Print logo

Blick aus der Ukraine auf Belarus
Belomaidan

Autor: Benjamin Bobbe

Das Rathaus in Kiew schmückt eine in der Ukraine bislang selten gesehene Flagge - die weiß-rot-weiße Fahne der belarusischen nationalen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts und seit dem 9. August 2020 das Symbol der belarusischen Protestbewegung. Damit drückt Kiew seine Sympathie und Unterstützung gegenüber den Vorgängen im Nachbarland aus.

Die Ukrainer unterstützen mit zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen die Demonstranten in Minsk (1).  In der Ukraine werden Erinnerungen an die eigene Vergangenheit - allen voran an den Euromaidan 2013/2014 und die Orange Revolution 2004 - wachgerufen.

Die ukrainischen Medien fanden schnell das passende Schlagwort für die Vorgänge in Minsk: "Belomaidan", eine Wortschöpfung aus dem Euromaidan der Ukraine und dem Landesnamen Belarus.

Inwieweit sind die Vorgänge in Belarus aber tatsächlich mit denen in der Ukraine zu vergleichen? Wie ist die Wahrnehmung der ukrainischen Politik und Gesellschaft hierzu?

Wahrnehmung von Belarus durch die Ukraine

In der ukrainischen Wahrnehmung ist die postsowjetische Entwicklung von Belarus geprägt durch die Person von Aleksandr Lukaschenka (so die belarusische Schreibweise), dem nachgesagt wurde, ein strenges, aber effizientes Regime zu führen. Ruhe, Ordnung und ein Wirtschaftswachstum, das auch der Bevölkerung – in Bezug auf Arbeitsplätze, Investitionen in die Infrastruktur, das Gesundheitssystem und soziale Dienstleistungen - zugute kam, waren aus ukrainischer Perspektive durchaus positiv zu bewerten. Lukaschenka, so das ukrainische Narrativ, habe es deutlich besser als die Ukrainer verstanden, sich wirtschaftlich und politisch zwischen Europa und der russischen Föderation zu positionieren und so das Beste aus zwei Welten für die postsowjetische Entwicklung seines kleinen Landes herauszuholen.

Diese Sichtweise hat sich aber seit dem Euromaidan 2013/2014 merklich verändert - sowohl aufgrund einer geänderten ukrainischen Perspektive auf das Nachbarland, als auch durch Veränderungen in Belarus selbst.

Der Euromaidan und der daraus resultierende Krieg im Osten der Ukraine und die Annexion der Krim durch die Russische Föderation (RF) machten deutlich, dass die RF ihre hegemonialen Ansprüche in den ehemaligen Teilrepubliken noch längst nicht aufgegeben hat. Die Ukraine hat bis heute unter diesen Vorgängen zu leiden. 

Dabei ist die Ausgangsposition von Belarus hierbei noch schwieriger, als es diejenige der Ukraine war:

  • Belarus ist ein Bündnisstaat der RF. Die vertraglich vereinbarte "Russisch -Belarusische Union" geht dabei in ihrer Zielsetzung weit über die bisher bestehende Zoll- und Verteidigungsgemeinschaft hinaus und verfolgt u.a. das Ziel einer gemeinsamen Währung und gemeinsamer Außenpolitik.
  • Die russischen Streitkräfte sind in mindestens zwei sog. "Territorialkommandos", einer Radarstation und einer Marine-Abhöreinrichtung, noch unmittelbar in Belarus präsent. 

Der letzte Rest tatsächlicher oder oktroyierter Sympathie für die gemeinsame sowjetische Vergangenheit hat sich in der Ukraine in das Gegenteil verkehrt. Selbst der "Tag des Sieges" zum Ende des Zweiten Weltkriegs wird in der Ukraine inzwischen zwiespältig gesehen - war das die Befreiung von den deutschen Wehrmachtstruppen oder der Anfang der sowjetischen Besetzung der Ukraine? Dabei ist auch die unterschwellige Sympathie für den in der Ukraine halb spöttisch, halb zärtlich Бацка "Väterchen" genannten Lukaschenka abhandengekommen, der inzwischen selbst dafür verantwortlich gemacht wird, dass er zu lange zu eng mit dem Kreml verbunden gewesen sei.

Präsident Lukaschenka befindet sich nun mit einer Amtszeit von 26 Jahren in einer misslichen Lage:

  • Durch seinen zunehmend auf Distanz gerichteten Kurs gegenüber der Russischen Föderation wird er Zielscheibe hybrider Angriffe und Destabilisierungsmaßnahmen der Russischen Föderation, welche die Ukraine schon ausreichend kennt. Dabei ist es schwierig, Umfang und Tiefe dieser Intervention zu beurteilen: Ist der Kreml tatsächlich bereit, Lukaschenka fallen zu lassen oder wollte man ihm klarmachen, dass er nur solange Präsident ist, wie er den russischen Interessen dient?
  • Wie in der Ukraine, so entwickelt sich in Belarus eine zunehmend aktive Zivilgesellschaft, der die kleinen Schritte der Regierung zu demokratischer und gesellschaftlicher Öffnung bisher zu gering waren. Die Regierung ist nicht in der Lage, hier eigene Versäumnisse zu erkennen und diffamiert Aktivisten, sie seien aus dem Westen fehlgeleitet. Dass sich die Proteste eher zufällig um die Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja konzentrierten, zeigt dabei, dass die Konsolidierung der belarusischen Opposition bislang noch schwach ist. Außer der gemeinsamen Ablehnung der Person Lukaschenkas vereint Oberschüler, Arbeiter und zivilgesellschaftliche Aktivisten inhaltlich und programmatisch nur wenig.  

Die aktuelle Situation in Belarus vereint drei vergleichbare historische Momente der Ukraine in einem:

  • Die Orange Revolution von 2004, bei der die Ergebnisse der Präsidentenwahl durch die Demonstranten nicht anerkannt wurden und eine erneute Stichwahl stattfand, die der zuvor nach offiziellen Angaben unterlegene Viktor Juschtschenko für sich entschied.  
  • Den Euromaidan 2013/14 , der mit seinen massiven Protesten zum Rücktritt der Regierung führte.
  • Die Präsidentschaftswahl 2019, bei der nach allgemeiner Einschätzung weniger Inhalte eine Rolle spielten, als der dringende Wunsch, eine personelle Veränderung im höchsten Staatsamt zu erreichen. In der Ukraine gelang dies durch demokratische und freie Wahlen.
Das Rathaus in Kiew mit der weiß-rot-weißen Fahne der belarusischen nationalen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts als Zeichen der Sympathie mit dem Nachbarland Belarus

Das Rathaus in Kiew mit der weiß-rot-weißen Fahne der belarusischen nationalen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts als Zeichen der Sympathie mit dem Nachbarland Belarus

Daniel Seiberling/HSS

Reaktion der Ukraine

Die ersten, spontanen Reaktionen in der Ukraine fanden bereits am Nachmittag des 9. August statt, nachdem die offiziellen Hochrechnungen einen überwältigenden Sieg Lukaschenkas meldeten. Auslöser waren dabei auch Angaben der ukrainischen NGO "ExitPol", die am 9. August bekannt gab, bei einer Befragung vor dem Wahlbüro in Kiew hätten 72,6 Prozent der Befragten angegeben, für Swjatlana Tichanowskaja gestimmt zu haben. Lukaschenka habe nur 9,76 Prozent der Stimmen erhalten (2). Aber nicht nur das Ergebnis der Wahl, auch der Umgang mit Oppositionspolitikern und der Einsatz der Sicherheitskräfte wurde von den Demonstranten thematisiert.  

Mehrere ukrainische Politiker, die noch am Abend des 9. August Lukaschenka zu seinem Erfolg bei den Wahlen gratuliert hatten, wurden dafür kritisiert und löschten ihre Beiträge in den Sozialen Medien.

Präsident Selenskij meldete sich am Morgen des 10. August mit mahnenden Worten - die Situation in Belarus sei derzeit vor allem durch das fehlende gegenseitige Vertrauen geprägt, dabei sollten beide Seiten ein Interesse an einem Dialog zeigen, der helfe, einen Weg aus der Krise zu finden. Ähnliches forderten die Außenminister der Ukraine, Polens und Litauen in einem gemeinsamen Schreiben.

Das Ukrainische Außenministerium rief am 17. August den ukrainischen Botschafter in Minsk zu Konsultationen in die Ukraine zurück. In diplomatischen Kreisen wird dies als starkes Signal dafür verstanden, dass die ukrainische Regierung das Vorgehen Lukaschenkas nicht gutheißt. In einem Interview am 23. August sagte Präsident Selenskij, dass er Neuwahlen ausrufen würde, wenn er an Lukaschenkas Stelle wäre.  

Bis heute ist nicht klar, wie es in Belarus weitergehen wird. Die Proteste werden durch die Zivilgesellschaft weitergeführt. Ein sogenannter "Koordinierungsrat der Zivilgesellschaft" bietet Präsident Lukaschenka Gespräche über Reformen an, die dieser aber bislang ablehnt.

In einer spektakulären Aktion sollte eine Symbolfigur des demokratischen Widerstands in Belarus, Maria Kolesnikowa, in der Nacht vom 7. auf den 8. September durch Geheimdienstmitarbeiter in die Ukraine abgeschoben werden, was aber misslang.  

Ob Sanktionen der Europäischen Union gegen belarusische Politiker oder Wirtschaftsgrößen der Demokratiebewegung nützen würden, ist derzeit umstritten - selbst Kolesnikowa befürchtet, durch Sanktionen Möglichkeiten für einen Dialog zu verlieren und Lukaschenka damit eher noch stärker in eine autoritäre Isolierung zu treiben (3).

(1) Die Ende Januar 2020 gegründete deutsch-belarusische Geschichtskommissionempfiehlt, als Landesname Belarus mit Betonung auf -rus und als Adjektiv belarusisch (statt belarussisch) in deutschsprachigen Texten zu verwenden; damit werde deutlich, dass es sich bei der Republik Belarus um einen souveränen Staat handelt, der nicht Teil Russlands ist.  https://geschichte-historyja.org/site/assets/files/1/200715_pressemitteilung_geschichtskommission_by_de.pdf

(2) https://strana.ua/news/283357-vybory-v-belarusi-na-kievskom-uchastke-tikhanovskaja-nabrala-73.html

(3) https://www.welt.de/politik/ausland/article214802200/Sanktionen-Europas-ewige-Weissrussland-Illusion.html

Unsere Publikationen zum Thema: Ukraine

Mitteleuropa, Osteuropa, Russland
N.N.
Leitung
Ukraine
Benjamin Bobbe
Projektleitung
E-Mail: