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Peru kommt nicht zur Ruhe
Das Ringen um die Macht

Autor: Philipp Fleischhauer

Schon seit seinem Amtsantritt war die Beziehung zwischen dem Präsidenten Martin Vizcarra und dem Kongress geprägt von Konflikten und Scharmützeln zwischen der Regierung und der Opposition. Jetzt eskalierte die Situation.

Vizcarra sah sich in seiner kurzen Amtszeit seit März 2018 bereits zweimal gezwungen, dem Parlament die Vertrauensfrage zu stellen, um seine Politik durchzusetzen. Vor allem die Partei Fuerza Popular (FP) von Keiko Fujimori, Tochter des früheren Präsidenten Alberto Fujimori, sorgte für anhaltende Konfrontationen mit der Exekutive. Um auf die aktuelle Situation des Stillstands und der gegenseitigen Blockade zwischen Exekutive und Legislative zu reagieren, schlug seine Regierung vorgezogene Neuwahlen im Jahr 2020 vor. Als das Vorhaben im Kongress durchgefallen war, sagte Premierminister Salvador Del Solar, dass die Regierung diese Entscheidung nicht hinnehmen werde. Zu diesem Zeitpunkt ahnte jedoch niemand, dass diese vage Aussage ein Beben auslösen würde.

Hintergrund des Konfliktes

Am 30. September sollte der Kongress über die Neuwahl von sechs Mitgliedern des peruanischen Verfassungsgerichts abstimmen. Schon vor der Wahl gerieten nicht nur der Zeitpunkt und der Wahlprozess an sich, sondern auch die Kandidaten (gegen sechs der zehn Kandidaten liegen Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft vor) in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.  Zur Dimension des Konflikts gehören folgende Punkte:

  • An erster Stelle steht der Wahlprozess der Verfassungsrichter, den das Parlament in kürzester Zeit verabschiedete. Er gilt als intransparent und politisch motiviert.
  • Es steht die Verhandlung über die inhaftierte Keiko Fujimori an. Sollte sie freigelassen werden, dann könnte sowohl sie selbst als auch die in die Kritik geratene Partei Fuerza Popular neuen Auftrieb erhalten.
  • Kurz nach der Wahl sollte der frühere Direktor der brasilianischen Baufirma Odebrecht, Jorge Barata, von der peruanischen Staatsanwaltschaft befragt werden. Er sollte Namen verschiedener Empfänger von illegalen Spendenzahlungen nennen. Da es sehr wahrscheinlich gewesen wäre, dass hierbei auch Kongressabgeordnete genannt worden wären und wohlgesinnte Richter eventuell eine Aufhebung von deren Immunität verhindert hätten, wäre eine Wahl genau dieser Kandidaten jetzt günstig gewesen.
  • Dazu wurde kurz vor dem 30. September 2019 ein Interview mit der Vizepräsidentin des Verfassungsgerichts veröffentlicht. Darin offenbarte sie, dass sie unter Druck gesetzt worden sei. Sie sollte sich bei der Verhandlung des Falls von Keiko Fujimori für deren Freilassung einzusetzen, wenn sie ihre Arbeit behalten wolle. 
Die hellerleuchtete Fassade des Kongressgebäudes in Lima (Peru)

Der Machtkampf in Peru ist eskaliert. Wie wird es politisch weitergehen?

Philipp Fleischhauer

Das Beben beginnt

Für Montag, den 30. September, stand auf der Tagesordnung des Kongresses die Wahl der neuen Richter für das Verfassungsgericht. Nach dem Willen der Regierung sollte auch die Vertrauensfrage, die mit einem Antrag über die Änderung des Wahlverfahrens der Verfassungsrichter verknüpft war, gestellt werden. Wichtig war der Regierung, dass dies vor der Wahl geschehen sollte, um diese zu verhindern.

Schon am Vortag erklärte Präsident Vizcarra, dass er bei einer Ablehnung der Vertrauensfrage den Kongress auflösen werde. Das Parlament dagegen gab der Wahl der Richter den Vorzug und setzte die Debatte um die der Vertrauensfrage nicht auf die Tagesordnung.

Der Premierminister sowie Teile der Regierung wollten dennoch am Vormittag die Vertrauensfrage formal im Parlament stellen. Um das zu verhindern, verriegelte der Kongress die Türen und unterband so ein Eindringen Del Solars und seines Gefolges, während man mit der Wahl der Richter fortfuhr. Dennoch gelang es den Regierungsvertretern, sich Zugang zum Plenarsaal zu verschaffen. Es kam zu heftigen Diskussionen und Tumulten, so dass kurzzeitig die übliche Liveübertragung aus dem Parlament abgeschaltet wurde. Als sich die Lage etwas beruhigt hatte, stellte der Premierminister vor den anwesenden Kongressabgeordneten die Vertrauensfrage. Nun diskutierte der Kongress, ob die Vertrauensfrage oder die Wahl der Richter Vorrang haben sollte. Er entschied sich für die Fortführung der Wahl und die Vertagung der Debatte über die Vertrauensfrage.

Die Wahl des ersten neuen Verfassungsrichters führte zu einem handfesten Skandal: Der gewählte Richter ist ein Verwandter des Präsidenten des Kongresses Pedro Olachea. Die Wahl eines weiteren Richters wurde wegen fehlender Mehrheiten abgebrochen.

Nun stellten sich fünf Fraktionen hinter Präsident Vizcarra und erklärten, die Vertrauensfrage bejahen zu wollen. Nahezu gleichzeitig wurde vom Präsidentenpalast die Nachricht ausgegeben, dass sich Vizcarra mit einer Rede an die Nation wenden werde. In dieser erklärte der Präsident, dass er durch die faktische Verweigerung des Vertrauens den Kongress auflösen werde. Der Kongress wählte ja einen Verfassungsrichter und lehnte das Vorhaben der Regierung ab, die Wahl der Verfassungsrichter zu reformieren.

Dass das Parlament dem Präsidenten in einer Abstimmung fast parallel doch das Vertrauen aussprach, war zu diesem Zeitpunkt nur noch Makulatur. Demonstrativ blieben viele Abgeordnete der Opposition unter Führung von Fuerza Popular auf ihren Stühlen sitzen und führten die Plenarsitzung fort. Durch einen Antrag der Abgeordneten Yeni Vilcatoma (FP) wurde Präsident Vizcarra wegen „Incapacidad temporal“ (temporärer Unfähigkeit) durch die verbleibenden Abgeordneten formell abgesetzt. Kurz darauf wurde die Vizepräsidentin Mercedes Aráoz – eigentlich eine Verbündete Vizcarras – als neue Präsidentin vereidigt.

Zu dieser Zeit feierten viele Peruaner in den Straßen bereits die Auflösung des Kongresses, da dessen Arbeit schon seit geraumer Zeit für Unzufriedenheit unter der Bevölkerung sorgte.

In diesem kurzeitigen Machtvakuum, selbst viele Experten waren sich nicht eindeutig sicher, wer nun die Macht im Land habe und ob die Auflösung des Kongresses verfassungskonform sei, kamen die obersten Vertreter von Militär und Polizei in den Präsidentenpalast und stellten sich demonstrativ hinter Martin Vizcarra. Dieser hatte als Schachzug ein Präsidialdekret mit der Ankündigung von Neuwahlen am 26. Januar 2020 erlassen und dieses in der offiziellen Zeitung „El Peruano“ publiziert. 

Der Tag danach

Am Tag nach dem politischen Beben trat Mercedes Aráoz von ihrem Amt zurück. Währenddessen versuchten einige frühere Abgeordnete der Opposition in den Kongress einzudringen. Daran wurden sie von der Polizei gehindert und von aufgebrachten Bürgern beschimpft.

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAE) ließ verlauten, dass nun das Verfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Auflösung des Kongresses entscheiden müsse.
Genau hier liegt auch das Kuriosum: Es ist gerade dieses Gremium, das die aktuelle Krise losgetreten hat und nun über die Verfassungskonformität der Auflösung des Kongresses entscheiden soll. Erschwerend kommt die Frage hinzu, ob der unter Tumulten gewählte neue Verfassungsrichter ein offizielles Mitglied sei und an der Entscheidung mitwirken dürfe. Momentan ist das Verfassungsgericht mehrheitlich eher „progressiv“ ausgerichtet. Das könnte sich durch eine eventuelle Beteiligung des neuen Richters jedoch ändern. Entscheiden sich die Richter für die Legitimität der Auflösung, dann wird es am 26. Januar 2020 zu Neuwahlen des Parlaments kommen, das allerdings nur bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2021 tätig sein würde. Da nach einer Politikreform eine direkte Wiederwahl von Abgeordneten verboten ist, können sich die gewählten Parlamentarier nicht auf die Listen für die kommende Amtsperiode setzen lassen. Wer nun Interesse hat, für nur rund 16 Monate als Volksvertreter zu agieren, steht auf einem anderen Blatt.

Im Verlauf der Woche und unter dem Anschein totaler Normalität ernannte Martin Vizcarra sein neues eher technokratisches Kabinett und führte die Regierungsgeschäfte fort mit einem reduzierten Kongress – es darf momentan nur die ständige Kommission mit eingeschränkten Kompetenzen tagen.

Für Peru stellt sich die Frage, wie es in Zukunft weitergehen und ob die Polarisierung im Land weiter zunehmen wird Gewinnt die Opposition um Keiko Fujimori wieder an Macht, bekommen moderate Kräfte im Parlament die Oberhand oder gibt es eventuell sogar einen Linksruck?  

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Projektleiter: Philipp Fleischhauer
Projektleiter:  Philipp Fleischhauer