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Experteninterview: Amerikanisch-russischer Gipfel
Auf neutralem Boden

Joe Biden und Wladimir Putin haben sich in Genf getroffen. Es ging um Rüstungskontrolle, strategische Stabilität, Zusammenarbeit in der Klimapolitik und Cyber-Angriffe. Wie schätzen russische und US-Experten die Ergebnisse ein?

Die Welt schaute nach Genf. Am 16. Juni trafen US-Präsident Joe Biden und der russische Präsident Wladimir Putin zu ihrem ersten Gipfel zusammen. Die Agenda war knapp, die Erwartungen gering, die Spannungen hoch. Es ging um Rüstungskontrolle und strategische Stabilität, Zusammenarbeit in der Klimapolitik und Cyber-Angriffe. Mit der Einigung auf eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen beider Länder und die Einsetzung einer Expertengruppe zum Thema strategische Stabilität haben beide Politiker mehr erreicht, als vor dem Gipfel erwartet worden war.

Zwei Schachfiguren, je in den Farben Russlands und der USA

Vorwürfe von beiden Seiten haben das Treffen in Genf überschattet.

Dilok Klaisatapo; ©HSS; IStock

Im Vorfeld hatten beide Seiten nicht mit gegenseitigen Schuldzuweisungen gespart. Biden hatte Putin einen „Killer“ genannt und damit wohl auf den Vorwurf angespielt, der Kreml sei für die Giftanschläge auf den ehemaligen Doppelagenten Sergei Skripal in England und den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalnij sowie den Mord im Berliner Tiergarten an Selimchan Changoschwili im Sommer 2019 verantwortlich. Umgekehrt bezichtigt Russland die USA der illegalen militärischen Interventionen in Libyen, Syrien, Irak und Afghanistan, der Organisation politischer Umstürze in den Nachbarländern Russlands und der unilateralen Aufkündigung von Rüstungsabkommen wie des ABM- und des INF-Vertrags.

Nachfolgend präsentieren wir Ihnen exklusive Einsichten aus beiden Ländern zur Bewertung des Biden-Putin-Gipfels und zur Analyse der amerikanisch-russischen Beziehungen. Alexej Gromyko vom Europa-Institut in Moskau und Andrey Kortunov vom russischen Think Tank RIAC sowie Angela Stent von der Georgetown Universität erläutern ihren jeweiligen Blick auf den Gipfel in drei exklusiven Interviews.

Die beiden Herren blicken ernst in die Kamera, an einem kleinen runden Tisch sitzend, über den eine Europaflagge gebreitet worden ist.

Prof. Alexey Gromyko (links), Leiter des Europainstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften mit Jan Dresel, Repräsentant der Hanns-Seidel-Stiftung in Moskau.

Interview mit Prof. Alexey Gromyko: „Die Falken des Kalten Krieges schlafen nicht“

HSS: Prof. Gromyko, die Beziehungen zwischen den USA und Russland befinden sich auf einem Tiefpunkt, vielleicht auf dem niedrigsten Niveau seit dem Kalten Krieg. Es gibt wenig gegenseitiges Vertrauen und wenig Bemühungen von beiden Seiten, die Beziehungen zu verbessern. Wie würden Sie vor diesem Hintergrund den Biden-Putin-Gipfel analysieren und worin sehen Sie die wichtigsten Ergebnisse? Haben sich Ihre Gesamterwartungen erfüllt?

Prof. Gromyko: Die Erwartungen der Mehrheit der internationalen Experten erwiesen sich als richtig, da praktisch niemand mit bahnbrechenden Entscheidungen auf dem Gipfel rechnete. Vor Genf haben V. Putin und J. Biden dies selbst gesagt. Das Treffen der beiden politischen Leader Russlands und der Vereinigten Staaten kann grundsätzlich als Erfolg gewertet werden, da es von beiden Seiten weniger zum Kampf über Informationshoheit als vielmehr zum Austausch über grundlegende Fragen der bilateralen und internationalen Sicherheit genutzt wurde.
 
Der größte Erfolg des Gipfels war die gemeinsame Erklärung der beiden Präsidenten zur strategischen Stabilität. Sie ist vor allem aus zwei Gründen wichtig. Erstens wurde die Aufnahme eines umfassenden bilateralen Dialogs über strategische Stabilität eingeleitet. Zweitens haben die Staatsoberhäupter Russlands und der Vereinigten Staaten die berühmte Gorbatschow-Reagan-Formel von 1985 bekräftigt, nach der es in einem Nuklearkrieg keine Gewinner geben kann, weshalb es dazu niemals kommen sollte. Diese scheinbar simple Formulierung hat eine enorme politische und psychologische Bedeutung für einen ersten Abbau von Besorgnis in Russland und den Vereinigten Staaten über die Nukleardoktrin des jeweils anderen Landes.
 
Eine weitere große Errungenschaft des Gipfels war die Vereinbarung, Konsultationen zu Fragen der Cybersicherheit aufzunehmen. Misstrauen und gegenseitige Vorwürfe in diesem Bereich sind bekanntlich in den letzten Jahren zu einem der stärksten Reizpunkte in den russisch-amerikanischen Beziehungen geworden.

HSS: Als Präsident Biden sich auf ein direktes persönliches Treffen einließ, machte er deutlich, dass Amerika keine Neuordnung der Beziehungen anstrebt, sondern vielmehr eine komplizierte Beziehung zwischen Gegnern regeln und eine weitere Verschlechterung einschließlich einer militärischen Eskalation vermeiden möchte. Präsident Biden hat die ganze Bandbreite der Sorgen gegenüber Russland offen angesprochen, von der Ukraine und Belarus bis hin zu Cyberangriffen und dem russischen Umgang mit der innenpolitischen Opposition. Was ist in den kommenden Jahren von den westlich-russischen Beziehungen zu erwarten und was schlagen Sie vor, um diese vielschichtigen Beziehungen zu gestalten?

Wie Sie wissen, hat Putin bei den Gesprächen mit Biden auch eine Reihe von Bedenken zum feindlichen Vorgehen der Vereinigten Staaten und einiger ihrer Verbündeten gegen Russland geäußert. Wie in den USA hat auch in Russland bis zum Gipfel in Genf niemand mit einem erneuten Reset gerechnet oder gar darauf gewettet. Moskau betrachtet die aktuelle Phase der Beziehungen zum Westen sehr realistisch und macht sich auf absehbare Zeit keine Illusionen.

In dieser Phase geht es darum, wie man die tiefe Destabilisierung dieser Beziehungen in den Griff bekommt und wie man Nischen findet, um eine weitere Eskalation der Spannungen bis hin zu einem unbeabsichtigten militärischen Konflikt zu verhindern. Wenn sich hier gemeinsame Lösungsansätze auftun unter anderem in den Bereichen Rüstungskontrolle, Cybersicherheit und Risikominimierung bezüglich möglicher Spannungen zwischen Russland und der NATO, dann werden sich auch in anderen Bereichen Chancen für eine Normalisierung eröffnen. Allerdings dürfte dies im besten Fall einige Jahre dauern.

Darüber hinaus wird dies von Biden in erster Linie Konsequenz und einen gewissen politischen Mut erfordern angesichts des Ausmaßes antirussischer Stimmung sowohl bei den Republikanern als auch bei den Demokraten. Wir haben bereits gesehen, wie Biden schon während des Gipfels und dann unmittelbar danach in den USA von verschiedenen Seiten angegriffen wurde. Die Falken des Kalten Krieges schlafen nicht.

HSS: Deutschland spielt eine entscheidende Rolle im Umgang mit einem Russland, das sich offensichtlich der Sicherheitsarchitektur nach dem Kalten Krieg in Europa widersetzt. Deutschland balanciert unterschiedliche Ansichten und Interessen innerhalb des westlichen Bündnisses aus und versucht, wann auch immer es möglich erscheint, unter Einhaltung des Sanktionsregimes Kanäle nach Russland zu öffnen. Wie weit kann Deutschland mit seinem politischen und wirtschaftlichen Engagement mit Russland gehen, ohne seine Verbündeten in EU und NATO zu irritieren?

Moskau kann eine europäische Sicherheitsarchitektur schon allein deshalb nicht ablehnen, weil sie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr existiert hat. So wurde beispielsweise der Vorschlag von Dmitri Medwedew als Präsident Russlands, einen Vertrag zur europäischen Sicherheit auszuarbeiten und abzuschließen, vom Westen ignoriert. Wenn eine NATO-zentrierte Architektur gemeint ist, dann hat sie nichts mit einer „gesamteuropäischen“ zu tun, welche die grundlegenden Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen würde. Die späte Sowjetunion und später dann Russland haben mehr als alle anderen zu ihrer Zeit getan, um den Kalten Krieg zu beenden und die Militärblöcke aufzulösen, die geschaffen wurden, um diesen Krieg zu führen.

Was Deutschland betrifft, so wird es in Russland nach den Ereignissen in der Ukraine 2014 nicht mehr als mehr oder weniger ehrlicher Makler für den Brückenschlag zwischen Russland und dem Westen wahrgenommen. Dennoch räumt man in Russland bis zum heutigen Tag ein, dass Deutschland in einer Reihe von Fragen versucht, unter dem Druck seiner eher antirussischen Verbündeten „die Stellung zu halten“. So schätzt Moskau Berlins grundsätzliche Haltung zu Nord Stream 2; ein Projekt, das seitens der USA und einer Reihe anderer Länder auf geradezu absurde Weise kritisiert wird. Ich denke, dass Deutschland seine Beziehungen zu Russland politisch und wirtschaftlich in erster Linie auf der Grundlage seiner eigenen Interessen entwickeln und dabei nicht die Interessen dritter Staaten in den Vordergrund stellen sollte. Die Interessen der Verbündeten sollten berücksichtigt werden, was jedoch nicht bedeutet, dass sie das Recht haben, deutsche Interessen ihren eigenen unterzuordnen. Immerhin fühlt sich Deutschland in seiner Rolle als führender EU-Mitgliedstaat und eines der einflussreichsten Länder der Welt durchaus wohl. Deutschland beansprucht sogar, ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats zu werden. Und führende Staaten setzen ihre eigene Agenda, anstatt anderen zu folgen. Ich bin überzeugt davon, dass Deutschlands Ansehen dadurch nur wachsen würde.

HSS: Prof. Gromyko, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Professor Angela Stent ist die Direktorin des Zentrums für Eurasien-, Russland- und Osteuropa-Studien an der Georgetown-Universität in Washington, D.C. Sie arbeitete von 1999-2001 im Planungsstab des US-Außenministerium und von 2004-2006 im Nationalen Geheimdienst-Rat. Ihr jüngstes  Buch aus dem Jahr 2019 trägt den Titel "Putins Russland", der englische Titel lautete "Putin’s World: Russia Against the West and with the Rest".

Professor Angela Stent ist die Direktorin des Zentrums für Eurasien-, Russland- und Osteuropa-Studien an der Georgetown-Universität in Washington, D.C. Sie arbeitete von 1999-2001 im Planungsstab des US-Außenministerium und von 2004-2006 im Nationalen Geheimdienst-Rat. Ihr jüngstes Buch aus dem Jahr 2019 trägt den Titel "Putins Russland", der englische Titel lautete "Putin’s World: Russia Against the West and with the Rest".

Interview mit Prof. Angela Stent: Konfliktmanagement auf höchster Ebene

HSS: Prof. Stent, die amerikanisch-russischen Beziehungen stecken in der Krise, das Vertrauen ist so gering wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr und aus Russland kommen keine Signale, dass man das Verhältnis verbessern will. Was ist Ihr Blick auf den Gipfel von Genf und was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Prof. Angela Stent: Es war richtig, dass dieser Gipfel stattgefunden hat. Wir haben gerade vier Jahre der Trump-Administration hinter uns, in denen Russland ein vergiftetes innenpolitisches Thema war. Russland war Teil der innenpolitischen Polarisierung in Amerika. Präsident Biden wollte das wieder gerade rücken und Russland aus dem vergifteten innenpolitischen Klima herausbringen. Das ist noch nicht ganz gelungen, aber es wird sich langsam ändern und Russland wird verstärkt als außenpolitische Herausforderung gesehen. Ich glaube nicht, dass der Gipfel ein Entgegenkommen an Putin war. Der Gipfel war vielmehr im amerikanischen Interesse, denn die Beziehungen sind sehr schlecht, denken wir an die Cyber-Angriffe oder den russischen Truppenaufmarsch an der Ostgrenze der Ukraine. Es war wichtig zusammenzutreffen und auszuloten, ob man eine gemeinsame Basis findet. Die Biden-Administration nennt es: Leitplanken in den Beziehungen schaffen, also dass man eine Art von Übereinkunft erzielt, um solch provokative Schritte durch Russland künftig auszuschließen. Zwei Ergebnisse, die beide Seiten wollten, bleiben vom Gipfel:

  1. Die Wiederherstellung diplomatischer Beziehungen. Die seit Monaten abgezogenen Botschafter kehren auf ihre Dienstposten zurück. In der US-Botschaft in Moskau arbeitet nur ein Rumpf-Team, was sich jetzt hoffentlich ändert. Hinsichtlich diplomatischer Vertretung gibt es sicherlich noch mehr zu tun. Aber mit einem großen und wichtigen Land wie Russland kann man ohne angemessene diplomatische Vertretung keine Beziehungen gestalten.
  2. Das zweite Ergebnis, an dem beide Seiten interessiert waren, war die Verständigung auf die Aufnahme von Gesprächen zu strategischer Stabilität. Dabei geht es darum, Gesprächskanäle zu finden, um die Gefahren einer militärischen Eskalation zu begrenzen, sei es nuklear oder anderweitig. In diese Gespräche können dann auch andere Themen einfließen, die die Stabilität in Europa oder global gefährden.

Das war das Minimalinteresse auf beiden Seiten, und das wurde erreicht. Es bleibt abzuwarten, ob daraus ein stabiles und berechenbares Verhältnis entsteht. Das werden wir kurz- und mittelfristig nicht wissen. Präsident Biden verwies auf 16 neuralgische Infrastrukturpunkte und warnte Russland vor Vergeltungsaktionen, wenn es zu Cyber-Attacken kommt. Mal sehen, ob die Cyber-Angriffe weniger werden und ob Russland weiterhin kriminelle Banden im Cyber-Raum deckt. Diese Banden griffen kritische Punkte in der Infrastruktur wie Pipelines, Raffinerien, Tankstellen oder Fleischfabriken an, um Lösegeld zu erpressen.

HSS: Präsident Biden stellte klar, dass es ihm nicht um einen Neubeginn in den Beziehungen geht, sondern um ein Gesprächsangebot an einen geopolitischen Gegner. Die Vorwürfe an Russland sind umfassend, sie reichen von der Ukraine und Belarus über Cyber-Angriffe und Disinformationskampagnen bis hin zur gewaltsamen Unterdrückung der Opposition in Russland. Was bringen die nächsten Jahre in den Beziehungen zu Russland und was raten Sie westlichen Entscheidungsträgern, wie man mit Russland, dem Kreml und Putin umgeht?

Aus der US-Perspektive - und diese deckt sich nicht ganz mit der Sicht Europas, denn die USA und Russland sind die beiden größten Atommächte – ist der zentrale Faktor in den Beziehungen, dass sich zwei nukleare Supermächte gegenüberstehen. Die USA und Russland besitzen 90% der Atomwaffen in der Welt. Daher müssen wir weiterhin bemüht sein, die Gefahr einer nuklearen, d.h. ungewollten Konfrontation zu verringern. Das gelang uns während des Kalten Kriegs und das muss uns jetzt auch gelingen. Das muss unsere absolute Priorität sein. Wir brauchen ein Nachfolgeabkommen zum New START-Vertrag, der 2026 auslaufen wird, und das wird angesichts neuer Waffenklassen eine komplizierte Angelegenheit werden. Cyber-Waffen, Weltraum-Waffen, und was sonst noch alles darunter fällt, auch atomare Mittelstreckenwaffen mit ihren direkten Auswikungen auf Europa und besonders Deutschland.

Beide Seiten sind aus dem INF-Vertrag ausgestiegen. Wie geht es da weiter? Können wir ein Abkommen über die Nicht-Stationierung erzielen, sei es in Europa oder in Asien? Die Russen möchten über Raketenabwehr sprechen. Die Amerikaner wollen das nicht unbedingt vertiefen, aber es wird zumindest Teil der Gespräche sein. Wir müssen also eine komplexe Agenda abhandeln. Abgesehen von Rüstungskontrolle glaube ich nicht, dass man viel Erfolg erwarten kann. Zur Ukraine herrschen offensichtlich sehr verschiedene Standpunkte vor. Putin verwies auf die Bedeutung des Minsk-Prozess und beschuldigte die Ukraine, dass sie ihn nicht umsetzt. Wir wissen, dass es auch auf der russischen Seite hapert. Deutschland ist sehr aktiv im Minsk-Prozess und wahrscheinlich sollten sich die USA stärker einbringen. Aber Fortschritte werden wir in absehbarer Zukunft nicht erzielen. Auch bei Themen wie der Unterdrückung der Oppsition in Russland oder den Giftanschlägen kommen wir nicht voran. Putin machte klar, dass das eine souveräne russische Entscheidung ist. Es gibt aber durchaus Bereiche, in denen die USA und Russland zusammenarbeiten werden: Das Iran-Abkommen, an dem auch Deutschland maßgeblich mitwirkt; Afghanistan und die Perspektiven nach dem westlichen Truppenabzug; Syrien, und der russische Syrien-Beauftragte war offensichtlich auch in Genf. Es gibt noch eine Reihe weiterer Regionen, in denen die USA mit Russland zusammenarbeiten müssen. Mein Rat lautet, dass wir unsere Erwartungen zurückschrauben. Wir sollten uns auf die Felder konzentrieren, in denen wir gemeinsame Interessen haben und wo wir zusammenarbeiten können. Wir sollten nicht versuchen, schwierige Themen zu bearbeiten, wo wir keinen Erfolg erzielen werden. Das sollte die Grundregel sein. Strategische Stabilität ist sicherlich der Bereich mit der höchsten Erfolgsperspektive.

HSS: Russland stellt offensichtlich die Sicherheitsarchitektur in Europa in Frage und widersetzt sich einer regelbasierten internationalen Ordnung. In der Russland-Politik des Westens übernimmt Deutschland eine entscheidende Funktion. Deutschland sucht Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Interessen und Perspektiven innerhalb des westlichen Lagers und will bei voller Einhaltung und Unterstützung der Sanktionen gleichwohl Dialogkanäle mit Russland offenhalten. Wie weit kann sich Deutschland politisch und wirtschaftlich mit Russland einlassen, Stichwort Nord Stream2, ohne die EU- und NATO-Verbündeten gegen sich aufzubringen?

Deutschland ist in der Tat das Schlüsselland in Europa für die Beziehungen mit Russland. Interessanterweise hat die EU jetzt im Nachgang zur Art, wie der Hohe Beauftragte Josep Borrell vor ein paar Wochen in Moskau behandelt wurde, eine pessimistische Erklärung zu Russland abgegeben. Der größte Störfaktor in der EU war Nord Stream 2. Die baltischen Staaten, aber auch Polen halten dies für ein sehr schlechtes Projekt, das sowohl den ukrainischen als auch ihren eigenen Interessen entgegenläuft. Es gibt andere Länder, die das Projekt verstehen und nachvollziehen können, dass Deutschland, zumindest mittelfristig, mehr Erdgasimporte braucht und dass diese Erdgasimporte aus Russland kommen, wenngleich nicht unbedingt durch Nord Stream fließen. Es gibt also unterschiedliche Meinungen dazu. Für sich genommen, war Nord Stream der größte Störfaktor. Auf der anderen Seite war es gerade Deutschland, das die EU in den Russland-Sanktionen zusammengehalten hat. Deutschland wird weiterhin eine Schlüsselrolle als ein Land einnehmen, das davon überzeugt ist, dass man einen Dialog mit Russland braucht. Aber Deutschland akzeptiert jetzt nach der Vergiftung und Inhaftierung von Alexej Navalnij eine härtere Gangart und schärfere Sanktionen gegen Russland und unterstützte auch die Sanktionen gegen Belarus nach der Flugzeugentführung. Deutschlands Rolle wird immer auch darin bestehen, die unterschiedlichen Perspektiven in der EU auf Russland zusammenzuführen. Es gibt keine einheitliche EU-Ostpolitik. Im Baltikum oder Polen schaut man ganz anders auf Russland, nicht so sehr anders als in Deutschland, aber ganz anders als in Italien, Frankreich oder Griechenland. Frankreich möchte zwar die Führungsrolle in der Russland-Politik übernehmen, aber Macrons Wunsch nach einem Neu-Beginn der Beziehungen mit Russland hat bislang zu nichts geführt.

HSS: Prof. Stent, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Dr. Andrey Kortunov ist Generaldirektor des "Russian International Affairs Council".

Dr. Andrey Kortunov ist Generaldirektor des "Russian International Affairs Council".

Andrey Kortunov

Interview mit Dr. Andrey Kortunov: Vorsichtig optimistischer Blick in die Zukunft

HSS: Dr. Kortunov, die Beziehungen zwischen den USA und Russland befinden sich auf einem Tiefpunkt, vielleicht auf dem niedrigsten Niveau seit dem Kalten Krieg. Es gibt wenig gegenseitiges Vertrauen und wenig Bemühungen von beiden Seiten, die Beziehungen zu verbessern. Wie würden Sie vor diesem Hintergrund den Biden-Putin-Gipfel analysieren und worin sehen Sie die wichtigsten Ergebnisse? Haben sich Ihre Gesamterwartungen erfüllt?

Dr. Kortunov: In den amerikanisch-russischen Beziehungen, wie auch in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, bewegt sich kaum etwas ohne Gipfeltreffen. Das war so bei Richard Nixon und Leonid Breschnew, bei Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, bei Bill Clinton und Boris Jelzin, bei Barack Obama und Dmitri Medwedew. Gipfeltreffen waren schon immer mächtige Katalysatoren, um das sperrige und schwerfällige Räderwerk der Staatsapparate auf beiden Seiten in Gang zu setzen - einschließlich mehrerer Hierarchieebenen von Bürokraten, Diplomaten, Militärs und Experten.

Gipfeltreffen allein reichen jedoch nicht aus, um die negative Dynamik der Beziehungen umzukehren. So trafen sich Donald Trump und Wladimir Putin im Sommer 2018 in Helsinki, doch nach dem Treffen wurden die amerikanisch-russischen Beziehungen nicht besser; im Gegenteil, sie verschlechterten sich weiter. Das bedeutet, dass es auf beiden Seiten außerdem starke Einsatzbereitschaft und die Fähigkeit geben sollte, an spezifischen Themen zu arbeiten, die beide Nationen trennen. Die in Genf getroffene Entscheidung, eine neue Runde bilateraler Verhandlungen über strategische Rüstungskontrolle und strategische Stabilität einzuleiten ist ein positiver Schritt, garantiert aber nicht den Erfolg dieser Verhandlungen. Zusammenfassend glaube ich, dass wir Grund haben, vorsichtig optimistisch in die Zukunft zu blicken, mit Betonung auf „vorsichtig“.

HSS: Als Präsident Biden sich auf ein direktes persönliches Treffen einließ, machte er deutlich, dass Amerika keine Neuordnung der Beziehungen anstrebt, sondern vielmehr eine komplizierte Beziehung zwischen Gegnern regeln und eine weitere Verschlechterung einschließlich einer militärischen Eskalation vermeiden möchte. Präsident Biden hat die ganze Bandbreite der Sorgen gegenüber Russland offen angesprochen, von der Ukraine und Belarus bis hin zu Cyberangriffen und dem russischen Umgang mit der innenpolitischen Opposition. Was ist in den kommenden Jahren von den westlich-russischen Beziehungen zu erwarten und was schlagen Sie vor, um diese vielschichtigen Beziehungen zu gestalten?

Wie Präsident Biden glaube ich nicht an einen neuen Reset der Beziehungen zwischen Moskau und Washington. Dabei geht es nicht nur um spezifische Streitpunkte wie die Ukraine, Syrien oder Venezuela; es geht hier um grundlegend unterschiedliche Denkweisen und Weltsichten, die Wladimir Putin und Joseph Biden haben. Die Rotationen werden auch in den kommenden Jahren kontrovers und teilweise konfrontativ sein, obwohl einige Nischen der Zusammenarbeit hoffentlich erhalten bleiben - in der Arktis, beim Klimawandel oder sogar beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus.

Dennoch geht es insgesamt eher um Konfliktmanagement als um einen Übergang von Konfrontation zu Kooperation. Beide Seiten sind daran interessiert, die Risiken und Kosten einer unkontrollierten Konfrontation zu reduzieren, beide wollen mehr Stabilität und Berechenbarkeit in ihren Beziehungen. Deshalb haben sie sich auf strategische Rüstungskontrolle und strategische Stabilität als Hauptziel konzentriert. Überraschenderweise haben sie sich auch darauf geeinigt, beim Thema Cybersicherheit zusammenzuarbeiten; wenn diese Vereinbarung in Washington nicht wieder kassiert wird, könnte dies zu einer positiven Veränderung der gesamten Interaktion führen. Was die Ukraine und Belarus angeht, so bleibe ich skeptisch, was die praktischen Aussichten zur Überbrückung der Kluft in der Wahrnehmung dieser Angelegenheiten betrifft.

HSS: Deutschland spielt eine entscheidende Rolle im Umgang mit einem Russland, das sich offensichtlich der Sicherheitsarchitektur nach dem Kalten Krieg in Europa widersetzt. Deutschland balanciert unterschiedliche Ansichten und Interessen innerhalb des westlichen Bündnisses aus und versucht, wann auch immer es möglich erscheint, unter Einhaltung des Sanktionsregimes Kanäle nach Russland zu öffnen. Wie weit kann Deutschland mit seinem politischen und wirtschaftlichen Engagement mit Russland gehen, ohne seine Verbündeten in EU und NATO zu irritieren?

Es wäre falsch, Deutschland als „Lobbyist Russlands“ innerhalb der EU oder des Westens zu bezeichnen. Deutschland ist ein diszipliniertes Mitglied des NATO-Bündnisses; man kann Deutschland nicht mit der unberechenbaren und häufig abweichenden Türkei oder gar mit dem moskaufreundlichen Italien vergleichen. Die alte Neue Ostpolitik gibt es nicht mehr. Dennoch suchen viele europäische Politiker nach wie vor in Berlin nach Orientierung für ihre Herangehensweise an Russland. Deutschland bleibt der größte Handelspartner Russlands in Europa und die wichtigste Quelle für Investitionen, Technologien und unternehmerische Tätigkeit. Das positive Ergebnis des Genfer Gipfeltreffens könnte es Deutschland erleichtern, auf Russland zuzugehen - insbesondere bei Themen wie dem Green Deal der EU, der Zusammenarbeit zwischen Regionen, 5G und der Stärkung der OSZE sowie anderer gesamteuropäischer Institutionen.

Die anstehenden Wahlen in Deutschland dürften die Spielregeln zwischen Berlin und Moskau für die nächsten Jahre festlegen. Mit der CDU und Armin Laschet an der Spitze rechne ich mit keiner dramatischen Änderung der deutschen Politik. Wenn Annalena Baerbock und ihre grüne Partei die Macht übernehmen, könnte der Kreml hingegen einige unangenehme Überraschungen erleben - wie eine Änderung der deutschen Position zu Nord Stream 2, hartnäckigeren Druck in Menschenrechtsfragen und noch Einiges mehr.

HSS: Dr. Kortunov, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Jan Dresel, Regionalprojekt Frieden und Demokratie in Osteuropa
Jan Dresel
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