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Zweiter Urnengang nach gescheiterter Regierungsbildung
Erneut Parlamentswahlen in Israel

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu war es nicht gelungen, nach den Wahlen im April 2019 eine neue Regierung zu bilden. Nun sind die knapp sechs Millionen wahlberechtigten israelischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger am 17. September 2019 erneut aufgefordert, über die Zusammensetzung der Knesset zu entscheiden. Zur Wahl stellen sich 32 Parteien.

Aktuell sind in der Knesset – dem Parlament des Staates Israel –  11 Fraktionen vertreten. Diese hohe Zahl angesichts von 120 Abgeordnetensitzen beruht auf der relativ niedrigen 3,25-Prozent-Hürde der Stimmen, die eine Partei für den Einzug ins Parlament benötigt. Der Staat Israel hat sich von seiner Gründung an als pluralistischer Staat mit verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen verstanden und daher bewusst eine niedrige Sperrklausel gesetzt, damit viele gesellschaftliche Gruppen im Parlament vertreten sein können. Anfangs lag sie sogar bei nur 1 Prozent, im Laufe der Jahre wurde sie angehoben.

So wählt Israel

Gewählt wird in allgemeinen, nationalen, direkten, gleichen und geheimen Verhältniswahlen. Alle 120 Sitze im Parlament werden über starre Listen vergeben. Das heißt, es gibt keine direkt gewählten Abgeordneten, keine Wahlkreise und keine Möglichkeit, die durch die Parteien festgelegte Reihung der Kandidatinnen und Kandidaten zu ändern. Jede Wählerin, jeder Wähler hat eine Stimme, die er oder sie an eine Partei vergeben kann. Listenverbindungen sind zulässig. Von ihnen wird von der äußerst volatilen Parteienlandschaft – vor jeder Wahl schießen neue Parteien wie Pilze aus dem Boden - rege Gebrauch gemacht. Auch Parteiwechsel amtierender Politiker oder gar von Ministern, sind in Israel keine Seltenheit.

Lebendige Parteienlandschaft

Im rechten Lager haben sich Parteien zusammengeschlossen, die im April an der 3,25-Prozent-Hürde gescheitert waren. Die Partei Das neue Recht schloss sich dem Jüdischen Haus (Habayit Hayehudi) und der Nationalen Union auf einer gemeinsamen Liste mit dem Namen Recht (Yamina) an. Parteichefin Ayelet Shaked war in der vorangegangenen Legislaturperiode Justizministerin und macht sich als Befürworterin für eine Anwendung der israelischen Souveränität auf die Gebiete von Judäa, Samaria und das Jordantal stark.

Auf der linken Seite hat die beträchtliche Schwächung der Labour Party und der Meretz Partei zu neuen Verbindungen geführt. In diesen Wahlen tritt Meretz auf einer gemeinsamen Liste mit dem Demokratischen Israel an, einer Partei, die aus dem ehemaligen Premierminister Ehud Barak und der Grünen Bewegung besteht, und zusammen den Namen "Democratic Camp" trägt. Die seit Jahren schwächelnde ehemals regierende Labour Partei wird bei dieser Wahl mit der Brückenpartei (Gesher) antreten, die bei den Wahlen im April die Sperrklausel nicht überschritten hat.

Die vier arabischen Parteien, die es im April nicht geschafft haben, interne Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und mit zwei getrennten Listen ins Rennen gegangen waren, treten erneut an, nun mit einer gemeinsamen arabischen Liste Joint List. Die Liste ist ideologisch vielfältig und umfasst Kommunisten, Sozialisten, Feministen, Islamisten und arabische Nationalisten. Die Kandidaten vertreten auch unterschiedliche Positionen für und wider eine Unterstützung der jüdisch-arabischen Zusammenarbeit.

Likud gegen Blau Weiß - oder doch miteinander?

Der Likud ist die größte national-konservative Partei mit starkem Fokus auf der Existenz Israels als selbständigem jüdischen Staat im Nahen Osten und auf Sicherheitspolitik. Die Partei Kulanu, die im April 2019 beinahe an der 3,25-Prozent-Hürde gescheitert wäre, fusionierte mit dem Likud.

Wirtschaftspolitisch unterstützt der Likud die Prinzipien sozialer Gleichheit und freier Marktwirtschaft – er hat die Privatisierung der Wirtschaft vorangetrieben, für ein staatliches Rentensystem votiert und den Mindestlohn eingeführt. Obwohl es sich um eine säkulare Partei handelt, betrachten die religiösen Parteien sie als einen vergleichsweise bequemen Koalitionspartner. Der Spitzenkandidat ist Benjamin Netanjahu, der die Partei seit 2009 ununterbrochen leitet. In den Umfragen liefern sich der Likud und Blau Weiß erneut ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit jeweils 32 Sitzen.

Blau Weiß (Kachol Lavan) ist ein Wahlbündnis, das sich zu den Knesset-Wahlen im Frühjahr 2019 gebildet hat. Es vereint die Parteien Widerstandskraft Israel, Telem und Yesh Atid. Die beiden letztgenannten Parteien, geführt von Benny Gantz beziehungsweise Moshe Ya’alon, wurden Ende 2018 gegründet. Später schloss sich die Partei Yesh Atid unter dem Vorsitz von Yair Lapid der Wahlliste an. Blau Weiß ist eine zionistische liberale Partei, die im politischen Zentrum verortet ist.

Ansicht von der Jerusalemer Altstadt

Am 17. September 2019 finden in Israel erneut Parlamentswahlen statt. Zuletzt hat sich der Wahlkampf aufgeheizt. Nun müssen die Wähler entscheiden.

Nick 115; CC0; Pixabay

Herausforderung Koalitionsbildung

Die Partei Yisrael Beitenu (Israel ist unser Zuhause) wurde 1999 vor den Wahlen zur 15. Knesset von Avigdor Lieberman gegründet. Zum Zeitpunkt der Gründung richtete sich die Partei vor allem an Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Heute bietet Yisrael Beitenu eine ungewöhnliche Kombination aus rechten Positionen bei der Sicherheitspolitik und liberalen, weltlichen Positionen beim stark ausgeprägten Spannungsfeld zwischen religiösen und säkularen Interessen in Israel. So ist ein wichtiges Thema für die Partei die obligatorische Aufnahme der strengreligiösen ultraorthodoxen Juden in das israelische Militär (Israel Defense Forces, IDF). An diesem zentralen Streitpunkt waren im Mai die Koalitionsverhandlungen gescheitert zwischen dem Likud, Israel Beiteinu, Kulanu, Vereinigte Rechte und den religiösen Parteien Shas und Vereintes Thora-Judentum.

Shas wurde 1984 von ultraorthodoxen sephardischen Juden gegründet, weil sie sich in einem institutionellen Nachteil befanden und in der israelischen Politik im Vergleich zu Ashkenazi und Haredim unterrepräsentiert waren. Ihre Mitglieder glauben an den Staat Israel als Staat des jüdischen Volkes und streben an, Juden aus der ganzen Welt in Israel zu sammeln. Sicherheitspolitisch streben sie Friedensabkommen mit den arabischen Staaten an. Dabei soll die Sicherheit der Bewohner Israels gewahrt werden. Sie sind jedoch gegen eine Teilung Jerusalems.

Das Vereinigte Thora-Judentum (Yahadut HaTorah) ist eine gemeinsame Liste der ultraorthodoxen Parteien Agudat Israel und Degel HaTorah. Das Vereinigte Thora-Judentum (UTJ) fördert die Interessen der israelischen Haredim-Gemeinschaft bei Bildung und Wohlfahrt und spezifischen Themen wie dem Militärdienst. UTJ arbeitet auch daran, den religiösen Charakter des Staates Israel zu bewahren. In Bezug auf Außenpolitik und Sicherheit ist das Vereinigte Thora-Judentum eine zentristische Partei, die ihre Positionen mehr nach religiösen Bedenken denn nach sicherheitspolitischen oder diplomatischen Erwägungen bestimmt.

Wahl des Ministerpräsidenten

Der neue Ministerpräsident wird vom Parlament aus den Reihen der Abgeordneten gewählt. Zunächst beauftragt der Staatspräsident, in diesem Fall also Staatspräsident Reuven Rivlin, den Parteivorsitzenden mit den besten Erfolgsaussichten, eine Regierungskoalition zu bilden. Diese muss mindestens 61 der 120 Sitze im Parlament stellen. Dafür hat er 28 Tage Zeit, eine Frist, die um weitere 14 Tage verlängert werden kann. Sollte in dieser Zeit keine stabile Koalition zustande kommen, kann der Staatspräsident einen anderen Abgeordneten mit der Regierungsbildung beauftragen. Dazu war es nach der Wahl im April dieses Jahres nicht gekommen, da die Knesset bereits zuvor ihre Auflösung beschlossen hatte. Dieser Schritt lag auch an der mangelnden Bereitschaft des amtierenden Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (Likud), sein Amt als Ministerpräsident abzugeben. Der Vorsitzende des gleichplatzierten Bündnisses Blau Weiß, Benny Gantz, war mit der klaren Agenda angetreten, Netanjahu zu ersetzen und hatte bereits im Wahlkampf einer Regierungszusammenarbeit mit Netanjahu eine klare Absage erteilt. Eine Koalition mit dem Likud schloss er zwar nicht aus, machte aber deutlich, dass er zu einer solchen Zusammenarbeit „nur ohne Netanjahu“ bereit wäre.

Stimmung in der Bevölkerung

Die Wiederholung der Wahlen hat die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung erhöht. Eine Umfrage des Democracy Institutes (IDI, Download vom 06.06.2019) hat ergeben, dass 29 Prozent der israelischen Wahlberechtigten sich weniger für die Wahlen am 17. September interessieren als noch im April. Auch das Vertrauen in die Demokratie hat gelitten. Daher ist eine niedrigere Wahlbeteiligung als zuletzt im April (68,46 Prozent) zu erwarten.

Die Mehrheit der jüdischen Israelis, die rund 75 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, bevorzugen eine Regierungskoalition aus Likud und Blau Weiß (39 Prozent Zustimmung). Die Mehrheit der arabischen Israelis sähe gerne ein Mitte-Links-Bündnis unter der Führung von Benny Gantz (38 Prozent). Etwa 49 Prozent der jüdischen Israelis würde eine von Benjamin Netanjahu geführte Regierung begrüßen, 32 Prozent sprechen sich für eine Koalition mit dem rechten Flügel aus, 17 Prozent für eine von Netanjahu geführte Koalition des Likud mit Blau Weiß.

Schlechte Noten trotz guter Wirtschaftslage

Auch wenn 45 Prozent der Israelis die Wirtschaftspolitik der Regierung schlecht bewerten –24,5 Prozent geben ihr eine gute Note – kann Netanjahu auf gute Wirtschaftsdaten verweisen: Die Beschäftigungsquote ist mit 60,8 Prozent die höchste seit Jahren, die Arbeitslosigkeit ist mit 3,7 Prozent auf einem historischen Tiefstand. Löhne und Gehälter sind gestiegen, aber auch die Preise. Die Lebenshaltungskosten in Israel liegen aufgrund der hohen Steuern über dem westeuropäischen Preisniveau. Israel verzeichnet mit 3,3 Prozent zwar ein höheres BIP-Wachstum als der OECD-Durchschnitt (2,9 Prozent), die israelische Bevölkerung wächst schneller als die der OECD (Organization for Economic Cooperation Development) insgesamt. Somit liegt das BIP-Wachstum pro Kopf in Israel mit 1,4 Prozent unter dem Schnitt der OECD von 2,2 Prozent.

Das Bevölkerungswachstum in Israel mit einer Geburtenrate von 3,11 Kinder pro Frau liegt auch am Kinderreichtum der ultraorthodoxen Familien, die durchschnittlich 7 Kinder haben. Der Anteil der streng religiösen Bevölkerung in Israel wächst damit überproportional. So könnte – je nach dem Wahlverhalten der Ultraorthodoxen – die Fraktion der ultraorthodoxen UTJ nach Berechnungen des IDI alle vier Jahre ein Mandat hinzugewinnen. Ein solch stetiges Wachstum des ultraorthodoxen Wählerpotenzials aufgrund der demographischen Entwicklung wurde in der Vergangenheit durch Faktoren wie den Zuzug von fast einer Million Neubürgern aus der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er und frühen 2000er Jahren, die überwiegend säkulare Parteien wählen, verlangsamt. Die politische Orientierung und das Wahlverhalten der Israelis aus der ehemaligen Sowjetunion lässt sich heute nicht mehr ausschließlich an der Herkunft festmachen, auch wenn der aus Russland stammende Avigdor Lieberman und seine Partei Yisrael Beitenu nach wie vor über eine gewisse Bindungskraft bei diesen Wählern verfügen.

Sicherheitspolitik als zentrales Thema

Die jüngste Russlandreise Netanjahus wird von Analysten – wie bereits sein Termin mit Putin vor den Wahlen im April – auch als Versuch gewertet, insbesondere russischsprachige Wähler zu gewinnen. Wie im ersten Wahlkampf dieses Jahres setzt der Ministerpräsident des Staates Israel auf seine internationale Erfahrung, seinen Amtsbonus und die Augenhöhe, auf der er mit anderen Staatslenkern wie Donald Trump agieren kann. Anfang September, während seines Treffens in London mit Boris Johnson und anschließend mit dem neuen US-Verteidigungsstaatssekretär Mark Esper, sprach Netanjahu über Israels Sicherheitsinteressen bei den aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Iran. Bereits seit vielen Monaten geht das israelische Militär gegen iranische Stellungen und Munitionslager schiitischer Milizen im angrenzenden Syrien vor. Die große Entschlossenheit, mit der gegen die Versuche Irans vorgegangen wird, vor den Toren Israels militärisch Fuß zu fassen, ist innerhalb der israelischen Gesellschaft Konsens. Die israelische Armee ist in erhöhter Alarmbereitschaft, um Angriffe schiitischer Milizen aus Libanon und Syrien, die Anfang September versuchten, israelisches Territorium mit Raketenbeschuss zu erreichen, abzuwehren.

Von Wahlkämpfern des Likud werden diese jüngsten Ereignisse auch als Argumente für Netanjahu und seine große Erfahrung genutzt.

Wie die Wählerinnen und Wähler dies bewerten und ob es der neuen Knesset gelingen wird, eine regierungsfähige Mehrheitskoalition zu bilden, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. In jedem Fall zeichnet sich ein heißer Herbst in Israel ab.

Autorinnen: Julia Obermeier und Naomi Mittelmann

Naher Osten, Nordafrika
Claudia Fackler
Leiterin