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Libanon
Der Zedernstaat im Zusammenbruch und seine Christen mitten drin

Nicht erst seit der Explosion im Beiruter Hafen herrscht Chaos im Libanon. Demonstranten fordern den Rücktritt der Mitglieder des auf konfessionellen Proporz ausgerichteten politischen Systems, das zu Korruption und Misswirtschaft geführt hat. Es ist nicht auszuschließen, dass alte Grabenkämpfe die libanesische Gesellschaft aufs Neue zerreißen. Die Christen wären dabei so gut wie ohne Schutz.

  • Der religionspolitische Proporz und die Korruption
  • Kirchliches Schulwesen in schwerer Krise
  • Die mahnende Stimme des maronitischen Patriarchen Rai
  • Kirchliche Unterstützung für Massenproteste
  • Politik der Neutralität gegen irantreue Hisbollah
  • Nach der Hafenexplosion neue politische Akteure
  • Die Schweiz des Nahen Ostens darf nicht sterben
  • Ausgang ungewiss

Kann es einen gescheiterten Staat ohne vorherigen Krieg geben? Offenbar schon. Die libanesische Tragödie beweist es. Die Einschätzung, dass der libanesische Staat gescheitert sei (failed state in der Fachbezeichnung) wird von einheimischen Politikern vertreten, von tausenden von Demonstranten und zahlreichen Kommentatoren in den arabischen - vielfach prosaudischen - Medien. Andere sprechen von einem Staat am Abgrund.

Singhammer, links, und Rai, rechts im ernsten Gespräch. Rai blickt mit einer Mischung aus Besorgnis und Misstrauen in die Kamera, Singhammer blick auf ihn.

Der ehemalige Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Johannes Singhammer, CSU, mit Béchara Pierre Kardinal Raï aus dem Libanon auf dem Side-Event der Hanns-Seidel-Stiftung auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2018.

Witte; HSS

Der religionspolitische Proporz und die Korruption

Die Erklärungen ähneln sich auch über Parteigrenzen hinweg stark. Völlig korrupte politische Cliquen, einzig auf Klientelinteressen und maßlose Selbstbereicherung aus, haben das Land zerstört. Das besondere religionspolitische Modell des Staates, das System des sogenannten sectarianism, bedarf kurzer Beschreibung, weil der Begriff nicht direkt übersetzbar ist. Am ehesten kann man von politischem Konfessionalismus sprechen. Er besteht im Wesentlichen aus zwei Aspekten. Zum einen  dem Konfessionalismus, dem Nebeneinander der zahlreichen Religions- und Konfessionsgruppen, die sich gesellschaftlich über ihre Religion definieren und ein ausgeprägtes Eigenleben führen, aber in politischen Fragen zuweilen durchaus zerstritten sind. Sehr wohlhabende und einflussreiche christliche Geschäftsleute fördern demgemäß ihre Kirche finanziell und unterstützen ihre Glaubensgeschwister. Auf der staatlichen Ebene zeigt sich der sectarianism in einem religionspolitischen Proporz. Er wurde zu Beginn der staatlichen Selbständigkeit 1943 für das Parlament festgelegt und gestand den Christen ein Übergewicht zu. Dieses politische Machtteilungssystem begründete einen Kampf um staatliche Ressourcen, die nur der eigenen Klientel zugutekommen und eine verantwortungsvolle gesamtstaatliche Politik erheblich behindern.

Der politische Konfessionalismus wurde inzwischen nachjustiert, so dass 17 Religionsgruppen im Parlament feste Quoten zugeteilt wurden. Überdies muss der Staatspräsident ein maronitischer Christ sein, der Regierungschef ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit.

Die Maroniten stellen mit Abstand die meisten Christen im Libanon. Bei einem christlichen Bevölkerungsanteil von inzwischen wohl nur noch 30 Prozent kann man von etwa 1,5 Mio. Gläubigen ausgehen, wovon rund eine Million der maronitischen Glaubensrichtung anhängen, einer frühen Abspaltung von der syrisch-orthodoxen Kirche, die seit 1445 offiziell mit Rom in einer Kirchenunion verbunden ist.

Die Christen sind damit weiter politisch fest repräsentiert. Das konfessionalistische System ermöglicht eine religionspolitische Machtbalance, blockiert aber die freie Entwicklung einer Zivilgesellschaft über die Religionsgrenzen hinweg. Die religiösen Blocks versorgen ihre eigenen Anhänger mit Posten ohne Rücksicht auf fachliche Eignung und etablieren damit eine für westliche Vorstellungen unglaubliche Korruption.

Ein sehr bedenkliches Eigenleben führt die schiitische Organisation der Hizbollah (gegründet 1983), die sich seit ihrer ersten Regierungsbeteiligung 2008 - erstmals ausgestattet mit dem Recht, mit eigenen bewaffneten Kräften gegen israelische Okkupation kämpfen zu dürfen - zu einem Staat im Staat entwickelt hat. Sie wird immer mehr auch zu einem verlängerten Arm Irans im Libanon.

Eine hemmungslose Schuldenpolitik der Regierung kulminierte im letzten Jahr in der völligen Überschuldung des Landes und führte zum Rückzug bisheriger Financiers auf der Arabischen Halbinsel, zum Währungsverfall, der Sperrung ausländischer Sparguthaben und zu einem starken Preisanstieg, der bis zum Sommer dieses Jahres über die Hälfte der Bevölkerung verarmen ließ und immer mehr Menschen an den Rand des Hungers trieb.

Kirchliches Schulwesen in schwerer Krise

Für die Kirchen, nicht nur die maronitische, hatte die wirtschaftliche Not der Menschen dramatische Rückwirkungen im Bildungssektor. Hunderte von Privatschulen, die besten des Landes und wichtige Stützen des Erziehungssystems, werden kirchlich geführt, auch von zahlreichen Ordensgemeinschaften im Land. Immer mehr Eltern können das Schuldgeld nicht mehr bezahlen und melden ihre Kinder ab. Geld für die Lehrergehälter fehlt. Klassen mussten geschlossen werden. Schulträger befürchteten, dass nach den Sommerferien 2020 bis zu 80 Prozent der Kirchenschulen nicht mehr geöffnet werden könnten.

Die mahnende Stimme des maronitischen Patriarchen Rai

Im politischen Chaos sind die Christen die schwächsten Mitglieder. Die Schiiten leben unter dem Schutz der Hizbollah und anderer Gruppen, die Sunniten haben andere sunnitische Staaten im Rücken, seit Jahren vor allem Saudi-Arabien, aber die Christen besitzen keine tatkräftige Anlehnungsmacht. In Chaoszeiten wählen deshalb besonders sie die Emigration. In Frankreich und in den USA haben sich große libanesische Diasporagemeinden gebildet.

Auch aus diesem Grund hat der maronitische Patriarch Béchara Pierre Kardinal Rai, eine religiös und politisch sehr einflussreiche Persönlichkeit, in den letzten Jahren vielfach seine Stimme erhoben, um den schweren politischen Fehlentwicklungen im Land entgegenzuwirken. Nach den letzten Parlamentswahlen im Mai 2018 hat er die zerstrittenen religionspolitischen Gruppen unermüdlich aufgefordert, endlich eine handlungsfähige Regierung zu bilden und Gruppenegoismus beiseite zu lassen. Dabei ist er als Maronit selber ein Akteur in dem libanesischen Machtteilungssystem, in dem konsequent die Wahrung eigener Interessen und eigener politischen Macht betrieben wird. Das zeigte sich etwa am 6. Juni letzten Jahres. Rai rief die verschiedenen politischen und religionspolitischen Führer des Landes auf, die Grundlagen des Landes, die ausgewogene Machtbalance, nicht zu gefährden. „Dieser politisch-sektiererische Geist greift in die Angelegenheiten der Verwaltung, der Justiz, der Gerichtsentscheidungen, der Armee, der internen Sicherheitskräfte und anderer Sicherheitsbehörden gemäß ihren Interessen ein und untergräbt das Vertrauen in sie“, sagte der Patriarch. Die Regierenden würden „selbst öffentliche Institutionen zerstören und den starken und respektablen Staat, den Rechtsstaat und die Gerechtigkeit untergraben“. Diese Situation dürfe nicht auf Kosten der Menschen weitergehen, „die unter drückenden wirtschaftlichen und sozialen Krisen leiden“. Er kritisierte also nicht das System, das Korruption begünstigt, sondern die gruppenegoistische Handhabung. Aber kann man beides wirklich voneinander trennen?


Am 17. Oktober letzten Jahres begannen die landesweiten Massenproteste im Libanon, unorganisiert bis heute, aber getragen von einer Oppositionsbewegung junger Menschen, von denen sich immer mehr dem Geist des sectarianism widersetzten - also dem Geist des religiösen Gruppenegoismus und des korrupten Klientelsystems im Gefolge der Machtaufteilung - und eine Politik für alle Menschen jenseits des religionspolitischen Proporzes forderen.

Kirchliche Unterstützung für Massenproteste

Am 24. Oktober forderte der maronitische Kirchenführer zusammen mit den anderen obersten christlichen Repräsentanten die Regierung auf, endlich auf die Forderung der Demonstranten, die einen radikalen Politikwechsel verlangten, einzugehen. Gleichzeitig bemühte sich aber Patriarch Rai, die Lage nicht hin zu einem erneuten Bürgerkrieg eskalieren zu lassen, verhandelte mit verschiedenen einflussreichen Politikern und führte tägliche Friedensgebete in der Patriarchalkirche ein, die im Kirchensender landesweit übertragen wurden.

Die Tötung des iranischen Generals Souleimani am 2. Januar 2020 hat zur Verschärfung der iranisch-amerikanischen Spannungen in der Region Naher und Mittlerer Osten geführt. Die maronitische Bischofskonferenz hat deshalb am 8. Januar die führenden Landespolitiker aufgefordert, sich um den nationalen Zusammenhalt zu bemühen und das Land vor den Gefahren neue Konflikte zu schützen, die die gesamte Region bedrohen. Die nach dem Rücktritt der alten Regierung Hariri im Oktober neu gebildete Regierung durch den Sunniten Hassan Diab am 20. Januar 2020 wurde von den oppositionellen Demonstranten als unzureichend abgelehnt, Patriarch Rai wollte ihr aber eine Chance geben. Von den 19 Ministern waren zehn Christen aus vier Kirchengemeinschaften.

Angesichts der Corona-Krise und der schnell voranschreitenden Verarmung der Bevölkerung startete die maronitische Kirche eine umfangreiche humanitäre Nothilfe, die Christen sowie Muslimen zugutekam. Großzügige ausländische Sponsoren stellten nennenswerte Geldmittel zur Verfügung.

Politik der Neutralität gegen irantreue Hisbollah

Der libanesische Staatspräsident Michel Aoun hatte für den 25. Juni 2020 zu einer hochrangigen politischen Konferenz eingeladen, auf der ein Ausweg aus der schweren Krise des Landes gefunden werden sollte. Patriarch Rai hat im Vorfeld der Konferenz erstmals Grundlinien einer eigenen Politik zum Wiederaufbau des Libanon vorgetragen. Er nahm dabei die wachsende Kritik vieler Demonstranten an der Hisbollah, ihrer Irantreue und ihrem überstarken politischen Einfluss im Land auf. Er forderte allgemein Reformen, aber auch, dass die Position des Libanon in der arabischen Welt wiederhergestellt werde, eine Anspielung auf die politische Isolation des Landes durch die starke iranische Einmischung und die Rolle der Hisbollah. Er unterstrich die Einheit und Neutralität des Libanon. Dieser Linie folgte der kirchliche Würdenträger in den folgenden Wochen immer stärker und stellte sich damit in der Sache zunehmend gegen den eigenen, maronitischen Staatspräsidenten, der Staatschef von Hisbollah Gnaden geworden war. In der Sonntagspredigt vom 5. Juli wurde Rai noch deutlicher. Er forderte den Präsidenten auf, endlich die Souveränität des Libanon wiederherzustellen und die außenpolitische Neutralität des Landes international garantieren zu lassen, wieder ein Hieb gegen die Hisbollah. Weiter verlangte er, die Polizei solle ihre Gewaltaktionen gegen die oppositionellen Demonstranten einstellen.

Der maronitische Patriarch ist seit Juli 2020 faktisch selber eine bedeutende Stimme der politischen Opposition geworden, eine sehr gemäßigte zwar, weil die politisch konfessionalistische Grundlage des Staates nicht angetastet werden sollte. Aber an einem umfassenden Politikwechsel weg von der Korruption hin zu einer gesamtstaatlichen Verantwortung aller Politiker ließ er nun keinen Zweifel mehr.

Nach der Hafenexplosion neue politische Akteure

Die gewaltige Hafenexplosion am 4. August 2020, ausgelöst durch die Explosion von etwa 2500 Tonnen Ammonium-Nitrat, hat angesichts der schweren Verwüstungen zu neuen schweren Notlagen der Bevölkerung geführt, aber auch die Straßenproteste weiter verschärft.

Die maronitische Kirche, aber auch die anderen kleineren Kirchen, haben ihre bisherigen humanitären Hilfen verstärkt, wieder unterstützt von ausländischen Sponsoren.

Die neue, erst im Dezember 2019 ins Amt gekommene Regierung von Hassan Diab musste wegen Unfähigkeit zurücktreten. Der französische Staatspräsident Macron nutzte die Gunst der Stunde, um durch starkes persönliches Engagement und bisher zwei Reisen ins Land seine eigene politische Agenda für den umfassenden Wiederaufbau des Libanons vorzustellen, der nun auch den Wiederaufbau der Innenstadt von Beirut einschloss. Vermutlich geht es ihm auch darum, die politische Position Frankreichs im östlichen Mittelmeerraum zu stärken und den iranischen Einfluss zu begrenzen.

Anders als die Demonstranten, die einen kompletten Abgang des alten korrupten politischen Establishments fordern, vertritt Präsident Macron eine realpolitische Linie, die sich - soweit bekannt - auf politische und wirtschaftliche Reformen konzentriert, sowie auf eine starke Überwachung des Bankensektors. Umfassende Aufbauhilfen sollen erst bei der Umsetzung der geforderten Reformen und dem Ende der Korruption fließen. Allerdings will Macron die Hisbollah weiterhin politisch einbinden, wohl um zu verhindern, dass sie ihr großes Störpotential zur Geltung bringt oder gar einen neuen Bürgerkrieg auslöst. Kann dies aber gelingen, wenn man von ihr die Auflösung der sehr engen Allianz mit dem Iran verlangt, wie der maronitische Patriarch in der Sache fordert?

In Fortsetzung seiner bisherigen politischen Positionierung hat Rai am 17. August ein umfassendes Konzept zum Wiederaufbau des Libanon vorgelegt, das im arabischen Raum breite Medienresonanz gefunden hat. Es geht zentral wieder um die Neutralitätspolitik, dieses Mal mit ausführlicher historischer Begründung. Das Land solle sich aus den Steitigkeiten und regionalen Kriegen der Umgebung heraushalten, was wohl auf den Syrienkrieg gemünzt war. Erstmals entfaltete er auch das Selbstbild des Libanon, das bis zum Bürgerkrieg viele gebildete Libanesen fasziniert hat, aber auch viele ausländische Besucher: „Der religiöse und kulturelle Pluralismus, der die wahre Natur der libanesischen Gesellschaft verkörpert, macht den Libanon zu einem Land der Begegnung und des Dialogs zwischen Religionen, Kulturen und Zivilisationen. Angesichts der idealen Lage des Libanon an den Ufern des Mittelmeers ist der Libanon auch eine Brücke zwischen den Kulturen, Volkswirtschaften und Zivilisationen von Ost und West.“ Er sprach damit die frühere Offenheit des Landes hin zum Westen an, aber auch nach Osten hin zur arabischen Welt.

Die Schweiz des Nahen Ostens darf nicht sterben

An diese kulturelle und wirtschaftliche Blüte wollen junge Libanesen, Journalisten und Publizisten anknüpfen, unbeirrt von den aktuellen Katastrophen. Der hundertste Jahrestag der Gründung des großlibanesischen Staates im Jahr 1920, zunächst noch im Rahmen des französischen Mandatsgebiets, hat zu manchen Betrachtungen in diese Richtung angeregt.

Riccardo Christiano beschrieb am 4. September 2020 in seinem Beitrag in der römischen Tageszeitung La Stampa diesen früheren, glücklichen Libanon und nannte ihn eine Botschaft der Brüderlichkeit, die nun von tausend Feinden bedroht werde.

Ausgang ungewiss

Man muss kein Prophet, auch kein Pessimist sein, um am Erfolg des anspruchsvollen politischen Aufbauprojekts von Präsident Macron zu zweifeln. Wie kann das bisherige, völlig diskreditierte politische Führungspersonal des Libanon eine ernsthafte Reformpolitik mit Korruptionsverzicht beginnen? Sie müsste sich selbst abschaffen. Wie soll die starke und desillusionierte Oppositionsbewegung wieder Vertrauen in dieses Establishment gewinnen?

Sehr zweifelhaft ist auch, ob sich die Hizbollah in eine politische Neuordnung, die ihre Entmachtung bringen würde, einbinden ließe. Entwaffnung der Hizbollah - wer mag daran glauben?

Die weitere humanitäre Lageverschärfung im Land könnte den französischen Präsidenten zu immer weiteren Abstrichen an seinen Reformforderungen veranlassen. Eine legale und illegale Massenauswanderung aus dem Land - letztere hat Richtung Zypern bereits begonnen - würden neue Druckmittel schaffen, auch ohne große Reformen neues Geld ins Land fließen zu lassen. Die Christen wären jedenfalls bei den vielen neuen Auswanderern mit dabei. Ihre Existenz im Zedernstaat ist ungewisser denn je.

Autor: Gerhard Arnold, Gerhard Arnold, ev. Theologe und wissenschaftlich-zeitgeschichtlicher Publizist mit Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten.