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Brexit - Kein Ende in Sicht
Die Kunst des Möglichen

Die EU hat Theresa May eine weitere Verlängerung von Artikel 50 zugestanden und das Chaos eines ungeregelten Austritts ist erneut abgewendet worden. Es herrscht jedoch große Skepsis, wie die Premierministerin eine Mehrheit für ihr Abkommen finden will, und das Volk hat die Brexit-Debatte einfach nur satt.

In einer Zeit, in der Journalisten und Kommentatoren bald ganze Brexit-Wörterbücher füllen können und täglich neue Feuerwerke an Metaphern und Wortspielen liefern, bedient man sich auch immer wieder gerne des wohl berühmtesten Zitats des ersten deutschen Reichskanzler, Otto von Bismarck: "Die Politik ist die Kunst des Möglichen." Nach dem jahrelangen Brexit-Debakel mag man in Westminster nicht allzu viel dieser Kunstfertigkeit vermuten. Aber nicht nur in Großbritannien, wo das Vertrauen in die Politik historische Tiefstände erreicht, verzweifelt man an der Frage, wie das Land aus der politischen Sackgasse kommen könnte. Trotzdem hat die EU Theresa May noch einmal gut 6 Monate Zeit gegeben, bis zum 31. Oktober 2019 eine Mehrheit für das verhandelte Austrittsabkommen zu finden.

Demonstranten vor dem Westminster Abby

Nach Jahren des Demonstrierens haben die meisten Briten die Brexit-Debatte einfach nur satt.

Anja Richter; HSS

Mays Strategiewechsel

Die Skepsis bezieht sich im Königreich vor allem auf die kürzlich begonnenen Gespräche zwischen Theresa May und dem Labour-Chef Jeremy Corbyn, für die beide Politiker viel Kritik aus den jeweils eigenen Reihen einstecken müssen. Aus deutscher Sicht mag dies verwundern, aber das politische System in Westminster ist traditionell auf Konfrontation ausgerichtet. Überparteiliche Konsensfindung gehört nicht gerade zur politischen Kultur. Für Theresa May, die den Zusammenhalt ihrer Partei bisher über alles gestellt hat und in den letzten zwei Jahren mehr auf den Brexiteer-Flügel ihrer konservativen Partei zugegangen ist als auf die Opposition, bedeutete dies einen Strategiewechsel. In einem für die Premierministerin, die wegen ihrer Unbeugsamkeit und Kompromisslosigkeit auch gerne „Maybot“ genannt wird, ungewöhnlich informellen „home video“ hat Theresa May kürzlich auf Twitter für überparteiliche Gespräche geworben und erklärt, dass bei dem Brexit-Referendum schließlich auch nicht entlang Parteilinien gewählt worden sei. Bald drei Jahre nach dem relativ knappen Referendum erscheint diese Einsicht reichlich spät gereift zu sein.

EU-Flaggen, Transparente, im Hintergrund große Zelte

EU-Anhänger demonstrieren vor dem "Media-Village"

Anja Richter; ©HSS

In einer kürzlich auf BBC gezeigten Zusammenfassung der Ereignisse der letzten zehn Monate, passend tituliert mit „The Brexit Storm“, sagt der für die Fraktionsdisziplin zuständigen „Chief Whip“ der Tories, Julian Smith, die Regierung hätte nach dem Verlust der eigenen Mehrheit durch die Wahlen 2017 klarer machen sollen, welche Konsequenzen dies für die Brexit-Verhandlungen haben würde und dass die neue Sitzverteilung unvermeidlich einen „weicheren“ Brexit bedeutete. Seine Kommentare sorgten, wenig überraschend, für großen Unmut unter Parteikollegen.

Wenn zwei stur bleiben

Dabei war nach dem Wahldebakel der Tories offensichtlich, dass ohne Kompromisse der Brexit nicht zu liefern sein würde. Theresa May hat aber erst in letzter Minute eingesehen, dass es nicht genug Rückhalt im Parlament (und sogar im eigenen Kabinett) für ihr Austrittsabkommen gibt. Auf der anderen Seite steht der nicht weniger kompromisslose Jeremy Corbyn, der seit zwei Jahre versucht, Neuwahlen durchzusetzen und sich nicht auf die Option eines zweiten Referendums einlassen wollte, obwohl dies von vielen Labour Abgeordneten befürwortet wurde.

Westminster Abby. Davor premanent aussehende Zelte.

Die Zelte der Presse- und Medienteams vor dem Parlament. Zumindest hier ist ist man auf die Verlängerung des Antrittstermins bis in den Herbst gut vorbereitet.

Ein Treffen, zu dem Theresa May Vertreter aller Parteien geladen hatte, soll er sofort verlassen haben, als dort auch Chuka Umunna, ehemaliger Labour-Abgeordneter und nun führendes Mitglied der neuen Change UK – Independent Party, anwesend war. So ist es auch wenig verwunderlich, dass die Gespräche bisher zu keinem Durchbruch geführt haben. Vertreter der Labour-Führungsriege zeigen sich verärgert dass Theresa May ihre „roten Linien“ weiterhin aufrechterhalten würde und nicht kompromissbereit sei. Ähnlich wie die EU-Mitgliedsstaaten wartet Labour auf grundlegend neue Vorschläge und pocht vor allem auf eine permanente Zollunion. Theresa May und selbst Austrittsbefürworter ihres Kabinetts, wie die Parlamentsführerin der Konservativen Andrea Leadsom, betonen hingegen immer wieder, dass das vorliegende Austrittsabkommen bereits „eine Art Zollunion“ bedeute.

Das „Boris Lock“

Für die Labour-Führungsriege sind aber eben die genaue Bezeichnung und eine rechtliche Verankerung wichtig, die von einem möglichen Nachfolger Theresa Mays nicht gleich wieder rückgängig gemacht werden könnte. Hinter einem solchen dem „Boris-Lock“ steckt die Befürchtung, dass Boris Johnson, der nach wie vor als möglicher Nachfolger Mays gilt, einen weichen Brexit wieder rückgängig machen würde. Ähnliche Bedenken über einen „wilden Brexiteer“ wurden auch von den EU-Mitgliedsstaaten hinsichtlich einer Verlängerung von Artikel 50 geäußert.

Demonstranten vor dem Westminster Abby

Das Vertrauen in die Politik ist in Großbritannien auf dem Tiefpunkt.

Anja Richter; HSS

Johnson hatte in seiner Kolumne im „Daily Telegraph“ Anfang der Woche die Zollunion heftig kritisiert und bekräftigte, Großbritannien „dürfe, könne und werde nicht“ die Kontrolle über eine eigene Handelspolitik abgeben. Ähnlich argumentiert seit Wochen auch der ehemalige Handelsminister Greg Hands sowohl in der britischen Presse als auch vor einem deutschen Publikum bei Anne Will oder Maybrit Illner. Zollunion oder nicht Zollunion gilt momentan als die Gretchenfrage schlechthin.

Während immer mehr Abgeordnete und auch Mitarbeiter des Parlaments und der Ministerien zunehmend über die Überlastung und die mentalen Auswirkungen der Brexit-Debatte klagen, hat auch die Bevölkerung genug. Den letzten YouGov Umfragen zufolge nimmt eine knappe Mehrheit der Briten eher einen ungeregelten aber baldigen Brexit in Kauf, als die politischen Diskussionen weiter zu ertragen. Auch wenn in den Medien immer wieder von Hamsterkäufen (vor allem Toilettenpapier und Olivenöl) berichtet wird, halten viele die Warnungen über die Konsequenzen eines ungeregelten Austritts für übertrieben. Theresa Mays’ gebetsmühlenartiger Slogan „Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“ hat sich in vielen Köpfen verfestigt, und besonders die Austrittsbefürworter sehen es als eine Frage des Nationalstolzes. Ein ebenfalls beträchtlicher Teil der Bevölkerung hingegen favorisiert die Zurücknahme von Artikel 50. Alles, nur keine Brexit-Debatten mehr so scheint es.  Journalisten mögen Brexit als „Rock’n Roll“ der traditionell eher einsamen politischen Berichterstattung sehen (so eine Times Kolumnistin kürzlich), das Volk aber hat die endlosen Diskussionen genauso satt wie europäische Politiker die Sondergipfel in Brüssel.

Vertrauen verbraucht

Ähnlich wie-bei den Abgeordneten im Parlament gibt es aber auch in der Bevölkerung keine klare Mehrheit für einen Ausweg aus der politischen Sackgasse. Dazu kommt, dass immer weniger Briten Vertrauen in die Politik haben, Brexit und die Probleme des Landes zu lösen. Umfragen der Hansard Society ergaben, dass das Ansehen der politischen Klasse heute noch schlechter ist als nach dem Spesenskandal 2009, der die gesamte politische Klasse erschütterte.

Besorgniserregend ist außerdem, dass sich die Mehrheit einen „starken Anführer“ wünscht, der sich auch traut, mit Regeln und Konventionen zu brechen. Im Kontext der populistischen Strömungen in Europa mag dies nur einen Trend bestätigen aber Labours Rufe nach einem „Boris-Lock“ erscheinen in diesem Zusammenhang umso verständlicher.

Die Gespräche zwischen May und Corbyn werden weitergehen. Es ist denkbar, dass sich beide auf einen Prozess für die weiteren Schritte einigen, beispielsweise eine weitere Reihe von Abstimmungen für die verschiedenen Brexit-Optionen, diesmal jedoch bindend und ohne Fraktionsdisziplin,. In ihrem „home video“ hatte May angedeutet, ihr Austrittsabkommen nicht noch ein viertes Mal dem Parlament zur Abstimmung vorzulegen.

In ihrem Brief an Ratspräsident Donald Tusk vom 5. April hatte Theresa May um eine Verlängerung bis zum 30. Juni gebeten auch wenn sie wusste dass die EU ihr diese nicht gestatten würde. Nun hat ihr die EU bis zum 31. Oktober Zeit gegeben, mit der Option, die EU vorzeitig zu verlassen sollte es vorher zu einer Einigung im Parlament kommen. Am Morgen nach dem Sondergipfel dreht sich die Diskussion in den sozialen Medien – typisch britischer Humor- bereits um passende Halloween Kostüme.

Weder die Briten noch EU-Politiker sind begeistert von der Vorstellung, dass Großbritannien an den Europawahlen Ende Mai teilnehmen soll. Es werden jedoch entsprechende Vorbereitungen dafür getroffen und die Parteien sind dabei, ihre Kandidaten auszuwählen. Gegner werfen der Regierung Geldverschwendung vor, Befürworter weisen auf die Kosten für die Vorbereitungen auf einen ungeregelten Brexit hin. Die Direktorin des britischen Industrie-Verbands CBI sagte am Morgen nach dem Sondergipfel dass Firmen zwar durchatmen könnten jedoch ihre no deal-Pläne weiterhin aufrecht erhalten würden. Sechs Monate mögen in der aktuellen Politik wie eine Ewigkeit erscheinen, könnten aber schnell vorbei sein und auch mit ein bisschen mehr Vorlaufzeit gäbe es keine gute Vorbereitung auf ein No-Deal Szenario, denn Schadensbegrenzung verhindere kein Chaos. Das ist zunächst erneut abgewendet worden und die Abgeordneten dürfen sich erst einmal über ein paar frei Tage freuen. Nach Ostern geht die Hängepartie in die nächste Runde.

Autorin: Anja Richter, HSS, London

Leiter Institut für Europäischen und Transatlantischen Dialog

Dr. Wolf Krug