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Nach den Wahlen in Tunesien
Viele Fragezeichen, viele Lehren und eine bittere Erkenntnis

Euphorisch wurde der Wahlsieg von Kaïs Saïed gefeiert. Jetzt stehen der tunesischen Politik nach den Doppelwahlen von Legislative und Exekutive unruhige Zeiten bevor. Weder ist klar, wie der unerfahrene neue Präsident sein Amt ausüben wird, noch zeichnet sich im neugewählten Parlament eine tragfähige Mehrheit zur Bildung einer Regierungskoalition ab.

Obwohl es noch zu früh ist, die Wahlen bereits umfassend zu analysieren, können bereits viele Lehren aus dem tunesischen Wahljahr 2019 gezogen werden: die junge Demokratie ist ihrem politischen Establishment bereits nach einer Legislaturperiode überdrüssig.

Nachdem sich schon in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 15. September 2019 mit Nabil Karoui und Kaïs Saïed nicht ganz unerwartet - siehe Artikel vom 11. September - zwei Politikneulinge durchgesetzt hatten, sind alle etablierten politischen Parteien bei den Parlamentswahlen am 6. Oktober ebenfalls düpiert worden. In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen überrundete jetzt Kaïs Saïed mit 72,7 Prozent der Stimmen seinen Kontrahenten Nabil Karoui.

Der berühmte Glockenturm in Tunis mit Platz und Springbrunnen

Nach den Wahlen muss Tunesien mit unruhigen Zeiten rechnen. Eine neue Regierung muss gebildet werden und die tunesische Bevölkerung wartet auf Reformen

ziedkammoun; CC0; Pixabay

Nach den Wahlen

Hinzu kommt, dass bei allen Urnengängen eine Wahlbeteiligung von unter 60 Prozent verzeichnet wurde. Bei den Parlamentswahlen lag sie sogar bei lediglich 41,3 Prozent – ein Rückgang von 27 Prozentpunkten gegenüber 2014. Im neunten Jahr nach der Revolution macht die tunesische Bevölkerung alle von ihr gewählten Vertreter für die schlechte wirtschaftliche Situation im Land verantwortlich und reagiert darauf mit immer weniger Interesse am politischen Geschehen. Wer dennoch von seinem Stimmrecht Gebrauch machte, gab aus Protest den Newcomern den Vorrang.

Eingeklemmt zwischen der ersten und zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen hatte die Wahl der neuen Abgeordneten der tunesischen Volksvertreterversammlung von Beginn an einen schweren Stand. So drohte sie, im Getöse um die Inhaftierung und spätere Freilassung des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Karoui unterzugehen, der mit seiner Bewegung Herz Tunesiens (Qalb Tounes) im Rennen um die stärkste Fraktion im Parlament zu den Favoriten zählte. Lange Zeit konzentrierte sich das mediale Interesse auf die Frage, ob Karouis neugegründete Vereinigung auf Anhieb führend im neuen tunesischen Parlament werden würde oder ob sich die islamisch-konservative Ennahda-Partei an der Spitze behaupten könne. In der Wahlnacht und den Tagen danach wurde schnell deutlich, dass sich die Mehrheit des Wahlvolks weder von dem Zweikampf, noch von der enormen Auswahl an Kandidaten und Listen zu einer Beteiligung an der Wahl bewegen ließ. Insbesondere die mit 9 Prozent äußerst niedrige Wahlbeteiligung unter den 18- bis 25-Jährigen verleiht den Parlamentswahlen einen bitteren Beigeschmack und lässt tief in die Seelen der enttäuschten Jugend blicken.

Nach der Verkündung der vorläufigen Endergebnisse stand schnell fest, dass keine Partei, Koalitionsliste oder Bewegung eine Mehrheit erringen wird. Die Zusammensetzung der neuen tunesischen Versammlung der Volksvertreter ist mit 31 verschiedenen Fraktionen – manche bestehend aus einem unabhängigen Abgeordneten – bunter und vielfältiger als jene von 2014. Sie spiegelt damit die gesellschaftliche Diversität der tunesischen Bevölkerung und zeigt, dass ein großer Teil der Bevölkerung eher wertkonservativ orientiert ist, gleichzeitig aber eine liberale und weltoffene Haltung im gesellschaftlichen Umgang pflegt. Ein scheinbares Paradoxon, das eng mit der jüngsten tunesischen Geschichte ab 1956 verbunden ist. So hat es der frühere Präsident und Gründervater Habib Bourguiba immer wieder verstanden, seine Reformen zur Modernisierung des Landes als Ausdruck der Rückbesinnung auf zentrale islamische Werte darzustellen.

Die politische Situation

Mit 52 von insgesamt 217 Sitzen ist Ennahda zwar klar stärkste Kraft vor Qalb Tounes, die auf 38 Sitze kommt, doch angesichts der Vielzahl von Parteien und Listen, die ein Mandat erringen konnten, wird sie sich mit einer Mehrheitsbildung in dem zersplitterten Parlament äußerst schwertun. Großer Verlierer ist die frühere Regierungspartei Nidaa Tounes, die bei den Parlamentswahlen 2014 noch 86 Sitze verbuchen konnte. Nun wurde sie mit nur drei errungenen Mandaten in die politische Bedeutungslosigkeit katapultiert. Hart traf es auch die linke Partei Front Populaire und die liberale Partei Afek Tounes, die bis auf einen, respektive zwei Abgeordnete geschrumpft sind. Davon profitiert haben vor allem unabhängige oftmals regionale Koalitionslisten und neu gegründete Parteien oder Bewegungen, die eher den Namen „Wahlvereinigung“ denn Partei verdienen. Ihre Wahlkampfstrategie bestand darin, sich vom politischen Establishment abzugrenzen und regionale Themen in den Vordergrund ihres Programms zu rücken.  

Die neu gewählten Volksvertreter lassen sich in fünf große politische Lager einteilen:

  • Ein nationalistisch-konservativer Flügel, der hauptsächlich von der freien Destur-Partei repräsentiert wird, die sich als Nachfolgepartei der früheren Partei des Langzeitherrschers Zine El-Abidine Ben Ali versteht (etwa 8 Prozent).
  • Ein islamisch-konservatives Lager, das von der Ennahda-Partei dominiert wird und nun auch weitere islamistische Bewegungen neben sich dulden muss (etwa 35 Prozent).
  • Ein konservativ-liberales Lager, in dem sich etwa Qalb Tunes wiederfindet (etwa 28 Prozent).
  • Ein liberal-progressives Lager, das drei Parteien umfasst (etwa 17 Prozent) und einer Anzahl von unabhängigen Kandidaten und linken Kleinstparteien (12 Prozent).
  • Geschuldet ist die Fragmentierung des Parlaments vor allem dem tunesischen Wahlgesetz, das bisher durch den Zuschnitt der Wahlkreise und die nachträgliche Zuteilung der Mandate pro Wahlkreis gewisse Hürden für den Einzug im Parlament definiert; eine festgelegte Sperrklausel gibt es bisher nicht.

Regierungsbildung

In dieser Gemengelage muss man sich in den kommenden Wochen auf einen Regierungschef und ein Kabinett einigen, die vom Parlament akzeptiert werden. Eine Führungsrolle dürfte dabei der Ennahda-Bewegung als stärkster Fraktion zukommen. Sollte nach insgesamt vier Monaten keine Regierung gebildet werden können, kann der neu gewählte Präsident das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen. Doch dieses Szenario scheint eher unwahrscheinlich zu sein.

Viel wahrscheinlicher ist die Bildung einer Mehrparteien-Koalition unter einem Premierminister aus der stärksten Fraktion. Alternativ halten einige Beobachter eine Regierung der Nationalen Einheit, die alle großen Parteien im Parlament einschließt oder eine unabhängige Expertenregierung unter der Leitung eines überparteilich anerkannten Wirtschaftspolitikers für denkbar. Andere weisen auf die traditionelle Flexibilität der Abgeordneten hin, die häufig Fraktionen wechseln, wodurch sich neue Konstellationen für Mehrheiten ergeben könnten.

In allen Fällen stehen dem neuen Parlament bereits zwei Bewährungsproben bevor, die zeigen werden, ob das Abgeordnetenhaus überhaupt beschlussfähig ist. So wird sich aller Voraussicht nach der Vorsitzende der Ennahda-Bewegung Rached Ghannouchi um das Amt des Parlamentspräsidenten bewerben. Sollte dieser bei der Wahl durchfallen und keine alternative Lösung gefunden werden, wäre das Parlament arbeitsunfähig, bevor es überhaupt mit der Arbeit begonnen hat.

Die zweite Herausforderung liegt in der Verabschiedung eines tragfähigen Budgets für das Jahr 2020. Eine Aufgabe, die angesichts der Wirtschaftskrise im Land und der notorisch leeren Kassen schon unter normalen Umständen Probleme aufwirft.

Sollte sich das Parlament als schwach oder gar handlungsunfähig erweisen, wird ein anderer bislang unbekannter Faktor immer wichtiger: der neugewählte Staatspräsident Kaïs Saïed. Nicht nur im Fall des Scheiterns einer Regierungsbildung hat Saïed das letzte Wort bei Neuwahlen, sondern er könnte auch versucht sein, die geschwächte Position des Parlaments zu nutzen, um in die Tagespolitik einzugreifen und als einzig möglichen Ausweg aus der Krise vorschlagen, den Präsidenten in seiner Exekutivfunktion zu stärken. Obwohl Verfassungsrechtler, hat Saïed bereits im Wahlkampf angekündigt, die Vollmachten des Präsidenten ausschöpfen und über die ursprünglich repräsentative Funktion des Amtes hinausgehen zu wollen. Damit könnte er eine Wende hin zu einem präsidentiellen System einleiten. Über den nötigen Rückhalt beim Volk dürfte er durch seinen hohen Wahlsieg verfügen. Auch die wesentlich höhere Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen deutet auf die Suche der Wählerschaft nach einem starken und integren Mann hin.

Es ist abends auf einer Straße in Tunis. Mehrere Autos, Fahrer schwenken die Flagge von Tunesien

In den Straßen von Tunis feierten Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Kaïs Saïed am Wahlabend den Sieg

Laura Sundermann

Ausrichtung der Projektarbeit

Von den aktuellen politischen Umwälzungen bleibt auch die Entwicklungszusammenarbeit im Land nicht unberührt. Die Wahlen gegen das Establishment in Tunesien haben bisherige Ansprechpartner und Parteien über Nacht weggespült. Sie wurden durch neue unbekannte Akteure ersetzt, die ihren Platz innerhalb des Parlaments noch finden müssen. Diese Konstellation bietet auch die Möglichkeit, bestimmte Parteienfamilien und ideologische Strömungen direkt anzusprechen, da sie nun als einzelne politische Akteure erkenn- und adressierbar sind. Angesichts dieser Situation beabsichtigt die Hanns-Seidel-Stiftung ihre seit 2015 bestehende Zusammenarbeit mit dem Parlament in der kommenden Legislaturperiode auszubauen.

Neben dem kontinuierlichen Aufbau eines wissenschaftlichen Dienstes, steht die Aus- und Fortbildung von Parlamentariern aller Fraktionen zu Fachthemen wie Budgetrecht, aber auch zu allgemeinen Themen wie der Beziehung zwischen Parlament und Zivilgesellschaft im Fokus der Stiftungsarbeit für die kommenden fünf Jahre. Um die kommunikativen Kompetenzen der neu gewählten Mandatsträger zu steigern, wird zudem in der tunesischen Parlamentsakademie ein Kommunikations- und Medienzentrum für die Abgeordneten eingerichtet. Da der repräsentativen Demokratie in Tunesien Parteien fehlen, die nachhaltig Strukturen aufgebaut haben und basisdemokratisch legitimiert sind, wird die HSS ihre Unterstützung auf diesem Gebiet für alle demokratisch gewählten Parteien anbieten. Trotz aller politischen Umwälzungen sind die grundlegenden strukturellen Defizite der tunesischen Politik erhalten geblieben und können nur durch stringente überparteiliche Projektarbeit abgebaut werden. Dies kann mittelfristig der Politikverdrossenheit in Tunesien entgegenwirken, die sicher die größte Herausforderung für die gesamte politische Bildungsarbeit im Land ist.

Autor: HSS-Projektbüro Tunis

Naher Osten, Nordafrika
Claudia Fackler
Leiterin
Tunesien
Uta Staschewski
Projektleiterin