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Geringe Wahlbeteiligung erwartet – große Zweifel an den zukünftigen Kommunalvertretern
Kommunalwahlen in Tunesien

Schon viermal wurden die ersten demokratischen Kommunalwahlen in Tunesien verschoben. Am Sonntag ist es endlich soweit. Die Wahlen sind ein wichtiger Schritt im begonnenen Dezentralisierungsprozess des Landes und sollen die regionale Entwicklung stärken. Die einzige Demokratieknospe der arabischen Welt steht einmal mehr vor einem Prüfstein in ihrer noch jungen Geschichte. Die Vorbereitung dieses Ereignisses sowie die Mobilisierung der Wähler gestaltet sich teilweise schwierig. Ob die Wahlen tatsächlich den verhaltenen Erwartungen gerecht werden, ist ungewiss.

Zu einer der größten Errungenschaften der postrevolutionären Phase Tunesiens zählt die neue Verfassung von 2014. Die Dezentralisierung der Verwaltung ist dabei eines der wichtigsten Verfassungsziele. Dabei sollen Kompetenzen von nationaler auf die lokale Ebene verlagert werden. Explizit wurde daher in Kapitel VII, Artikel 131 der neuen tunesischen Verfassung folgendes festgeschrieben:

„Die Dezentralisierung findet ihren Ausdruck in Gebietskörperschaften bestehend aus Gemeinden, Departements und Regionen, die das gesamte Staatsgebiet […] abdecken.”

In diesen Gemeinden sollten bereits im März 2016 zum ersten Mal in der Geschichte Tunesiens freie Kommunalwahlen stattfinden. Diese wurden jedoch seitdem viermal verschoben. Am 6. Mai 2018 sollen sie nun endlich stattfinden. Die Wahlen sind von zentraler Bedeutung, um die damit verbundenen Hoffnungen auf eine positive Trendwende im Land, basierend auf regionaler Entwicklung und politischer Partizipation, aufrechtzuerhalten.

Ein hoher, nach unten martialisch breiter werdender Turm, den eine große tunesische Flagge ziert. Dahinter das repräsentative Parlamentsgebäude mit hohen Fensterfronten.

Das Rathaus in Tunis

Wahlkommission soll Erfolg sicherstellen

Der lange Vorlauf war durchaus notwendig, da unter der autokratischen Herrschaft der ehemaligen Präsidenten Habib Bourguiba und Zine el-Abidine Ben Ali das Konzept der Gewaltenteilung nur sehr bedingt Einzug in den politischen Alltag fand. Umfangreiche Reformen sollten nach der Revolution 2011 diesem Zustand entgegenwirken. Daher wurden grundlegende Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat gesetzlich festgehalten und Institutionen für deren Umsetzung geschaffen. Hierzu zählt unter anderem die Gründung der Unabhängigen Wahlkommission ISIE (Instance Supérieure Indépendante pour les Elections), die faire und freie Wahlen vorbereiten soll. Die Organisation und Durchführung der Kommunalwahlen gestaltet sich jedoch um einiges schwieriger als die der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in den vergangenen Jahren.  

Umsetzung der neuen Regeln erfordert Zeit  

Allen voran waren es die überraschenden Rücktritte des Vorsitzenden sowie weiterer führender Mitglieder im Vorstand der ISIE, die den Vorbereitungsprozess verlangsamten. Sie hatten beklagt, nicht unabhängig und objektiv ihrer Arbeit nachgehen zu können. Vermutet wird eine zu starke Einflussnahme der Parteien auf die Kommission. Den Rücktritten vorausgegangen waren allerdings auch Beschwerden gegen die ISIE über finanzielle Missstände und Unregelmäßigkeiten. Die genauen Gründe sind daher schwer auszumachen.

Das mit einer tunesischen Flagge bemahlte Gesicht einer jungen Tunesierin.

Am Sonntag wird in den 350 Kommunen Tunesiens gewählt. Dabei müssen auf den Listen Männer und Frauen abwechseln. Überregionale Parteien müssen außerdem genauso viele Frauen wie Männer als Spitzenkandidaten aufstellen.

RonnyK; CC0; Pixabay

Die daraus resultierende Verschiebung des Wahltermins bot zwar die Möglichkeit, sich besser auf die Wahlen vorzubereiten. Dennoch: Die Handlungsfähigkeit der Kommission von zentraler Bedeutung, ist doch eine ihrer Aufgaben, die eingereichten Kandidatenlisten aus den 350 Kommunen des Landes zu überprüfen. Bis Ende Februar haben sich etwa 54.000 Personen auf 2.074 Listen um die 7.177 zu vergebenden Sitze beworben. Zur Sicherung der Diversität der Kandidaten muss laut Kommunalwahlgesetz mindestens einer der ersten drei Kandidaten auf der Liste jünger als 35 Jahre sowie einer der ersten zehn gelisteten Kandidaten eine Person mit Behinderung sein.

Um die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu gewährleiten, gilt zusätzlich das Prinzip der „vertikalen und horizontalen Parität“. Das bedeutet, es muss eine Gleichgewichtung sowie abwechselnde Platzierung von Frauen und Männern innerhalb einer Liste erfolgen. Wenn eine Partei in mehreren Wahlkreisen antritt, müssen zudem gleich viele Frauen und Männer als Spitzenkandidaten aufgestellt werden. Zuletzt müssen alle Kandidaten nachweisen, dass sie ihre Einkommenssteuer sowie Gemeindeabgaben kontinuierlich gezahlt haben.

Bei der Dezentralisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit hat die Hanns-Seidel-Stiftung, im Rahmen ihres langjährigen Projektes zur Unterstützung der Justizreform in Tunesien, durch die Aus- und Weiterbildung von Verwaltungsrichtern einen maßgeblichen Beitrag geleistet.

Karte Tunesiens

Die beiden großen Regierungsparteien bei den Kommunalwahlen: "Ennahda" ist islamisch-konservativ geprägt, "Nidaa Tounes" gilt als laizistisch und nationalistisch.

Sadalmelik; CC0; wikimedia-commons

Dies ist, einer Studie der Weltbank zu Folge, bei knapp 40 Prozent der Einwohner Tunesiens nicht der Fall. Wenn sich im Laufe des Prüfverfahrens Unstimmigkeiten ergaben, wurden die Listen von der ISIE abgelehnt. Anfechtungsklagen dagegen konnten bei den jeweiligen regionalen Verwaltungsgerichtskammern eingereicht werden, was in insgesamt 64 Fällen vorgekommen ist. Wurde eine Liste dabei endgültig abgelehnt, so hat die jeweilige Partei keine Möglichkeit mehr, sich in der betreffenden Gemeinde zur Wahl zu stellen.

Ennahda und Nidaa Tounes im Fokus

Hauptkonkurrenten bei den Kommunalwahlen sind die beiden großen Regierungsparteien: die islamisch-konservative Ennahda auf der einen Seite und Nidaa Tounes, eine von Staatspräsident Béji Caïd Essebsi 2012 gegründete Sammelbewegung aus laizistisch-nationalistischen Kräften, auf der anderen. Während erstere die einzige Partei ist, die in allen Gemeinden mit einer Liste vertreten ist und dabei sogar einen Frauenüberschuss verzeichnen kann, hatte Nidaa Tounes Probleme, die erforderliche Anzahl an weiblichen Kandidaten aufzubringen. Interessanterweise schreibt das Kommunalwahlgesetz horizontale und vertikale Parität nur für Parteien vor. Diese Einschränkung führte dazu, dass der Anteil weiblicher Kandidaten auf den landesweit 860 unabhängigen Listen horizontal, also an der Spitze der jeweiligen Liste, bei nur etwas mehr als drei Prozent liegt. Darüber hinaus wird ein Großteil der Kandidaten dieser unabhängigen Listen entweder durch Nidaa Tounes oder Ennahda gefördert.

Diese verdeckte Unterstützung von offiziell unabhängigen Kandidaten wirkt sich negativ auf das Vertrauen der Bürger hinsichtlich der Transparenz und Glaubwürdigkeit der Parteien beziehungsweise der Wahlkampagnen aus und verschärft letztendlich die ohnehin besorgniserregend stark ausgeprägte Politikverdrossenheit im Land.

In Vorbereitung auf die Kommunalwahlen hat die Hanns-Seidel-Stiftung in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, dem Frauenministerium, Parteien und Gemeinden durch Sensibilisierungs- und Fortbildungsmaßnahmen dazu beigetragen, das Interesse für Politik und politische Ämter zu wecken sowie potentielle Kandidaten auf die Übernahme eines solchen Amtes vorzubereiten.

Bild der tunesischen Hauptstadt Tunis. Das Meer ist im Hintergrund erkennbar. Eine mit Bäumen gesäumte Hauptstraße, modern anmutender Büroturm, Hafenanlagen weiter hinten.

Für mehr Partizipation und regionale Entwicklung auch außerhalb von Tunis: Mit den ersten freien, demokratischen Kommunalwahlen betritt Tunesien politisches Neuland.

120919; CC0; Pixabay

Umwelt, Arbeitsmarkt und Infrastruktur

Die Wahlkampagnen, deren offizieller Starttermin der 14. April war, liefen sehr verhalten an. Bei keiner der Parteien kann von einer Wahlkampf-Offensive die Rede sein. Nur wenige von ihnen veröffentlichten Programme auf ihren Websites oder betreiben Kampagnen über Social-Media-Kanäle. Generell liegt das Hauptaugenmerk der Parteien meist auf Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen sowie der Bewältigung der Abgas- und Müllbelastung.

Darüber hinaus werden insbesondere Infrastrukturprojekte und Maßnahmen gegen die weit verbreitete Korruption thematisiert. Nicht zuletzt spielt auch die gesundheitliche Versorgung in ländlichen Gebieten eine wichtige Rolle. Überwacht wird der Wahlkampf von Mitarbeitern der ISIE, welche bislang hunderte verschiedene Verstöße gemeldet haben, darunter die versuchte politische Einflussnahme einzelner Imame, Sachgeschenke an potentielle Wähler oder die öffentliche Diffamierung anderer Parteien und Kandidaten.  

Ausgang und Auswirkung der Wahlen ungewiss

Ähnlich wie die Bewerbung der Wahlkampagnen ist auch die öffentliche Aufmerksamkeit für die Kommunalwahlen angesichts ihrer politischen Bedeutung eher gering. Den Sensibilisierungskampagnen zum Trotz ließen sich insgesamt weit weniger als zwei Drittel aller Wahlberechtigten für ihre Stimmabgabe Anfang Mai registrieren. Darüber hinaus ist auch das Interesse von Angehörigen des Militärs und des Sicherheitssektors, die zum ersten Mal überhaupt wählen gehen dürfen, verschwindend gering. Ob es tatsächlich gelingt, lokale Entwicklung zu fördern, die Rolle der Frauen zu stärken und junge Leute in politische Ämter zu bringen, bleibt abzuwarten. Ausschlaggebend wird neben dem Ausgang der Wahl auch das neue Gesetz über die lokalen Gebietskörperschaften sein, das nach zähen Verhandlungen im Parlament am 26. April 2018 endlich verabschiedet wurde und viel Raum für Interpretationen lässt.

Tunesien betritt mit der Abhaltung freier Kommunalwahlen politisches Neuland. Der politische Wille zur Umsetzung des Dezentralisierungsprozesses war im Vorfeld der Wahlen allerdings nicht klar erkennbar. Zudem verschärft die zukünftige Finanzierung der 350 Kommunen die ohnehin angespannte Haushaltslage in Tunesien enorm. Die Hanns-Seidel-Stiftung wird weiterhin ihren Beitrag zur Förderung der partizipativen Demokratie, zur Stärkung der Rolle der Frau im öffentlichen Leben sowie zur Gewaltenteilung und zur Unabhängigkeit der Justiz leisten müssen, um der tunesischen Demokratieknospe zur Blüte zu verhelfen.

Autor: Maximilian Hofer, Praktikant der Hanns-Seidel-Stiftung in Tunis, Tunesien

Naher Osten, Nordafrika
Claudia Fackler
Leiterin