoffe im Land. Seit der Abtrennung des heutigen Eritrea 1993 hat das Land vollständig den Zugang zum Meer verloren.  

Rund 73 Prozent der Bevölkerung sind im Ackerbau beschäftigt, der rund 35 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes ausmacht und dabei die Ernährung der Bevölkerung nur mit Mühe gewährleisten kann. Trockenheit, Überschwemmungen und Heuschreckenplagen sind an der Tagesordnung. Trotzdem sieht die Entwicklungsperspektive Äthiopiens positiv aus, wenn es der Regierung gelingen wird, eine nachhaltige und inklusive Entwicklungspolitik zu implementieren, die alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisiert. 60 Prozent der Einwohner Äthiopiens sind unter 25 Jahre alt, 40 Prozent unter 15. Dieses demographische Potential kann das Land zum Leuchtturm der Region werden lassen, wenn es in die richtigen Bahnen gelenkt wird. Dazu gehört neben harten wirtschaftlichen Fakten und richtigen gesellschaftspolitischen Entscheidungen auch der Glaube an die Zukunft Äthiopiens als föderalem Staat. Premierminister Abiy Ahmed verkörpert derzeit diesen Glauben, auch wenn sein Nimbus in den letzten Jahren an Glanz verloren hat.

Das aktuelle Wahlergebnis ist sowohl ein Warnsignal an Aby Ahmed, die Konzilianz, die er den Gegnern des alten Regimes entgegenbrachte, auch gegenüber seinen aktuellen politischen Gegnern an den Tag zu legen, vor allem aber ein dringendes Mandat der Wähler, den 2018 begonnenen Weg fortzusetzen und die Konflikte des Jahres 2020 beizulegen.

Autor: Daniel Seiberling

Die aktuelle politische Situation in Äthiopien ist ohne einen kurzen Exkurs in die neuere Geschichte des Landes kaum nachzuvollziehen. Neben den politischen Aspekten ist hier vor allem die regionale und ethnische Disparität des Landes zu berücksichtigen.

Grafik: Daniel Seiberling

Das über 1.000-jährige Kaiserreich Äthiopien endete 1974, als der letzte Kaiser gestürzt, das kaiserliche Parlament aufgelöst und die Monarchie abgeschafft wurde. Unterstützt durch UdSSR und DDR wurde Äthiopien zu einer sozialistischen Militärdiktatur. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 versiegte die materielle und ideologische Unterstützung des Regimes, 1991 nahmen verschiedene Befreiungsbewegungen die Hauptstadt Addis Abeba ein und beendeten das sozialistische System.

Unter diesen Befreiungsbewegungen war die „Volksbefreiungsfront von Tigray TPLF“ die treibende Kraft und übernahm 1991 unter Leitung von Meles Zanawi die Regierungsverantwortung in einer Vier-Parteien-Koalition (Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front EPDRF), die vor allem anhand regionaler und ethnischer Kriterien aufgestellt war. Dieser sogenannte "ethnische Föderalismus", gemäß dem die größten Volksgruppen auf nationaler Ebene im Rahmen der EPRDF zusammenarbeiten und sich auf regionaler Ebene selbst verwalteten, funktionierte solange wie die EPDRF mit autoritärer Strenge regierte. Äthiopien war in den 27 Jahren dieser Regierung durch Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung geprägt, aber auch durch systematische Unterdrückung und Verfolgung politischer Gegner. 

Proteste führten 2018 zum Rücktritt der TPLF und Abiy Ahmed (ethnischer Oromo) wurde Premierminister. Daraufhin wurden einflussreiche TPLF- und Tigray-Politiker aus ihren Ämtern entlassen und zum Teil wegen Korruption oder Verletzung der Menschenrechte angeklagt. Die Beziehungen zwischen der TPLF, die nach wie vor die Regierung in der Region Tigray stellt, und der Zentralregierung waren schwer belastet.

Die "Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front" (EPRDF) löste sich im November 2019 auf Betreiben von Abiy vollständig auf. Mit dem Wegfall dieser Klammer radikalisieren sich nun einige ethnische und religiöse Gruppierungen. Unter den veränderten Bedingungen wird das lange erfolgreiche Modell des "ethnischen Föderalismus" zum Konflikttreiber, denn nun versuchen einflussreiche Akteure auf allen Ebenen ihre Macht und ihren Einfluss zu erweitern. Konflikte brachen in nahezu allen Regionen des Landes aus. Von besonderer Bedeutung war zuletzt das Streben der Sidama-Region nach Autonomie. Eine im November 2019 durchgeführte Volksbefragung brachte eine klare Mehrheit für die Abspaltung der Region vom südlichen Bundesland "Southern Nations, Nationalities and Peoples" und die Gründung eines eigenen Bundeslandes. Dieser Schritt wurde im Juni 2020 eingeleitet. Beobachter befürchten, dass die Schaffung eines eigenen Bundesstaats der Sidama weitere Autonomiebestrebungen, wie etwa in der südöstlichen Ogaden-Region, befeuern könnte – mit absehbar negativen wirtschaftlichen Folgen.

Autor: Daniel Seiberling

Am Wahltag in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba

Am Wahltag in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba

Zemelak Ayitenew Ayele

Äthiopiens sechste Parlamentswahl - Eine Analyse von Zemelak Ayitenew Ayele

Zemelak Ayitenew Ayele ist Außerordentlicher Professor und Direktor des Centre for Federalism and Governance Studies, Addis Abeba University; Außerordentlicher Professor am Dullah Omar Institute (DOI), University of the Western Cape (UWC) Südafrika.

 

Am 21. Juni 2021 fanden in Äthiopien die sechsten allgemeinen Wahlen statt. Dies waren Wahlen zum Unterhaus im Parlament – dem Repräsentantenhaus des Volkes (HPR), mit derzeit 547 Sitzen und zu den Regionalparlamenten, den Staatsräten, bei denen mehr als 2.000 Sitze zu besetzen waren. Dies war die erste Wahl, die ohne Teilnahme der Ethiopian Peoples' Revolutionary Democratic Front (EPRDF) stattfand, der Partei, die fast drei Jahrzehnte lang eine exklusive Dominanz über den gesamten politischen Raum des Landes genoss, bis sie sich 2018 nach dreijährigen öffentlichen Protesten und internen politischen Auseinandersetzungen auflöste. Die früheren Mitglieder und Angehörigen der EPRDF, mit Ausnahme der Tigray People's Liberation Front (TPLF), schlossen sich zu einer neuen Partei zusammen - der Äthiopischen Wohlstandspartei (PP) die sich sowohl ideologisch als auch strukturell grundlegend von ihrer Vorgängerin unterscheidet.

2018 wurden mehrere Gesetzesreformen durchgeführt, die den politischen Raum öffnen sollten. Einige Gesetze, wie das Anti-Terror-Gesetz, das Gesetz über die Zivilgesellschaft und andere, die in der Vergangenheit zur Unterdrückung abweichender Meinungen genutzt wurden, wurden geändert. Die Nationale Wahlbehörde Äthiopiens (NEBE), die in der Vergangenheit der Regierungspartei untergeordnet war, wurde reformiert und ist heute weitgehend unabhängig. Birtukan Mideksa, der als Vorsitzender einer ehemaligen Oppositionspartei unter dem EPRDF-Regime für mehrere Jahre inhaftiert war, steht nun an der Spitze der NEBE.

Die Wahl fand unter äußerst schwierigen Umständen statt, da das Land mit einer Vielzahl von Herausforderungen von innen und außen konfrontiert war, die seine Existenz bedrohten. Die COVID-19-Pandemie, die sich immer noch mit alarmierender Geschwindigkeit ausbreitet, verursacht große politische und wirtschaftliche Probleme, einschließlich der Verschiebung der Wahl um über ein Jahr. Interkommunale Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen in verschiedenen Teilen des Landes haben die Durchführung der Wahlen in über 100 Stimmkreisen unmöglich gemacht. Die politischen Auseinandersetzungen zwischen der Bundesregierung und der TPLF verwandelte sich in einen militärischen Konflikt, nachdem Kräfte der TPLF in der Nacht des 4. November 2020 die verschiedenen Stützpunkte der Ethiopian National Defence Force (END) angegriffen hatten. Der Konflikt hat nicht nur eine verheerende humanitäre Krise in Tigray verursacht, sondern auch dem internationalen Ansehen Äthiopiens und der Regierung Abiy Ahmed enorm geschadet. Die Uneinigkeit zwischen Äthiopien, Sudan und Ägypten über den Bau und den Betrieb des Great Ethiopian Renaissance Dam (GERD) über den Abay-Fluss (oder den Blauen Nil, wie er international genannt wird) droht zu einem regionalen Konflikt zu eskalieren. Vor diesem innenpolitischen und regionalen Hintergrund wurde die Wahl abgehalten. 

Ursprünglich war die sechste allgemeine Wahl im August 2020 vorgesehen. Die COVID-19 Pandemie führte zur Ausrufung des Ausnahmezustands, was die Verschiebung der Wahl und die Verlängerung der Amtszeit von Parlament und Staatsräten notwendig machte. Der im April 2020 verhängte Ausnahmezustand lief im August 2020 aus, da das Parlament ihn nicht verlängerte. Es wurde klar, dass die COVID-19-Pandemie das Land auf unbestimmte Zeit im Griff halten würde, während die Wahlen nicht noch sehr viel länger ausgesetzt werden konnten. Dies warf die Frage auf, ob und wann die sechste Parlamentswahl im Rahmen der COVID-19-Pandemie abgehalten werden könnte. Das Parlament debattierte diese Frage am 18. September 2020. Lia Tadesse, die Gesundheitsministerin, versicherte vor dem Parlament und sagte aus, dass "die Wahlen sicher durchgeführt werden können, unter der Bedingung, dass strenge Präventionsmaßnahmen ergriffen sowie Vorschriften und Richtlinien durchgesetzt würden" (1). Sie erklärte auch, dass politische Kampagnen und Kundgebungen durchgeführt werden könnten, solange das COVID-19-Protokoll eingehalten werde. In seiner außerordentlichen Sitzung am 22. September 2020 beschloss das Parlament, dass die verschobene Wahl nun stattfinden werde. Und am 30. Oktober 2020 erklärte Birtukan, der Vorsitzende des NEBE, dass die Wahlen am 5. Juni 2021 stattfinden würden (2). Dieser Termin wurden nochmals auf den 21. Juni verschoben, da, wie weiter unten dargestellt wird, die Verzögerung bei der Kandidaten- und Wählerregistrierung dies erforderte.

An den Wahlen nahmen 47 politische Parteien teil. Die wichtigsten politischen Parteien, die in Oromia antreten sollten, darunter der Oromo Federalist Congress (OFC) und die Oromo Liberation Front (OLF), zogen sich von den Wahlen zurück. Der OFC erklärte, dass er nicht zu den Wahlen antreten werde, solange führende Mitglieder, wie Jawar Mohamed und Bekele Gerba, inhaftiert seien. Er forderte die Freilassung dieser Personen undeinen nationalen Dialog, bevor Wahlen im Land durchgeführt werden könnten. Die OLF war mit internen Spaltungen konfrontiert, die eine die Registrierung und Teilnahme ihrer Mitglieder an den Wahlen verhinderten. Schließlich erklärte auch sie, dass sie die Wahlen boykottieren werde, da ihre Mitglieder schikaniert und eingeschüchtert würden.  

Zemelak Ayitenew Ayele ist außerordentlicher Professor und Direktor des Centre for Federalism and Governance Studies, Addis Abeba University; Außerordentlicher Professor am Dullah Omar Institute (DOI), University of the Western Cape (UWC) Südafrika.

Zemelak Ayitenew Ayele ist außerordentlicher Professor und Direktor des Centre for Federalism and Governance Studies, Addis Abeba University; Außerordentlicher Professor am Dullah Omar Institute (DOI), University of the Western Cape (UWC) Südafrika.

Dullah Omar Institute

Die NEBE plante ursprünglich, die Registrierung der Kandidaten vom 15. bis 28. Februar 2021 durchzuführen (3). Dieser Zeitplan konnte nicht eingehalten werden, unter anderem aufgrund der späten Öffnung der Registrierungsbüros und weiterer logistischer Herausforderungen, die NEBE dazu zwangen, die Fristen sowohl für die Kandidaten - als auch für die Wählerregistrierung zu verschieben. Eine zweite Runde der Kandidatenregistrierung fand daher vom 22. Februar bis 5. März 2021 statt und die Kandidatenregistrierung wurde schließlich am 9. März 2021 abgeschlossen (4). Der NEBE-Bericht zeigt, dass rund 9.000 Kandidaten, die 47 Parteien repräsentieren, und 125 unabhängige Kandidaten registriert wurden. Mit 2.432 registrierten Kandidaten hatte die PP das größte Kontingent an Kandidaten, gefolgt von der Ethiopian Citizens for Social Justice Party (EZEMA), der Enat Party und der National Movement of Amhara (NAMA), die jeweils 1.385, 573 und 491 Kandidaten stellten (5). Der Prozess der Kandidatenregistrierung war mit verschiedenen Kontroversen verbunden. Ein Streitpunkt hatte mit der Vorschrift zu tun, dass jeder Kandidat Unterstützungsunterschriften aus einem Wahlkreis vorlegen muss, in dem er/sie antritt. Jemand, der für das HPR als Vertreter einer Partei kandidiert, muss 3.000 Unterstützungsunterschriften vorweisen, während ein unabhängiger Kandidat 5.000 Unterstützungsunterschriften vorweisen muss (6). 

Wer als Kandidat einer Partei für den Staatsrat kandidieren wollte, musste 1.000 Unterstützungsunterschriften vorweisen. Diese Anforderung wurde kontrovers diskutiert und von mehreren politischen Parteien strikt abgelehnt. Durch die COVID-19 Situation und die allgemein angespannte Sicherheitslage hatten viele Parteien Schwierigkeiten, die notwendigen Unterstützungsunterschriften zu sammeln. Die NEBE beantragte schließlich beim Parlament, dass diese Anforderung für die sechsten allgemeinen Wahlen ausgesetzt wurde.

Der zweite Streitpunkt war, ob jemand, der eines schweren Verbrechens beschuldigt wird und vor Gericht steht, sich zur Wahl stellen kann. Diese Frage wurde im Zusammenhang mit Eskindir Nega aufgeworfen, einem Journalisten, der Politiker wurde und Vorsitzender der "Balderas for True Democracy" (Baldreas) ist. Im Zusammenhang mit dem Aufstand, der auf die Ermordung von Hachalu Hundessa, einem Oromo-Sänger, folgte, wurde er verhaftet und angeklagt. Baldreas verklagte die NEBE und das Kassationsgericht des Obersten Gerichtshofs entschied, dass Eskindir für die Wahlen kandidieren könne, da er noch keines Verbrechens für schuldig befunden worden sei. Die NEBE weigerte sich zunächst, Eskindir als Kandidaten zu registrieren, da die Registrierungsfrist abgelaufen war. Als diese Entscheidung getroffen wurde, waren die Wahlzettel bereits gedruckt und so erklärte die NEBE zunächst, dass sie Eskindir nicht in die Kandidatenliste aufnehmen könne. Als der Bundesgerichtshof die NEBE aufforderte die Gründe darzulegen, warum sie der Entscheidung des Gerichts nicht nachkomme, antwortete der Leiter des NEBE Birtuka, dass die Wahlzettel bereits nachgedruckt würden, um Eskindir und andere in die Kandidatenliste aufzunehmen (7).

Die Wählerregistrierung sollte ursprünglich am 1. März beginnen und am 25. März 2021 enden. Die NEBE verschob den Beginn der Wählerregistrierung auf den 25. März mit der Frist bis zum 23. April 2021. Die NEBE erwartete, dass sich über 50 Millionen Wähler registrieren lassen würden. Als die für die Wählerregistrierung vorgesehene Zeit ablief, hatten sich aber nur 18 Millionen Wähler registriert, so dass die NEBE gezwungen war, die Fristen zu verlängern. Auch nach der Verschiebung der Frist war die Zahl der registrierten Wähler geringer als erwartet, mit etwa 38 Millionen Wähler.

Am 22. Mai 2021 erklärte die NEBE, dass sie die Wählerregistrierung in 40 Wahlbezirken nicht durchführen konnte bzw. abbrach, weil die Sicherheit nicht gewährleistet war und es zu offensichtlichen Unregelmäßigkeiten bei den Registrierungen kam. Am 10. Juni 2021 fügte sie 54 weitere Wahlbezirke der Liste der Wahlbezirke hinzu, in denen die Wahl am 21. Juni nicht stattfinden würde. Die Wahlen in diesen Wahlkreisen wurden verschoben, weil in den Stimmzetteln Mängel festgestellt wurden und nach Angaben der NEBE keine Zeit war, vor den Wahlen neue Stimmzettel zu drucken (8). 

Die Wahlen werden in diesen Wahlkreisen (außer in Tigray, wo die Wahl auf unbestimmte Zeit ausgesetzt ist) im September 2021 abgehalten.   

Die andere Frage im Zusammenhang mit der Wählerregistrierung war, ob Bürgerinnen und Bürger des Bundesstaates Harar, die außerhalb des Bundesstaates leben, sich registrieren und für die Kandidaten der Harar Nationalversammlung (HNA) der zweiten Kammer des Regionalparlamentes abstimmen können (9). Bei den letzten fünf Wahlen wurde den Mitgliedern dieser ethnischen Minderheit das Privileg eingeräumt, außerhalb des Staates Briefwahlstimmen für die HNA abzugeben,. Diese Praxis basiert auf der Verfassung des Bundesstaates Harar, die den Mitgliedern der Gemeinschaft diese Möglichkeit einräumt. Die NEBE entschied aber, diese Praxis einzustellen, da sie keine verfassungsrechtliche Grundlage habe. Die HNA zog gegen diese Entscheidung vor Gericht und der Bundesgerichtshof entschied zugunsten der HNA. Danach bleibt die Praxis bestehen, dass sich Mitglieder der Harar-Gemeinschaft auch von außerhalb des Bundesstaates registrieren lassen und Kandidaten für den NHA wählen können (10). 

Der mediale Wahlkampf bestand hauptsächlich aus voraufgezeichnete Debatten zu verschiedenen Themen, unter anderem zum föderalen System, zur Verfassung, zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen, die auf verschiedenen Fernseh- und Radiosendern ausgestrahlt wurden. In der Vergangenheit gab es nur einen einzigen Fernsehsender - das äthiopische Fernsehen - und meist regierungseigene Radiosender, zu denen die EPRDF uneingeschränkten Zugang hatte, während die Oppositionsparteien nur die ihnen von der Rundfunkbehörde zugewiesene Sendezeit nutzen konnten. Diese Situation hat sich seit der letzten Wahl deutlich geändert, da es jetzt Dutzende von Fernsehsendern gibt, sowohl in Privatbesitz als auch der Regierung. Dies hat es der Rundfunkbehörde ermöglicht, allen Parteien sehr viel mehr Sendezeit für Wahlkampanien in den Massenmedien zuzuweisen. Einige der politischen Parteien waren auch in der Lage, zusätzliche Sendezeit zu kaufen und ihre politischen Programme auf privaten Fernseh- und Radiosendern zu darzustellen. 

In Addis Abeba machten viele politische Parteien, insbesondere PP, Balderas und EZEMA, Wahlkampf, indem sie Plakate auf den Straßen aufstellten. Öffentliche Kundgebungen und öffentliche Versammlungen mit mehr als 50 Personen waren aufgrund der COVID-19 Beschränkungen in der Regel nicht erlaubt. Die NEBE konnte Ausnahmen von dieser Regel zulassen, wenn politische Parteien einen Antrag auf die Durchführung solcher Kundgebungen und Versammlungen stellten. Politische Parteien machten auch dadurch Wahlkampf, indem sie mit Plakaten und Fahnen auf Lastwagen und Kleinbussen durch die Straßen fuhren. Außerhalb von Addis Abeba waren diese Möglichkeiten öffentlichkeitswirksamen Wahlkampf zu betreiben, für Oppositionsparteien stark beschränkt, allen voran in Oromia. Lokale Behörden und lokale Aktivisten hinderten die Parteien vielfach daran, auf den Straßen Wahlkampf zu machen. Darüber hinaus wurden zu Beginn der Wahlkampfsaison Kandidaten zweier Oppositionsparteien, der NAMA und der EZEMA, ermordet. Die Ermordung der beiden Kandidaten, von der die Parteien behaupteten, sie seien politisch motiviert, ließ befürchten, dass die Wahl nicht friedlich enden würde.

Abstimmung 

Registrierte Wähler fanden sich schon in den frühen Morgenstunden des 21. Juni vor den Wahllokalen ein und gaben vielerorts bis Mitternacht ihre Stimmen ab. Lange Schlangen von Wählern wurden sowohl in Addis Abeba als auch in anderen Teilen des Landes gesehen, darunter in Oromia, wo nur die Wohlstandspartei PP antrat. Die Wähler in Oromia gingen trotz der Warnung der OLF nahestehenden bewaffneten Gruppen (die OLF boykottierte die Wahl) zu den Urnen. Angesichts der vorherrschenden Befürchtung, dass es bei der Wahl zu Unruhen kommen könnte, und der geringer als erwartet ausgefallenen Wählerregistrierung wurde mit einer niedrigen Wahlbeteiligung gerechnet. Die Wahlen verliefen aber insgesamt friedlich, trotz Berichten über einige Unruhen in Oromia, Amhara und in einigen anderen Orten.

Die NEBE und die Wahl

Die NEBE zeigte während des gesamten Wahlprozesses ein deutliches Maß an Unabhängigkeit und Professionalität. Sie konfrontierte Bundes- und Landesbehörden, die in der Vorwahlzeit und während der Wahl Unregelmäßigkeiten begingen. Sie hob die Wählerregistrierung im Bundesstaat Somali auf. Sie schloss Wahllokale, die ohne ihr Wissen eröffnet worden waren. Sie berichtete, dass in einigen Bundesstaaten, insbesondere in den Bundesstaaten SNNP und Amhara, Wahlbeobachter, die Oppositionsparteien vertraten, am Betreten der Wahllokale gehindert wurden. Sie warnte, dass dies zur Annullierung des Wahlergebnisses in diesen Gebieten führen könnte und forderte die lokalen Behörden auf, das Problem zu beheben. Es gab zahlreiche logistische Probleme durch die verzögerte Auslieferung von Wahlzetteln. In einigen Orten, wie Sidama und Gambella, führte die diesbezügliche Verzögerung dazu, dass die Wahlen am 22. Juni durchgeführt wurden.

Wahlergebnisse

Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts hat die NEBE die Wahlergebnisse noch nicht veröffentlicht, da die Ergebnisse in allen Wahlkreisen noch nicht zusammengestellt sind und die Stimmen in einigen Wahlkreisen neu ausgezählt werden. Viele Wahlbezirke haben jedoch ihre Wahlergebnisse veröffentlicht, und nach den öffentlich zugänglichen Informationen ist die PP in der Lage, die Wahlen komfortabel zu gewinnen. Es wurde erwartet, dass die EZEMA die zweite große Gewinnerin von Mandaten sein würde. Zur Überraschung vieler scheint es jedoch, dass diese Partei fast in allen Wahlkreisen, in denen sie angetreten ist, verloren hat. Ihre Führer, wie Berhanu Nega und Andualem Arage, haben in den Wahlkreisen verloren haben, in denen sie zur Wahl angetreten sind. Die NAMA scheint einige Sitze im Parlament gewonnen zu haben: Sie gewann in einigen städtischen Gebieten im Amhara-Staat, wie zum Beispiel in Bahr Dar, der Hauptstadt des Staates.

Wenn man die sechsten Parlamentswahlen isoliert vom allgemeinen politischen Kontext im Land betrachtet, waren sie tatsächlich (wie der Präsident es formuliert hatte) besser als jede bisherige Wahl im Land. Sie war durch einen Parteienwettbewerb geprägt und die Oppositionsparteien erlebten in der Zeit vor der Wahl eine Freiheit, die gleichzeitig durch Herausforderungen relativiert wurde. Die Wahl wurde abgehalten, nachdem mehrere Gesetzesreformen, die von den Oppositionsparteien gefordert wurden, durchgeführt worden waren. Die NEBE hatte als von der Regierung unabhängige Institution agiert, was der Wahl Glaubwürdigkeit verlieh. Die hohe Wahlbeteiligung belegt den Wunsch der Öffentlichkeit politische Differenzen friedlich und durch den Wahlprozess beizulegen.

Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass diese Wahl alleine eine friedliche Zukunft für das Land und seine Bevölkerung garantieren wird. Ein Ende des Konflikts in Tigray ist nicht in Sicht. Die Wahl wurde von den großen politischen Parteien in Oromia, die Millionen von Anhängern haben, boykottiert. Dies könnte negative politische Folgen haben. Der Frieden kann nur garantiert werden, wenn auf diese Wahl schnell ein echter politischer Dialog folgt, an dem alle politischen Gruppen im Land beteiligt sind. 

Übersetzung: Daniel Seiberling

(1) 'Ethiopia could hold general elections amid-19 says health minister' (Ethiopia Observer, 18. September 2020) <https://www.ethiopiaobserver.com/2020/09/18/ethiopia-could-hold-general-elections-amid-covid-19-says-health-minister/ > letzter Zugriff am 21. September 2020.

(2) 'Ethiopia's general election to be held in June, 2021' (Ethiopian News Agency, 30. Oktober 2020) https://www.ena.et/en/?p=18076 letzter Zugriff am 21. Juni 2021.

(3) Ibid.

(4) 'Electoral Board concludes candidates' registration' (Ethiopian News Agency, 11. März 2021) https://www.ena.et/en/?p=22522 letzter Zugriff am 21. Juni 2021.

(5) International Republican Institute (IRI) und National Democratic Institute (NDI) (2021) IRI-NDI Virtual Pre-Election Assessment Delegation for the 2021 Ethiopian Elections < www.ndi.org/sites/default/files/IRI%20NDI%20Ethiopia%20Pre-election%20Assessment%20Report%2020210513%20FINAL.pdf&gt; letzter Zugriff am 21. Juni 2021.

(6) Artikel 31 und 32.

(7) 'NEBE will inhaftierte Mitglieder der Opposition Balderas für Kandidatur registrieren' (Addis Standard, 3. Juni 2021) < https://addisstandard.com/news-nebe-to-register-jailed-members-of-the-opposition-balderas-for-candidacy/> Letzter Zugriff am 21. Juni 2021.

(8) ebd.

(9) Harar ist ein Ministaat mit einer Bevölkerung von etwa 250 Menschen. Der Staat wurde jedoch für die Harar-Gemeinschaft gegründet und nach ihr benannt, die mit weniger als 9 Prozent der Bevölkerung im Staat eine Minderheit darstellt, während die Oromo und die Amhara 56% bzw. 22% ausmachen. Im Bundesstaat wurde eine konfessionelle Regelung getroffen, die es den Harar ermöglicht, ihre Identität und Kultur zu bewahren und trotz ihrer großen Zahl eine bedeutende politische Rolle im Bundesstaat zu spielen. Der Staat hat einen Rat mit zwei Kammern, den HNA und die Harar Peoples Representative Assembly (HPRA). Nur Mitglieder der Harar-Gemeinschaft sind im HNA vertreten, während sie die Hälfte der 22 Sitze in der HPRA kontrollieren und den Rest den Angehörigen der Oromo-Gemeinschaft überlassen.

(10) 'Cassation bench rejects electoral board's appeal, uphold Supreme Court decision allowing Harari's outside the region to vote assembly members' (Addis Standard, 27. Mai 2021).

Afrika südlich der Sahara
Klaus Liepert
Leiter
Kenia
Daniel Seiberling
Projektleitung