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Präsidentschaftswahlen in Kolumbien
Eine politische Zeitenwende

In Kolumbien wird mit Gustavo Petro erstmals ein linksgerichteter Politiker und Ex-Guerillero in den Präsidentschaftspalast einziehen. Sein ambitioniertes Wahlprogramm polarisiert das südamerikanische Land. Petros Regierung tritt ein schweres Erbe an: Die ausgeprägte soziale Ungleichheit und der erneute Anstieg der Gewalt wirken wie ein gesellschaftliches Pulverfass.

  • Gustavo Petro, gewählter Präsident Kolumbiens
  • Die Vorgeschichte der Wahlen
  • Der Wahlausgang
  • Der „Uribismo“
  • Die Massenproteste
  • Der Friedensprozess am Scheideweg
  • Perspektiven
Gustavo Petro, der neu gewählte Präsident von Kolumbien

Gustavo Petro ist der erste linksgerichtete Politiker und Ex-Guerillero, der zum kolumbianischen Präsidenten gewählt wurde.

Arturo de La Barrera; CC-BY-SA-2.0; Wikimedia Commons

Tausende Kolumbianer lassen sich von Bogotás prasselndem Regen nicht davon abhalten, in euphorischem Jubel durch die Straßen zu ziehen, als am Abend des 19. Juni 2022 klar wird, dass tatsächlich vollbracht ist, was für sie wie ein Wunder erscheint: Gustavo Petro ist der neue Präsident Kolumbiens. Bis spät in die Nacht erschallen in Kolumbiens Hauptstadt nicht enden wollende Hupkonzerte und spontane Straßenfeste. Während seine Anhänger ihn auf der geschichtsträchtigen Plaza Bolívar im Stadtzentrum feiern, hält der frischgewählte Präsident in Bogotás Movistar-Arena vor 15.000 Menschen eine Rede, in der er eine neue Ära ankündigt, einen profunden Wandel Kolumbiens. Zum ersten Mal in der Geschichte des südamerikanischen Landes hat es ein linksgerichteter Politiker an die Macht geschafft.

Vierzig Jahre lang hat Gustavo Petro, Anführer des Wahlbündnisses „Pacto Histórico“, einer breiten Koalition von Parteien aus dem Links- und Mitte-Links-Spektrum, auf diesen Moment hingearbeitet. Kolumbiens neuer Präsident ist eine Galionsfigur der kolumbianischen Linken, ein Mann der Kontroversen, der von den Kolumbianern gleichermaßen verehrt wie gehasst und gefürchtet wird. Bereits zwei Mal hatte er nach dem Präsidentenamt gegriffen und war in der Stichwahl gescheitert, 2010 und 2018.
Der Werdegang des 62-jährigen Ökonomen ist geprägt von der Konfrontation mit der traditionellen Politik seines Landes. Mit siebzehn Jahren schloss sich Petro der urbanen Guerilla-Gruppe „Movimiento 19 de Abril“ (M-19) an, die von 1974 bis 1990 an Kolumbiens Bürgerkrieg teilnahm und für die Besetzung des Justizpalasts im Jahr 1985 verantwortlich gemacht wird, bei dem 94 Menschen, darunter elf Richter des Obersten Gerichtshofs, ums Leben kamen. Zwar war Petro selbst an dieser Aktion nicht beteiligt, er trägt als damaliges Mitglied der Guerilla aus Sicht vieler Kolumbianer ebenfalls Verantwortung für die Ereignisse, deren Hintergründe nie ganz aufgeklärt wurden. Nach der Auflösung der M-19 zog Petro zunächst als Abgeordneter des Repräsentantenhauses in den kolumbianischen Kongress ein, später als Mitglied des Senats. Von 2012 bis 2015 war er sodann Oberbürgermeister der Hauptstadt Bogotá und sorgte in dieser Position für zahlreiche Kontroversen. Petros Wegbegleiter beschreiben ihn als einen hochintelligenten, ambitionierten und introvertierten Menschen, sowie als beratungsresistenten Einzelgänger, der einen autoritären Führungsstil pflegt und dem es schwerfällt, im Team zu arbeiten.

Petros Sieg ist auch der Sieg seiner Vizepräsidentin, Francia Márquez. Ohne sie hätte er es kaum geschafft. Márquez verkörpert den direkten Bezug seiner Kampagne zum marginalisierten Kolumbien, zu all den Bevölkerungsgruppen, die bislang größtenteils ausgeschlossen waren von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes – die Afrokolumbianer der strukturschwachen Küstenregionen, die Indigenen der Peripherie, die Tagelöhner aus den Armenvierteln der Städte und auch Kolumbiens Frauen, die weiterhin mit strukturellen Barrieren kämpfen, auch wenn das Thema Gendergerechtigkeit in den Städten zuletzt sehr an Bedeutung gewonnen hat. Für all sie ist Francia Márquez, die selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammt und sich im Schweiße ihres Angesichts nach oben gearbeitet hat, eine Persönlichkeit, mit der sie sich identifizieren können. Die „nadies“ (Niemande), wie diese marginalisierten Bevölkerungsschichten von ihr bedeutungsvoll genannt werden, sichtbar zu machen und ihnen eine Stimme zu geben, war Márquez Kernthema, die den linken Flügel der Petro-Kampagne darstellte und es dem Präsidentschaftskandidaten dadurch erlaubte, sich selbst stärker in Richtung Mitte zu orientieren.

Hintergrundinformation

Márquez stammt aus dem Bundesstaat Cauca, der zu den konfliktreichsten des Landes gehört. Sie ist ein Kind der Arbeiterklasse, mit sechzehn Jahren wurde sie schwanger, verdingte sich in ihrer Jugend als Goldschürferin und Hausangestellte. Später studierte sie Rechtswissenschaften.
Als Aktivistin für Umweltschutz, Menschen- und Frauenrechte wurde Márquez über Kolumbiens Grenzen hinaus bekannt, 2018 wurde sie für ihren Kampf gegen illegale Goldminen mit dem renommierten Goldman-Preis ausgezeichnet. Während Gustavo Petros Rhetorik teilweise intellektuell und wenig volksnah anmutet, bedient sich Márquez einer einfachen, direkten Sprache. Ihr bisweilen einseitiger Diskurs ist voll der Anklage und schwerer Ressentiments angesichts des am eigenen Leibe erfahrenen Diskriminierung und der strukturellen Ungerechtigkeiten der kolumbianischen Gesellschaft.

Die Wahl von Francia Márquez ist nicht minder historisch als die von Petro. Mit ihr zieht erstmals in der Geschichte des Landes eine Figur in den Präsidentenpalast ein, die gleich drei ungewöhnliche Attribute in ihrer Person vereint: weiblich, Aktivistin, und: Afrokolumbianerin.

Wie sein Ergebnis als historisch, so wird der Wahlprozess selbst als einer der ungewöhnlichsten in die Geschichte des Landes eingehen. Die Entwicklungen im Vorfeld des ersten und zweiten Wahldurchgangs könnten wohl selbst von der Phantasie einer kolumbianischen Telenovela nur schwerlich übertroffen werden. 55 Kandidaten der verschiedensten Lager gingen ursprünglich ins Rennen, von denen am Ende acht übrigblieben. Als im ersten Wahlgang der Kandidat des konservativen Lagers, Federico „Fico“ Gutiérrez, mit knapp 24 Prozent der Stimmen nur einen dritten Platz erzielte, kam dies einem Erdbeben gleich. Kein Repräsentant aus Kolumbiens traditioneller Politik war damit in der Stichwahl vertreten – auch dies eine in der Geschichte des Landes noch nie dagewesene Situation. Fast 70 Prozent der Kolumbianer hatten für einen Wechsel gestimmt.

Anstelle des Establishments stand Petro plötzlich einem Kandidaten gegenüber, der sich selbst als politischer Außenseiter und Erneuerer verstand und verkaufte: der 77-jährige Bauunternehmer und Multimillionär Rodolfo Hernández aus dem Bundesstaat Santander. Sein Erfolg stellte die große Überraschung dieser Wahlen dar, ein Phänomen, das noch vor wenigen Monaten kaum jemand für möglich gehalten hätte. Eine geschickte Kampagne, die er hauptsächlich in den Sozialen Medien führte, verhalf dem ehemaligen Bürgermeister der mittelgroßen Stadt Bucaramanga im direkten Vorfeld der Wahlen zu überraschendem Aufwind. Seine Botschaft war simpel und effektiv: Er werde die Korruption bekämpfen, das größte aller Übel in der kolumbianischen Politik. Die dadurch freiwerdenden Mittel werde er in Bildung und Soziales investieren, außerdem den Staatsapparat massiv verschlanken und dafür sogar die Anzahl von Kolumbiens Botschaften und Konsulaten im Ausland reduzieren. Um diese Ziele zu erreichen, werde er als Präsident den Ausnahmezustand erklären und anhand von Dekreten den Sumpf der kolumbianischen Politik austrocknen. 

Der „Ingenieur“, wie er von seinen Anhängern genannt wird, führte seinen Wahlkampf quasi aus der Küche seiner Finca per TikTok und Facebook. An Fernsehdebatten, von denen in Kolumbien unzählige veranstaltet werden, nahm er meist nicht teil; wohl wissend, dass inhaltliche Diskussionen seinem Erfolg abträglich sein würden. In viralen Kurzvideos erreichte Hernández, der sich in seiner Kampagne vor allem mit jungen Menschen umgab, ein breites Publikum in den sozialen Medien. Ein echtes Wahlprogramm zu vermitteln, gelang damit freilich nicht. Vielmehr zielte Hernández auf die Emotionen der Menschen ab und machte sich die Frustration der Kolumbianer mit der traditionellen Politik zunutze. In vielen Ländern Lateinamerikas, in denen defizitäre Bildungssysteme die Teilhabe an politischer Meinungsbildung für einen Großteil der Bevölkerung weiterhin nicht zulassen, gewinnt diese Art der Social-Media-Politik an Relevanz. Hernández, der sich als unabhängiger Kandidat präsentierte, distanzierte sich klar von den Politikmaschinerien des Establishments, ohne deren Unterstützung eine Wahl in Kolumbien vermeintlich nicht gewonnen werden kann. Er kündigte an, als Präsident sein Gehalt zu spenden. In der Summe eine Strategie des Populismus in Reinform, derer sich auch Nayib Bukele in El Salvador im Wahlkampf 2018/19 bedient hatte, ein Meister Social-Media-basierter Manipulationsstrategien. Plötzlich war Petro nicht mehr der einzige, der einen Diskurs des Wandels proklamierte; Hernández hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen. In der Folge drehte sich der Wahlkampf darum, welcher Kandidat denn einen authentischeren Wandel repräsentiere. 

Als nach dem ersten Wahlgang feststand, dass neben Petro nicht etwa der Kandidat der Konservativen, sondern „der Ingenieur“ in die Stichwahl einziehen würde, sagten die traditionellen Lager letzterem unverzüglich ihre Unterstützung zu. Selbst der Kandidat der Mitte - des größten Verlierers dieser Wahlen - der gemäßigte Sergio Fajardo, unternahm Annäherungsversuche, die scheiterten. Die traditionelle Politik des Landes zögerte nicht eine Sekunde, einem unerfahrenen Populisten in das Amt des Staatspräsidenten zu verhelfen, wenn allein dadurch eine Präsidentschaft des verhassten Petros verhindert werden könne. Durch diese Entwicklungen wurde ein Sieg Petros, der während des gesamten Prozesses als Favorit gegolten hatte, plötzlich unwahrscheinlich. Allein die fünf Millionen zusätzlichen Stimmen des konservativen Lagers, die Gutiérrez erzielt hatte, würden summiert die Stichwahl zugunsten Hernández entscheiden. 

Wahlhelfer und Mitglieder der Wahlbehörden diskutieren miteinander am Wahltag.

Wahlhelfer und Mitglieder der Wahlbehörden diskutieren miteinander am Wahltag.

Demian Regehr

Warum es dann trotzdem anders kam - Der Wahlausgang

Das Wahlergebnis vom 19. Juni könnte knapper kaum sein. Mit 50,44 Prozent, was der Zahl von knapp 11,3 Mio. wahlberechtigen Kolumbianer entspricht, konnte Petro das Rennen für sich entscheiden. Dies entspricht der höchsten Stimmenzahl, mit der ein Präsident jemals in die „Casa de Nariño“, den kolumbianischen Präsidentschaftspalast, gewählt wurde. Die Wahlbeteiligung lag bei 58,09 Prozent – auch dies ein Rekordwert. Bis zum Schluss hatten Umfragen ein technisches Unentschieden prognostiziert. Es war ein schmutziger, polarisierter Wahlkampf, geprägt von der Einmischung staatlicher Funktionäre (die in Kolumbien verboten ist), Morddrohungen, und der Veröffentlichung geleakter Videos zur Verunglimpfung beider Kandidaten. 

Petros Sieg kann auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden: Zum einen gelang es ihm, die Wahlbeteiligung in seinen Kerngebieten zu erhöhen. Zum anderen stieg landesweit der Anteil derer, die sich für den „voto en blanco“ entschieden, der es in Kolumbien dem Wähler ermöglicht, bei gleichzeitiger Wahrnehmung des Wahlrechts seine fehlende Konformität mit den zur Verfügung stehenden Kandidaten zum Ausdruck zu bringen. Mit 2,24 Prozent wählten eine halbe Million Kolumbianer diese Option. Diese Stimmen fehlten dann vor allem Hernández. 

Wie es scheint, war die Person Hernandez vielen Kolumbianern am Ende doch nicht ganz geheuer. Der vermögende Bauunternehmer gilt als der „Donald Trump Kolumbiens“, der sich dreist über die Etiketten politischer Korrektheit hinwegsetzt und mit frauen- und fremdenfeindlichen Kommentaren polarisiert. Zahlreiche Skandale, oftmals auf Video festgehalten, tragen zu Hernández´ Bild als reaktionärem, ignoranten und dabei kuriosen Egozentriker bei. So wurde er beispielsweise als Bürgermeister vorübergehend suspendiert, weil er einen Gemeinderat schlug. In einem Interview äußerste er seine Bewunderung für Adolf Hitler. Wie auch im Falle Trumps vermochten diese Fehlschläge die Bewunderung vonseiten seiner Unterstützer nicht zu mindern. Manch ein Kolumbianer mag sich aber zuletzt die Frage gestellt haben, ob dieser Mann guten Gewissens ins Präsidentenamt gewählt werden könne. Hinzu kommt ein Strafermittlungsverfahren wegen Korruption, mit dem er konfrontiert ist. Gerade Hernández, dessen Wahlkampf sich dem Kampf gegen die Korruption verschrieben hatte, wird des Delikts der Vorteilsnahme bei der Auftragsvergabe eines Geschäfts im Wert von circa 142 Millionen Euro während seiner Zeit als Bürgermeister Bucaramangas bezichtigt. Dabei soll eine Provision für seinen Sohn geflossen sein. 

Petro vermochte am Ende Kapital aus den Zweifeln an der Eignung seines Kontrahenten zu schlagen. Er, der linke Ex-Guerillero, präsentierte sich in der zweiten Wahlkampfrunde paradoxerweise als die seriösere Option, als den erfahrenen Politiker, der Respekt hat für Institutionen und Demokratie. Dass dennoch 47,31 Prozent der Wähler, etwa 10,5 Millionen Kolumbianer, einen populistischen Anti-Politiker zu ihrem Präsidenten machen wollten, ist nicht nur Ausdruck des hohen Misstrauens weiter Teile der Bevölkerung gegenüber der Figur Petro, der sog. „Petrophobie“. Es ist auch sinnbildlich für den Erfolg eines neuen populistischen Wahlkampfmodells auf dem amerikanischen Kontinent, das sich seit Trump, Bolsonaro und Bukele auf dem Vormarsch befindet. 

Petros Sieg ist auch eine schwere Niederlage des „Uribismo“, der von Ex-Präsident Álvaro Uribe begründeten rechten politischen Strömung, die das Land in den vergangenen zwanzig Jahren dominierte. Uribe galt weiterhin als mächtiger Drahtzieher der kolumbianischen Politik, der amtierende Staatspräsident Ivan Duque als sein Ziehsohn. Während Uribe von vielen Kolumbianern bewundert wird, weil sich während seiner Präsidentschaft die Wirtschaft und Sicherheitslage stark verbesserten, machen ihn andere für Verbrechen während des bewaffneten Konflikts verantwortlich, die von paramilitaristischen Gruppen und dem kolumbianischen Militär auch gegen die Zivilgesellschaft verübt wurden. Aktuelles Beispiel ist ein laufendes Verfahren wegen außergerichtlicher Hinrichtungen während seiner Amtszeit im Fall der sog. „Falschen Positiven“, unschuldiger Menschen, die vom Militär fälschlicherweise als Guerilleros bezeichnet und getötet wurden, um vorgegebene Quoten zu erfüllen. Uribe gehört zu den kontroversesten Figuren des Landes und hat in den letzten Monaten viel von seiner ehemals unerreichten Popularität einbüßen müssen. Seine politische Strömung ist jedoch weiter prominent im Kongress vertreten und wird dort eine starke Oppositionsrolle ausführen.

Als ein weiterer Faktor für die aktuelle Unbeliebtheit des „Uribismo“ gilt die Präsidentschaft von Iván Duque. Während seiner Amtszeit, die am 7. August zu Ende gehen wird, erlitt Kolumbien Rückschläge bei Armutsbekämpfung, Sicherheitslage und sozialem Frieden. Knapp 40 Prozent Kolumbianer leben derzeit in Armut, mehr als 30 Prozent gelten als armutsgefährdet. Die Wohlstandverteilung in Kolumbien gehört zu den ungleichsten des Kontinents. Elf Generationen werden benötigt, um die Armut zu überwinden und einen ökonomischen Aufstieg aus der Unter- in die Mittelschicht zu erreichen. Nach wie vor verfügt nur ein Prozent der Bevölkerung über 81 Prozent des privaten Landbesitzes; die Umsetzung der im 2016 unterzeichneten Friedensabkommen vorgesehenen Maßnahmen zur Überwindung dieser strukturellen Ungleichheiten stagnierten während Duques Präsidentschaft. Auch in der Sicherheitspolitik, eigentlich einem Kernthema seiner Partei „Centro Democrático“, konnte er nur geringe Erfolge aufweisen. Die Vernachlässigung Kolumbiens peripherer Regionen durch den Staat ermöglichte das Erstarken illegaler bewaffneter Gruppen und Drogenkartelle. Gleichzeitig litt unter Duque die Unabhängigkeit staatlicher Institutionen und mit ihr das Vertrauen der kolumbianischen Bevölkerung. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen, gepaart mit den pandemiebedingten sozioökonomischen Verwerfungen in Kolumbien sowie diversen staatlichen Korruptions- und Klientelismusskandalen, wurde Duques Regierung zur unbeliebtesten in der jüngeren Geschichte des Landes.

2019 und 2021 erlebte Kolumbien die größte gesellschaftliche Protestbewegung seit den Siebzigerjahren.
Was als Protest gegen eine Steuerreform der Regierung begann, entwickelte sich zu einer Massendemonstration gegen die strukturellen Missstände im Land, an der tausende, vor allem junge Menschen teilnahmen. Der Staat reagierte mit teilweise unverhältnismäßiger Härte, es kam zu über 5.000 polizeilichen Vergehen, mindestens 46 Menschen wurden bei den Protesten getötet, bevor sich die Regierung auf einen Dialog mit den demonstrierenden Gruppen einließ. Der sog. „Paro Nacional“, der nationale Streik, bedeutete eine Zäsur für Kolumbiens Gesellschaft und Politik und schuf den Nährboden für Petros Wahlsieg. Dessen politisches Projekt greift die Themen der Protestbewegung auf. Nicht umsonst forderte er in seiner Rede zum Wahlsieg sogleich den Generalstaatsanwalt auf, alle Jugendlichen freizulassen, die infolge der sozialen Proteste von 2021 festgenommen wurden. Ein Zeichen der Solidarität gegenüber denjenigen, denen er den Sieg in großen Teilen zu verdanken hat; ein beunruhigendes Signal hinsichtlich seiner Einstellung zu Institutionalität und Gewaltentrennung im Lande. Manch einer fühlte sich dadurch erinnert an andere ähnliche Aussagen Petros, so etwa, dass er als Präsident den wirtschaftlichen Notstand ausrufen werde, um wichtige Gesetzesvorhaben am Kongress vorbei per Dekret durchzusetzen.

Petros politisches Leben ist geprägt von dem Bestreben, Kolumbiens Gesellschaft in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht partizipativer zu machen. Diese Themen bestimmten seinen Wahlkampf, der umfassende Reformen in fast allen Bereichen der Politik versprach und vor allem junge Kolumbianer zu begeistern vermochte. Sein Wahlprogramm beinhaltet eine Erweiterung sozialer Programme, die Verstaatlichung von Teilen der privaten Rentenfonds, eine Gesundheitsreform, Boden- und Agrarreformen sowie eine Steuerreform, die Kolumbiens reiche Bevölkerungsschichten stärker in die Pflicht nehmen soll. Es umfasst aber auch die Gründung einer durch die Vereinten Nationen gestützten Mission zur Korruptionsbekämpfung nach dem Vorbild der ehemaligen „Comisión Internacional contra la Impunidad en Guatemala“ (CICIG) in Guatemala – ein nur schwer realisierbares Vorhaben. Viele seiner Ankündigungen erscheinen nicht plausibel und tragen zu Petros Bild als Linkspopulisten bei, der viel verspricht, jedoch nur wenig davon wird umsetzen können. Seine Idee, die viertausend reichsten Menschen des Landes zu besteuern, schürte die gesellschaftliche Polarisierung und war Öl auf das Feuer der Kommunikationskampagne seiner Gegner, die ihn als Vertreter des Castrochavismus darstellte, der das Land durch Enteignungen, Umverteilung und Planwirtschaft in ein zweites Venezuela verwandeln wird. Manch anderer Punkt in Petros Programm hingegen ist bei genauerem Hinsehen nicht mehr als der Versuch, strukturelle Anpassungen vorzunehmen, wie etwa die Bereitstellung eines qualitativ hochwertigen öffentlichen Bildungssystems.

Petros wohl kontroversester Vorschlag ist der einer umfassenden Energiewende, basierend auf einer radikalen Umstellung des Wirtschaftsmodells: weg von Extraktionsmodell hin zur Industrialisierung. Sie würde das Land dazu verpflichten, keine neuen Lizenzen für Erdöl- und Kohleförderung zu vergeben.

„Was exportieren wir?“ fragte Petro im Wahlkampf provokant. „Kohle, Erdöl und Kokain. Alle drei verursachen Gewalt, nicht nur das Kokain.“ Tatsächlich ist die Förderung von Rohstoffen in Kolumbien vielerorts mit massiven Schäden für Umwelt und lokale Bevölkerungsgruppen verbunden, ein Ausdruck des vor allem in wirtschaftlichen Bereichen vorherrschenden Versagens der Institutionen. Allerdings beträgt der Export von Erdöl und seiner Derivate bis zu 50 Prozent der Gesamtexporte des Landes. Einen Verzicht auf diese Einnahmen halten Kritiker daher für einen „wirtschaftlichen Selbstmord“. Aktuell werden 90 Prozent der kolumbianischen Steinkohle exportiert. Vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine und der globalen Energiekrise wird sich die künftige Regierung Kolumbiens daher fragen müssen, ob sie sich einen Rückzug aus Kohle- und Erdölförderung tatsächlich leisten kann.

Die Durchführung des Wahltags, an dem ca. 39 Millionen wahlberechtigte Kolumbianer dazu aufgefordert waren, ihre Stimme abzugeben, verlief aus Sicht der Wahlbehörden und staatlichen Sicherheitskräfte weitgehend erfolgreich. Die im Lande stationierten internationalen Wahlbeobachtungskommissionen, darunter die der Europäischen Union und der Organisation Amerikanischer Staaten, meldeten zahlreiche Unregelmäßigkeiten, die sich allerdings nicht auf das Wahlergebnis auswirkte. 300.000 Polizisten und Soldaten befanden sich auf dem gesamten Staatsgebiet im Einsatz, um die Sicherheit der Wähler, Wahlhelfer und Kandidaten vor allem in den von Gewalt geplagten Regionen Kolumbiens zu gewährleisten. Trotzdem kam es auch diesmal zu gewalttätigen Zwischenfällen, bei denen zwei Zivilisten und ein Soldat ihr Leben verloren und mehrere Soldaten bei einem Sprengstoffanschlag verletzt wurden.

Noch am Wahlabend wurde Petros Wahlsieg von seinem Kontrahenten und allen politischen Kräften im Lande anerkannt. Sowohl der amtierende Präsident Iván Duque als auch die Vizepräsidentin sicherten ihre Unterstützung beim bevorstehenden Übergabeprozess zu. Álvaro Uribe twitterte „Gustavo Petro ist Präsident“. Diese Bekenntnisse zur Wahrung der Institutionalität bestätigen die Reife der kolumbianischen Demokratie und gereichen dem unterlegenen Lager zur Ehre.

Es ist davon auszugehen, dass Petro und seine Anhänger im Falle einer Niederlage anders reagiert hätten. Seit den frühen Morgenstunden versprühten sie am Wahltag per Twitter Zweifel hinsichtlich der Transparenz des Wahlprozesses. Im Zuge der im März durchgeführten Kongresswahlen hatte es schwerwiegende technische Probleme beim Auszählungsprozess gegeben, die das Vertrauen der Bevölkerung in die Kompetenz und Unparteilichkeit der zuständigen Behörden nachhaltig beschädigten. Vor diesem Hintergrund barg Petros Strategie, sich per Twitter auf eine mögliche Wahlniederlage vorzubereiten, gefährlichen Sprengstoff.

Anhand von Listen, die vor den Wahllokalen ausgehängt werden, können die Bürger ihren Wahlplatz herausfinden.

Anhand von Listen, die vor den Wahllokalen ausgehängt werden, können die Bürger ihren Wahlplatz herausfinden.

Demian Regehr

Der Friedensprozess an einem Scheidepunkt

Der neu gewählte Präsident Kolumbiens steht vor großen Herausforderungen. Das Land kämpft mit einer der höchsten Inflationsraten der vergangenen Jahrzehnte und einem der höchsten Haushaltsdefizite seiner Geschichte. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 11 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 21 Prozent. Über die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung ist im informellen Sektor beschäftigt. Steigende Nahrungsmittelpreise (in diesem Bereich liegt die Inflation bei knapp 22 Prozent) erhöhen die Hungergefahr. Erstmals seit vielen Jahren stand daher das Thema Friedensprozess im Wahlkampf nicht im Vordergrund, sondern vielmehr sozioökonomische und umweltpolitische Fragen. Gleichzeitig sind diese eng verwoben mit vielen der im 2016 unterzeichneten Friedensabkommen definierten Themenkomplexe.

Kolumbiens Frieden, der den längsten Bürgerkrieg der Welt mit 250.000 Toten beendete, ist indes höchst fragil. Die Auflösung der ehemaligen Guerilla-Gruppe „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia“ (FARC) hat in den ehemals von ihr kontrollierten Regionen ein Machtvakuum geschaffen, das alsbald von einer Vielzahl alter und neuer Akteure gefüllt wurde, darunter FARC-Dissidenten, der mächtige „Clan del Golfo“ und die Guerilleros der „Ejército de Liberación Nacional“ (ELN), die bisher nicht Teil des Friedensprozesses sind. Diese Akteure liefern sich blutige Kämpfe um die Kontrolle des Drogengeschäfts, des illegalen Bergbaus und Holzhandels. Auf 18.000 Mann wird die aktuelle Stärke dieser Milizen geschätzt.

Leidtragende ist die Zivilbevölkerung, die unter Terror und Rechtslosigkeit leidet – insbesondere lokale Aktivisten aus dem Umwelt- und Sozialbereich. Kolumbien ist für Aktivisten eines der gefährlichsten Länder der Welt. Mehr als tausend wurden seit Unterzeichnung des Friedensabkommens umgebracht. Allein in diesem Jahr wurden bereits 89 Menschenrechtsaktivisten getötet, 44 Massaker mit 158 Todesfällen allein in den ersten fünf Monaten des Jahres verübt. Hinzu kommen die Opfer des letzten „bewaffneten Streiks“ des mächtigen „Clan del Golfo“, der damit auf die Auslieferung seines Oberhauptes, des berüchtigten Drogenbosses Otoniel, in die USA reagierte. Im Mai legte die Organisation ein Viertel des Landes lahm, um ihre Macht zu demonstrieren, 26 Menschen kamen dabei ums Leben. Diese Faktoren führen in der Summe dazu, dass Kolumbien weltweit zu den drei Staaten mit den meisten Binnenflüchtlingen gehört: 5,2 Millionen waren es im Jahr 2021.

Die Zahlen machen deutlich, dass sich der fragile Friedensprozess, vernachlässigt durch die Administration Duque, an einem Scheidepunkt befindet. Will Kolumbien die Früchte des 2016 unterzeichneten Abkommens ernten, so muss das Land nun endlich Fortschritte bei der Umsetzung des damals definierten Prozesses erzielen. In der aktuellen Situation steht der Erfolg des Friedensvertrags auf der Kippe. Weitere Rückschläge könnten das Land nachhaltig destabilisieren und auch Gespenster der Vergangenheit wieder zum Leben erwecken. Ein wichtiges Element wird dabei sein, die weiterhin aktive, 1964 gegründete ELN in den Friedensprozess miteinzubeziehen. Nach Petros Wahlsieg verkündete die Guerilla, dass sie für Verhandlungen zur Verfügung stehe.

Präsident eines gespaltenen Landes

Wie der Blick auf die Zusammensetzung der Wahlergebnisse von Sonntag zeigt, geht ein regionaler Riss durch das Land. Während das Zentrum Kolumbiens, mit Ausnahme Bogotás, für den Kandidaten Hernández stimmte, befinden sich Petros Wähler hauptsächlich in der „Peripherie“: an der Pazifik- und Karibikküste, in den südlichen und südöstlichen Grenzregionen. Diese Regionen sind traditionell vom Staat vernachlässigt und fühlen sich ausgeschlossen von der Entwicklung im Rest des Landes. Es waren vor allem die Menschen aus diesen Gegenden Kolumbiens, die nun für Petro gestimmt haben, in der Hoffnung, ihren Sorgen und Nöten Gehör zu verschaffen.

Erstaunlicherweise spiegelt dieses Ergebnis das Abstimmungsverhalten während des Referendums zum Friedensvertrag im Jahr 2016 fast identisch wider. Die Gegner des Abkommens, die eine Amnestie für Ex-Guerilleros verurteilten, fand man im zentralen Hochland; dessen Befürworter in den peripheren Konfliktregionen, die bis heute unter der Präsenz illegaler Milizen leiden. Diese regionale Spaltung ist symbolisch für die vorherrschenden Diskrepanzen in Bezug auf Mentalität, Lebensrealität und kulturhistorische Prägung, die diesen Staat charakterisieren. Es wird eine der dringlichsten Aufgaben der neuen Regierung sein, diese verschiedenen Gesichter Kolumbiens einander anzunähern, Verständnis und Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern und die ausgeprägte Polarisierung nachhaltig entschärfen. So sprach Petro denn auch in seiner Rede am Wahlabend von einem Plan zur Aussöhnung anhand eines „Großen Nationalen Abkommens“ unter Einschluss aller gesellschaftlichen Kräfte.

Ende des Kalten Krieges? 

Kolumbien ist eine Ausnahmeerscheinung in Lateinamerika. In über 200 Jahren hatte es noch nie eine linksgerichtete Regierung. In 200 Jahren politischer Geschichte haben sich in Kolumbien etwa 40 Familien die Macht geteilt. Als sich Anfang der 2000-Jahre der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in der Region auf dem Vormarsch befand, war das Land eines der letzten großen Bollwerke der Konservativen in Südamerika. Im Kontext des bewaffneten Konflikts zwischen Staat und Guerilla-Bewegungen waren linke politische Kräfte stigmatisiert, viele als links geltende Themen wurden als subversiv angesehen. Weiterhin ist in Kolumbien, wie auch in anderen Staaten Lateinamerikas, das Schwarz-Weiß-Denken des Kalten Krieges präsent. Der Wahlsieg Petros zeigt, dass sich diese Schemata im Aufbruch befinden. In gewisser Weise beutetet sein Sieg die Einkehr einer demokratischen Normalität in Kolumbien, die ein Sich-Abwechseln politischer Strömungen in der Regierung erlaubt. Seine Präsidentschaft ist auch ein Produkt des Friedensprozesses sowie der Distanzierung Kolumbiens linker Politik vom Erbe der Guerilla.

Es bleibt zu hoffen, dass Petro aus den Fehlern der Linken in Lateinamerika gelernt hat. Mehrfach wies er Vorwürfe von sich, seine Regierung werde Kolumbien in Richtung Venezuela steuern, des von Diktatur und humanitärer Krise gebeutelten Nachbarstaates oder sie werde Privatbesitz enteignen und sich über die Institutionen des Landes hinwegsetzen. Auch betonte er, keine Ambitionen zu haben, sich über die verfassungsrechtlich erlaubten vier Jahre im Amt zu halten. Klar ist aber auch, dass die Umsetzung seines ambitionierten Projekts einen längeren Zeitrahmen benötigen wird und sich potentielle Nachfolger dafür bereits ins Spiel bringen. In seiner Rede am Wahlabend spricht Petro von einer „Weiterentwicklung des Kapitalismus“, der die Bedeutung des Marktes ebenso wie die eines starken, effizienten Staates anerkennt. „Ohne Produktion kann es keine Umverteilung geben“, so Petro. Er verspricht außerdem, Kolumbien zum weltweiten Vorreiter einer modernen Klimapolitik zu machen.

Ein Anhänger von Gustavo Petro schwenkt die Wiphala, die Flagge der indigenen Völker der Andenregion. Ihnen verspricht Kolumbiens künftiger Präsident bessere Chancen für politische und sozioökonomische Teilhabe.

Ein Anhänger von Gustavo Petro schwenkt die Wiphala, die Flagge der indigenen Völker der Andenregion. Ihnen verspricht Kolumbiens künftiger Präsident bessere Chancen für politische und sozioökonomische Teilhabe.

Demian Regehr

Perspektiven

Große, humanistische Visionen sind es, mit denen Petro übergroße Erwartungen bei seinen Anhängern geweckt hat. Die Realität des Regierungsgeschäfts wird es fast unmöglich machen, seine Ideen in dieser Form umzusetzen; zum einen, weil sie zum Teil fiskalpolitischer Substanz entbehren, zum anderen, weil Petros „Pacto Histórico“ im kolumbianischen Kongress – trotz beachtlicher Zugewinne bei den im März durchgeführten Kongresswahlen – über keine Mehrheit verfügt. Wenn sich der Kongress am 20. Juli neu konstituiert, werden die in ihm vertretenen Parteien sich als Regierungslager, Opposition oder unabhängig deklarieren müssen. Spätestens dann wird feststehen, welche Allianzen für Petros Regierung zur Verfügung stehen. In jedem Fall wird es unvermeidlich sein, Kompromisse bei der Umsetzung seiner politischen Visionen zuzulassen und auf Abstand zu einigen seiner Wahlversprechen zu gehen. Enttäuschung und Desillusionierung bei seinen Anhängern sind daher vorprogrammiert. Hinzu kommt, dass die traditionellen Kräfte der kolumbianischen Politik Petros Regierung mit aller Kraft torpedieren werden. Es ist also fraglich, wie viel realen Wandel Petro vor dem Hintergrund der faktischen Machtverhältnisse wird erzielen können. Entscheidend wird für ihn sein, in den ersten hundert Tagen seiner Regierung bereits sichtbare Erfolge vorzuweisen – und der später eintretenden Frustration damit vorzubeugen. Sicher ist zudem, dass er neue Themen auf die Regierungsagenda setzen und damit auch die öffentliche Debatte in Kolumbien langfristig stark bestimmen wird; losgelöst von den technischen Erfolgen seiner Regierung.

Rückenwind wird er dabei erhalten durch den regionalen Linksruck, den Lateinamerika derzeit erfährt und der sich mit einem Sieg Lulas bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Brasilien verfestigen könnte. Weiterhin gehören dazu demokratische wie auch undemokratische linke Regierungen, weshalb es essentiell sein wird, dass sich Kolumbiens neue Regierung treffsicher in die Schar der Demokraten einzureihen weiß. Am Wahlabend verkündete Petro eine Außenpolitik, die stärker auf die Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten abzielen soll. Vor allem die USA werden die entsprechenden Schritte der neuen Regierung mit Argusaugen verfolgen. Kolumbien ist der wichtigste Verbündete der USA in Lateinamerika, ihr wichtigster Partner im Drogenkrieg, einziger NATO-Partner in der Region. Eine reibungslose Zusammenarbeit ist bedeutend für die geopolitischen Interessen der USA, gerade mit Blick auf China, das in Lateinamerika zunehmend an Einfluss gewinnt.

Auch die Definition von Petros Politik gegenüber Venezuela wird von der Staatengemeinschaft mit Spannung erwartet. Derzeit existieren keine diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden, ideologisch verfeindeten Regierungen, und dies, obwohl Kolumbien in den letzten Jahren fast zwei Millionen venezolanischen Migranten einen Aufenthaltsstatus gewährt hat. Über lange Monate waren die Grenzübergänge geschlossen, mit verheerenden Folgen für die Bevölkerungen in den historisch eng verwobenen Grenzregionen. Unter Petro ist eine Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen zu erwarten, die auch eine Normalisierung auf wirtschaftlicher Ebene erlauben würde und damit mit Wohlstandseffekten verbunden sein könnte. Dies würde auch eine Wiedereröffnung der Maduro- Botschaft in Bogotá implizieren. Welche konkreten Folgen dies wiederum für hunderte venezolanische Exilpolitiker, Aktivisten, Journalisten und Unternehmer hätte, die in Kolumbien Schutz und Asyl gefunden haben, während sie in ihrer Heimat verfolgt werden, bleibt abzuwarten.

Die Bewältigung dieser und weiterer Herausforderungen, darunter eine Umstellung der gescheiterten Drogenpolitik, um die sozioökonomischen Ursachen des Kokainanbaus in Kolumbien an der Wurzel anzugreifen, werden Kompass und Erfolg von Kolumbiens neuer Regierung definieren. Dabei wird Petro nicht nur auf gute Beziehungen zu den mächtigen Militärs seines Landes, die seine Reformpläne zum Teil mit Argwohn betrachten, sondern auch zur internationalen Gemeinschaft angewiesen sein. Am wichtigsten wird sein, dass Petro sein am Wahlabend geäußertes Versprechen, den Dialog in Politik und Gesellschaft zu fördern, ab sofort in die Tat umsetzt. Fast die Hälfte der Wähler haben ihm ihr Vertrauen nicht geschenkt. Für die Umsetzung seiner ambitionierten Reformen benötigt Petro einen breiten gesellschaftlichen Konsens, den er nur mit einem ehrlichen Diskurs der Versöhnung erzielen kann.