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Kontroverse um Ukraine-Positionspapier
Großer Wurf oder Sackgasse?

Bereits seit sechs Jahren herrscht Krieg im Osten der Ukraine - so lange wie der Zweite Weltkrieg gedauert hat. Viele Versuche wurden unternommen, um den Konflikt zu beenden. Jetzt wird ein Konzept kontrovers diskutiert, das in 12 Schritten neue Bewegung in den festgefahrenen Prozess bringen will.

Während der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 wurde das Konzept der "12 Schritte" vorgestellt, das für große Aufregung sorgte

Während der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 wurde das Konzept der "12 Schritte" vorgestellt, das für große Aufregung sorgte

© Daniel Seiberling

Bereits seit sechs Jahren herrscht Krieg im Osten der Ukraine - so lange wie der Zweite Weltkrieg gedauert hat. Im September 2020 wird im Osten der Ukraine und auf der Krim eine ganze Generation eingeschult, die ihre Kindheit in den kriegszerrütteten sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk durchlebt hat. In diesen sechs Jahren gab es zahlreiche Vorschläge und Konzepte, wie das Töten beendet und die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen des Konfliktes behoben werden könnten. Keine dieser Initiativen hat bisher zum Erfolg geführt. Nach über 13.000 Gefallenen scheint eine militärische Lösung in ebenso weiter Ferne, wie eine politische. In dieser Situation hat sich eine Gruppe von Experten während der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2020 mit einem 12 Schritte Plan zu Wort gemeldet, der neue Impulse zur Konfliktlösung bringen soll. Die Reaktionen auf diesen Plan fallen aber sehr unterschiedlich aus.          

Von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, sorgte das Konzept - 12 Schritte zu größerer Sicherheit in der Ukraine und der Euro-Atlantischen Region - für große Aufregung in der Ukraine und der internationalen Gemeinschaft der Ukraine-Experten. Es handelt sich um ein dreiseitiges komplexes Dokument, das nur bedingt selbsterklärend ist.

In diesem Beitrag wird daher

  • der Inhalt des Positionspapieres wiedergegeben,
  • auf die Unterzeichner und Herausgeber des Positionspapieres eingegangen,
  • die Perzeption und Reaktion auf das Positionspapier beleuchtet
  • der Versuch einer Bewertung und Einordnung vorgenommen.

Inhalt

Am 14. Februar 2020 lag in den Konferenzräumen der Münchner Sicherheitskonferenz „MSC“ ein von der "Euro-Atlantic Security Leadership Group" (EASLG) verfasstes Positionspapier “Twelve Steps Toward Greater Security in Ukraine and the Euro-Atlantic Region” aus (1).

Das Positionspapier ist in vier Themenbereiche gegliedert: Sicherheit, Humanitäres, Wirtschaft und Politik. Der zweimal wiederholte Appell der Autoren lautet:

" Eine politische Lösung ist von grundlegender Bedeutung, um den bewaffneten Konflikt in der Donbas-Region zu beenden, die Aussichten für einen konstruktiven Dialog zwischen der Ukraine und Russland im weiteren Sinne einschließlich der Krim zu verbessern und die Euro-Atlantische Sicherheit zu steigern" (2).

In der Einleitung nehmen die Autoren Bezug auf die aktuelle Lage in der Ukraine und schlagen unter Verweis auf den Krieg im Osten des Landes 12 Schritte vor, mit denen die drängendsten sicherheitsrelevanten, humanitären, wirtschaftlichen und politischen Probleme angegangen werden könnten.

Ein "Window of Opportunity" für die Initiative sehen die Autoren darin, dass die Entwicklungen Ende 2019 - der Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation (RF), die Vereinbarungen über Wahlen in den Gebieten Donezk und Lugansk und das Gipfeltreffen im Normandie-Format des neuen Präsidenten der Ukraine, Wolodimir Selenskij, mit Wladimir Putin - den Weg für weitere Fortschritte geebnet hätten.

Die 12 Schritte

Übersetzung aus dem Englischen (3).

Im März 2014 wurde auf Ersuchen der ukrainischen Regierung durch eine Konsensentscheidung aller 57 teilnehmenden OSZE-Staaten (OSZE-Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), die OSZE Special Monitoring Mission (SMM) in der Ukraine eingesetzt, um Frieden, Sicherheit und Stabilität. zu fördern. Im September 2014 begann die SMM die Umsetzung der Minsker Abkommen zu unterstützen. Im selben Monat wurde das Gemeinsame Zentrum für Kontrolle und Koordinierung (JCCC) von der Ukraine und der Russischen Föderation gegründet, um sich auf einen Waffenstillstand zu konzentrieren und die Stabilisierung der Kontaktlinie sowie die Umsetzung der Minsker Abkommen zu erreichen. Am 18. Dezember 2017 kündigte die RF an, dass die russischen Vertreter des JCCC die Ukraine am nächsten Tag verlassen würden.

Die Wiedereinsetzung des JCCC würde (1) zusätzliche Kapazitäten zur Umsetzung des Minsker Abkommen bereitstellen; (2) Unterstützung in der Gewährleistung einer raschen Reaktion auf Verstöße gegen die Vereinbarungen bieten, einschließlich der Reaktion auf Behinderungen der SMM Monitoring- und Überprüfungsmission; und (3) Unterstützung für die Wiederherstellung von kritischer Infrastruktur und Minenräumung liefern.

Die Staatschefs der Länder im Normandie-Format (Frankreich, Deutschland, Russland und die Ukraine - die N4) sollten die Einrichtung eines N4 – Militär-zu-Militär-Krisenmanagement-Dialoges anstrengen, der unter anderem als Mechanismus für den regelmäßigen Austausch in Bezug auf die Implementierung von Minsk und als Follow-up und Abhilfemechanismus für Verstöße gegen Minsk, die von der SMM gemeldet wurden, eingesetzt wird. Darüber hinaus könnte ein neuer N4-Dialog das JCCC unterstützen und könnte separat oder parallel zu den Bemühungen, den Krisenmanagementdialog auf Expertenebene - beides bilateral und multilateral - zu verstärken, innerhalb des NATO-Russland-Rates oder als separate Arbeitsgruppe agieren.

Obwohl sich die Sicherheitslage in der Ostukraine verbessert hat, besteht weiterhin die Notwendigkeit, die Bewegungsfreiheit für alle Zivilisten, einschließlich der SMM, zu verbessern. Dieser Ansatz verlangt mehr und sicherere Checkpoints für die Ein- und Ausreise, um Vertrauen aufzubauen und um eine effektive Überwachung zu ermöglichen.

Alle Parteien sollten auf dieses Ziel zur Verbesserung der Sicherheitslage hinarbeiten und einen irreversiblen Waffenstillstand unterstützen, der im Einklang mit dem Minsker Abkommen und den Schlussfolgerungen des Pariser N4 Gipfel zur Unterstützung der SMM und ihrem uneingeschränkten, gefahrlosen und sicheren Zugang in der gesamten Ukraine zur vollen Umsetzung ihres Mandats steht. Die Zugangsverweigerung und die Behinderung der Nachtpatrouillen sollte enden.

Seit 2014 sind Hunderte von Menschen durch Flucht, Kämpfe, Repressalien und Entführungen verschwunden. Das Auffinden vermisster Personen ist entscheidend für eine langfristige Lösung des Konflikts, zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und der Sicherung der Rechte überlebender Familien. Landminen und explosive Kriegsreste bedrohen weiterhin die Zivilbevölkerung, beschränken die Bewegungsfreiheit und den Zugang zu Infrastruktur und Arbeitsplätzen. Die Unterstützung für Regierungseinrichtungen und internationale Organisationen, die daran arbeiten, gefährliche Gebiete zu erfassen und zu markieren und Minen in der Pufferzone und der Konfliktlinie zu entfernen - vor allem in "Entflechtungsgebieten " und an Ein/Ausreisepunkten - ist entscheidend für die Reduzierung der Verluste (durch tödliche Unfälle, Anm. d. Ü.). Diese Unterstützung kann auch den militärischen Dialog innerhalb des JCCC fördern, die Vertrauensbildung anregen und eine wirtschaftliche Revitalisierung ermöglichen.

Die Aufklärung von Fällen vermisster Personen erfordert die Kooperation aller relevanten Interessengruppen, einschließlich Menschenrechtsorganisationen und Familiengruppen, bei der Suche und Identifizierung der Vermissten im ganzen Land. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die Internationale Kommission für vermisste Personen könnten die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden, zivilgesellschaftlichen Gruppen und Interessengruppen erleichtern. Dieser Prozess wäre im Einklang mit dem Pariser N4-Gipfel und würde den uneingeschränkten und vorbehaltlosen Zugang internationaler Organisationen, einschließlich des IKRK, zu allen inhaftierten Personen unterstützen.

Es ist wichtig, dass allen Kindern und Erwachsenen in der Ostukraine sofort beigebracht wird, das Risiko, das von Landminen und explosiven Überresten des Krieges ausgeht, zu verstehen und diese Risiken zu vermeiden oder minimieren. Zwischenzeitlich könnten ukrainische Behörden und die internationale Gemeinschaft ein besonderes Programm „Donbas-Minenräumung“ initiieren. Eine umfassende Umfrage über Art und Umfang des Problems würde die Wirksamkeit dieser Bemühungen verstärken. Solche humanitäre Minenräuminitiativen stünden im Einklang mit den und würden logischerweise auf den vereinbarten Schlussfolgerungen des Pariser N4-Gipfels aufbauen, welche die Entwicklung und Implementierung eines aktualisierten Minenräumungsplan für die Ukraine vorsehen. Die Arbeit der Regierung und Nichtregierungsorganisationen, die an der Minenräumung beteiligt sind, würde durch die Erlaubnis, bei diesen Bemühungen Sprengstoff zu verwenden, erleichtert werden.

Der bewaffnete Konflikt hat auf beiden Seiten der Kontaktlinie zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch geführt. Armut und Unterentwicklung haben in der Ostukraine Fuß gefasst und fordern einen hohen Tribut, insbesondere unter den Rentnern.

Aufbauend auf dem Investitionsforum vom Oktober 2019 in Mariupol sollte das Treffen des Delphi Economic Forum im März 2020 mit Unterstützung der Europäischen Union (EU) einen geeigneten internationalen Rahmen für den Wiederaufbau des Donbas entwerfen sowie eine assoziierte internationale Geberkonferenz initiieren, an der auch die RF beteiligt sein könnte. Ein solcher Rahmen und eine solche Initiative könnten entscheidende Unterstützung beim Wiederaufbau kritischer Infrastrukturen, bei Gesundheit und Bildung mobilisieren. Ein wesentlicher erster Schritt ist die Durchführung einer fundierten Bedarfsermittlung für die Donbas-Region als Grundlage einer Strategie für die sozioökonomische Erholung.

Freihandelszonen wurden genutzt, um kriegsgeschädigte Regionen wiederzubeleben. Relevante Stakeholder sollten auf Expertenebene Maßnahmen zur Schaffung einer Freihandelszone in der Ukraine mit der EU (im Rahmen des "Vertieften und Umfassenden Freihandelsabkommen DCFTA) und der RF sowie gezielte Maßnahmen zur Unterstützung des Exports untersuchen.

Ein Prozess muss identifiziert werden, um besser definieren zu können wie spezifische Maßnahmen zur Umsetzung des Minsker Abkommens zu entsprechenden Änderungen der Sanktionen führen könnten. Track II Initiativen in diesem Bereich könnten ein geeigneter Ausgangspunkt sein.

Rund 1.200 radioaktive Quellen, ursprünglich für medizinische, industrielle oder wissenschaftliche Zwecke verwendet, befinden sich an Standorten in und um die Region Donezk. Einige haben das Ende ihrer Nutzungsdauer erreicht und stellen nun einzigartige Risiken für Gesundheit, Sicherheit und Umwelt dar. Ökologische Herausforderungen wie diese wurden in der Wirtschaftsarbeitsgruppe der Trilateralen Kontaktgruppe behandelt. Die Beseitigung radiologischer Gefahren in der Donbas-Region würde wichtige wirtschaftliche (sowie humanitäre, sicherheitstechnische und ökologische) Vorteile bringen und wäre ein wertvoller Schritt zur Vertrauensbildung.

In Zusammenarbeit mit der OSZE, der Trilateralen Kontaktgruppe und den Ländern im Normandie-Format sollten relevante Stakeholder-Maßnahmen zur Sicherung und zum sicheren Transport nicht mehr genutzter radioaktiver Quellen mit hoher Aktivität (Cäsium, Strontium, etc.) aus der Donbas Region vereinbaren.

Die Staaten der Euro-Atlantischen Region müssen noch einen Sicherheitsansatz definieren, ihm zustimmen und implementieren, der Frieden gewährleisten kann, Unabhängigkeit sowie die Freiheit von Angst und von Gewalt für alle garantiert. Im Kontext ihrer fünf „Leitprinzipien“ über die Beziehungen zur RF hat die EU sich 2016 zum „selektiven Engagement“ verpflichtet, aber eine positive Agenda für dieses Engagement ist bislang nur schwer zu erkennen. Innerhalb der Ukraine und zwischen Ukrainern und ihren Nachbarn beeinflussen soziale Veränderungen die Politik des historischen Gedächtnisses und der nationalen Identität und werfen schwierige Fragen für Regierungen in Bezug auf Staatsbürgerschaft und Sprachenrechte auf - mit realen Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Sicherheit.

Dieser neue Dialog muss von politischen Leitern beauftragt werden und muss zentrale Sicherheitsprobleme durch einen dynamischen Prozess angehen, der sich direkt mit Schlüsselbereichen befasst. Ein solcher Dialog könnte dazu beitragen, die Zusammenarbeit und das gegenseitige Verständnis zu vertiefen und könnte zukünftige Konflikte verhindern. Die EASLG kann eine Grundlage für diese Arbeit bieten, welche die Planungs- und Strategieabteilungen der Außenministerien aus der Region zusammenbringen sollte.

Die EU und die RF sollten im Jahr 2020 dem „selektiven Engagement“ Priorität einräumen, einschließlich durch Unterstützung der Umsetzung der Minsker Abkommen. Sie sollten auch Schritte unternehmen in Bereichen, in denen ein starkes gemeinsames Interesse besteht (z. B. Wissenschaft und Forschung, grenzüberschreitende und regionale Zusammenarbeit und Zusammenarbeit im Bereich Klimawandel und Umwelt). So könnten sie erkennen, dass Fortschritt sich gegenseitig verstärken kann. Bestehende menschliche und wirtschaftliche Bindungen sollten weiterentwickelt werden.

Ein neuer, integrativer nationaler Dialog ist ukraineweit wünschenswert und könnte so schnell wie möglich gestartet werden. Dieser Dialog sollte Meinungsbildner, Wissenschaftler und international anerkannte Experten einschließen. Anstrengungen sollten unternommen werden, sich mit der Perspektive der ukrainischen Nachbarn, vor allem Polen, Ungarn und der RF auseinanderzusetzen. Dieser Dialog sollte Themen der Geschichte und des nationalen Gedächtnisses, Sprache, Identität und Minderheitenerfahrungen ansprechen.

Er sollte Toleranz und Respekt vor ethnischen und religiösen Minderheiten enthalten, sowohl im nationalen und internationalen Kontext, um Engagement, Integration/Inklusivität und sozialen Zusammenhalt zu stärken.

Unterzeichner und Herausgeber

Herausgeber des Positionspapieres ist die "Euro Atlantische Sicherheits-Führungsgruppe" (Euro-Atlantic Security Leadership Group, EASLG) (4). Diese Gruppe versteht sich als unabhängige und informelle Initiative, deren Auftrag es ist, Ideen und Vorschläge in Feldern gemeinsamer europäischer und europäisch-atlantischer Sicherheitsbelange zu erarbeiten. Sie setzt sich aus hochrangigen aktiven und ehemaligen Experten aus 15 Ländern zusammen. Die Arbeit der EASLG wird wiederum von vier führenden Think-tanks unterstützt - dem European Leadership Network (ELN) (5) der Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference MSC (6), dem russischen Rat für Internationale Angelegenheiten (Russian International Affairs Council (RIAC) (7) und der Initiative nukleare Bedrohung (Nuclear Threat Initiative (NTI) (8). 

Dementsprechend hochrangig ist die Liste der Unterzeichner und Teilnehmer des Statements: 45 hochrangige europäische und nordamerikanische Sicherheitsexperten, darunter drei ehemalige Außenminister, drei frühere Verteidigungsminister, zwei ehemalige Stabschefs, ein ehemaliger Geheimdienstleiter und ein ehemaliger US-Senator.  

Diese detaillierte Darstellung ist wichtig, um den kombinierten Sachverstand zu bewerten, der in sechs Monaten in die Ausarbeitung des Positionspapieres geflossen ist und dem man mit Pauschalbewertungen nicht gerecht wird. 

Länger als sechs Jahre dauert der Konflikt im Osten der Ukraine. Es gab bereits etliche Ansätze das Leid zu beenden und einen Friedensprozess zu beginnen

Länger als sechs Jahre dauert der Konflikt im Osten der Ukraine. Es gab bereits etliche Ansätze das Leid zu beenden und einen Friedensprozess zu beginnen

© Daniel Seiberling

Rezeption und Reaktionen

Noch am Tag der Veröffentlichung der 12 Schritte veröffentlichte der Atlantic Council, ein US-Think Tank mit Sitz in Washington (9) unter der Überschrift "Der fehlerbehaftete Friedensplan für die Ukraine hält einer Überprüfung nicht stand" (10) eine Reaktion auf das Positionspapier, in dem 29 frühere US-Diplomaten, Regierungsvertreter und Experten die Thesen des Positionspapiers kommentieren und Gegenpositionen beziehen. Insbesondere glauben die US-Experten den deutlichen Einfluss des Kreml zu erkennen: "Über Jahre hat der Kreml versucht, den Dialog über die Ukraine zu verändern, und sie suchen hierzu offensichtlich einen neuen Zugang in München". Das ganze Positionspapier, so die Autoren, sei darauf ausgerichtet, die angesprochenen Probleme in möglichst Kreml-freundlicher Art zu lösen. 

Diese, wie zahlreiche weitere Kritiken, nehmen besonders Anstoß an der Formulierung in der Präambel des Positionspapieres: "Der Konflikt in der und um die Ukraine herum" (the conflict in and around Ukraine). Diese bringe die russische Aggression als alleinigen Auslöser des Krieges und der Okkupation der Krim nicht deutlich genug zum Ausdruck. Im Positionspapier wird an anderer Stelle allerdings ausdrücklich von einem "Krieg, der in den vergangenen Jahren über 13.000 Opfer gefordert hat, mehr als 25.000 Verletzte und über 2,5 Mio Binnenflüchtlinge" gesprochen.     

Am 15. Februar ging Präsident Selenskij im Rahmen des "Townhall on Ukraine Meeting" auf der MSC kurz auf das Positionspapier ein. Er sei irritiert darüber, dass solche Initiativen ohne Beteiligung der ukrainischen Regierung zu Stande kämen, begrüße den Versuch aber, jenseits der bestehenden Plattformen neue Lösungsansätze zu diskutieren. Ein grober Fehler des Positionspapieres sei dabei, dass die Krim in keinem der 12 Schritte erwähnt werde (11). 

Auch das ukrainische Außenministerium reagierte umgehend und gab bekannt, dass das Positionspapier nicht mit der offiziellen Position der Ukraine korrespondiere und die ukrainische Regierung das Papier nicht als offizielles Dokument der Münchner Sicherheitskonferenz auffasse.

Damit war die Diskussion in München zunächst beendet. In der Ukraine dagegen entflammte eine lebhafte Auseinandersetzung in der Expertengemeinschaft. Hierbei stand größtenteils nicht der konkrete Inhalt der einzelnen Punkte des Positionspapieres im Vordergrund, sondern die vermeintlich pro-russische Ausrichtung des Ganzen.

Über die Hälfte der Unterzeichner des Positionspapieres fanden sich am Ende der Woche auf der Website der umstrittenen Organisation "Mirotworets" (Peacemaker)“ wieder, welche persönliche Daten der von ihnen benannten „Feinde des ukrainischen Volkes“ veröffentlicht, allen voran Wolfgang Ischinger, des Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz. Ihm werden folgende „Vergehen“ vorgeworfen (12):

  • Angriff auf die Souveränität und territoriale Einheit der Ukraine.
  • Teilnahme an propagandistischen Maßnahmen Russlands (des Aggressorstaates) gegen die Ukraine.
  • Manipulation öffentlich bedeutungsvoller Informationen.
  • Co-Autor des Münchner Planes zur Kapitulation und Teilung der Ukraine "12 Schritte zu größerer Sicherheit in der Ukraine und der Euro-Atlantischen Region"

Am 17. Februar sah sich der Atlantic Council veranlasst, in einer weiteren Meldung einen professionellen Umgang mit den Autoren und Unterzeichnern der „12 Schritte“ anzumahnen. Obwohl der Atlantic Council nach wie vor alternative Lösungen zu den „12 Schritten“ bevorzuge, sei die negative Reaktion auf die Signatare und insbesondere die Publikation persönlicher Informationen auf "Mirotworets" einer demokratischen Debatte nicht würdig (13).

Fast zeitgleich, am 18. Februar veröffentlichten sieben Alumni des „Munich Young Leader“ Programmes der Körber-Stiftung, die inzwischen einflussreiche Meinungsbildner in der Ukraine sind, eine Stellungnahme zu den „12 Schritten“ unter dem Titel „Beschwichtigung bringt keinen Frieden für die Ukraine" (Appeasement will not bring peace to Ukraine) (14), in der auf die Entstehung und die Inhalte der „12 Schritte“ eingegangen wird. Auch hier wird aber eine über den Text hinausgehende Deutungshoheit in Anspruch genommen. Mehrfach heißt es etwa: "Indirekt bedeutet dies aber...", oder "die unausgesprochene Bedeutung hier ist.." und "die Vorstellung, dass die Ukraine..."

Auch nach der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz wird das Positionspapier „12 Schritte zu größerer Sicherheit in der Ukraine und der Euro-Atlantischen Region“ heftig und kontrovers diskutiert

Auch nach der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz wird das Positionspapier „12 Schritte zu größerer Sicherheit in der Ukraine und der Euro-Atlantischen Region“ heftig und kontrovers diskutiert

© Daniel Seiberling

Bewertung

Diese Lesart greift aber aus zweifacher Hinsicht zu kurz. Einmal aufgrund der persönlichen und fachlichen Expertise der Personen, die an dem Papier mitgearbeitet und es unterzeichnet haben (vgl. oben Unterzeichner und Herausgeber). Hier wird auch übersehen, dass dieses Papier von mehreren russischen Experten unterschrieben wurde - ein Novum der jüngsten ukrainischen Geschichte und ein Beleg des hervorragenden Netzwerkes der beteiligten Organisationen, aber kein Beleg für "die unsichtbare Hand des Kreml", die hinter der ganzen Initiative verborgen sei. 

Zum anderen aufgrund der Inhalte, von denen selbst Kritiker wie der Atlantic Council sagen: "Die meisten der 12 Schritte sind, wenn sie von allen Beteiligten erfüllt würden, konstruktiv und könnten sowohl als vertrauensbildende Maßnahmen wirken als auch die Schwierigkeiten und Leiden der Bevölkerung im und in der Nähe des okkupierten Donbas lindern (15)."      

Über die anderen Punkte - die als "problematisch" oder als "Kreml-Positionen“ gelten, müsste nun in der Ukraine und der internationalen Expertengemeinschaft ein offener und fachlicher Expertendialog geführt werden. Dass dies, zumindest in der Ukraine, nicht stattfindet, hat zwei wesentliche Gründe:

1) Eine generell fehlende Streit- und Dialogkultur in der Ukraine, selbst in Expertenkreisen.

Der Umgang mit dem Positionspapier und insbesondere mit den ukrainischen Unterzeichnern ist symptomatisch für die fehlende Tradition einer konstruktiven gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Anstelle einer faktenbasierten, hart geführten, aber auf Inhalte bezogenen kritischen Auseinandersetzung mit divergierenden Ansichten wird dem fachlichen/weltanschaulichen Gegner typischerweise

  • zunächst die mangelnde Intellektuelle Fähigkeit unterstellt, die Tragweite der vorgeschlagenen Thesen zu erkennen,
  • danach die moralische Integrität, insbesondere hinsichtlich nationaler Interessen der Ukraine, in Abrede gestellt,
  • schließlich der Verdacht nahegelegt, die Betreffenden seien wissentlich oder unwissentlich vom Kreml ferngesteuert.

Dieser ungute Dreiklang erstickt zunehmend kreatives, kritisches Denken im Land. Typischerweise werden die Positionen des Gegners in diesen Debatten in überzogener und aus dem Kontext gestellter Form dargestellt. Gerne wird auch nicht auf Kernaussagen Bezug genommen, sondern Formulierungen aus Nebensätzen und Unterpunkten zu großen Themen aufgebauscht. Dabei findet sich diese Vorgehensweise nicht nur im aufgeladenen Klima von hitzigen Stammtischdiskussionen oder Wortgefechten in sozialen Netzwerken, auch die Expertengemeinschaft ist hiervon nicht frei.

Beispielhaft ist die Diskussion um Punkt 12 der „12 Schritte“: "Ein neuer, integrativer nationaler Dialog ist ukraineweit wünschenswert und könnte so schnell wie möglich initiiert werden".

Dutzende Think Tanks und NGOs haben in den vergangenen Jahren durch gebergeförderte Projekte das Thema einer nationalen Identität der Ukraine bearbeitet, darunter auch die Hanns-Seidel-Stiftung in Kiew (vgl.Infokasten). Niemand hat aber bislang die Autoren der „12 Punkte“ zu einem Dialog zu diesem Thema aufgefordert - tout le monde echauffiert sich aber über die Formulierung "Anstrengungen sollten unternommen werden, sich mit der Perspektive der ukrainischen Nachbarn, vor allem Polen, Ungarn und der RF auseinanderzusetzen". Auch hier wird der eigentliche Inhalt in einer unzulässigen Verkürzung sinnentstellend als "Russland soll der Ukraine ihre nationale Identität diktieren" dargestellt.

Information:
Die Projektarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung in der Ukraine

Die HSS arbeitet seit 28 Jahren in der Ukraine. Aktuelle Schwerpunkte der Projektarbeit sind unter anderem:

  • Dezentralisierung  - mit einem Schwerpunkt auf der Kommunalentwicklung in der Ostukraine in den Gebieten Donezk und Lugansk.
  • Arbeit mit der Zivilgesellschaft - mit einem Schwerpunkt auf der Förderung europäischer Werte und der Förderung einer integrativen nationalen Identität unter ukrainischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

In manchen Bereichen sind die Autoren ihrer Zeit weit voraus. Beispielsweise ist die Vorstellung einer Geberkonferenz zum Wiederaufbau des Donbas mit Beteiligung der Russischen Föderation derzeit kaum vorstellbar. In anderen Bereichen erschließt sich der Bezug zum Thema nicht unmittelbar - was hat die Definition von Bereichen selektiven Engagements zwischen der EU und der RF mit der Sicherheit der Ukraine zu tun?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt sich für eine Lösung des Konfiliktes ein: "Wie kann man einen Krieg beenden, wenn man nicht mit dem Gegner redet?"

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt sich für eine Lösung des Konfiliktes ein: "Wie kann man einen Krieg beenden, wenn man nicht mit dem Gegner redet?"

© Daniel Seiberling

2) Nach wie vor tobt ein Kampf um die Regierungspolitik im Land und die programmatische Ausrichtung Präsident Selenskijs.

Präsident Selenskij, der 2019 nicht zuletzt aufgrund einer deutlichen Friedensagenda mit 72% der Wählerstimmen zum Präsidenten gewählt wurde, findet nur schwer eine Balance zwischen den "Falken" in Gesellschaft und Politik, also Menschen, bei denen reale oder vermeintliche nationale Interessen im Vordergrund stehen, und den "Tauben" (Menschen, denen ein Ende des Krieges und die humanitäre Situation im Donbas und der Krim wichtig sind).   

Präsident Selenskij selbst beklagte auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass ihm sein erstes Treffen mit Präsident Putin in Paris im November 2019 von ukrainischen "Falken" als Verrat vorgeworfen wurde.

Im März 2020 Jahres wurde im Rahmen der dreiseitigen Kontaktgruppe (Ukraine, OSZE, Russische Föderation) in Minsk eine "Beratungsgruppe zur Friedensregulierung im Donbas" eingerichtet, in der praktische Fragen der Zusammenarbeit mit den sog. „Volksrepubliken“ in Bereichen wie Wahlen und Dezentralisierung behandelt werden sollen. Auch hier erhob sich sofort lautstarker Protest der "Falken", Präsident Selenskij verrate die nationalen Interessen und mache sich durch eine de-facto Anerkennung der sog. Volksrepubliken der Unterstützung des Separatismus schuldig.

Selbst um vermeintlich unstrittige humanitäre und ökologische Initiativen, wie die Wiederaufnahme der Wasserversorgung großer Teile der Krim durch den ukrainischen Nord-Krim Kanal, wird im aufgeheizten geopolitischen Kontext erbittert gestritten. Ist die Wiederaufnahme der Wasserversorgung eine humanitäre Geste oder - wieder einmal - Kapitulation vor Russland und Verrat nationaler Interessen?  

Die Ukraine kann sich der Diskussion solcher Fragen nicht verschließen, insbesondere auf ihrem Weg nach Europa und dem erklärten Ziel der EU- und NATO Mitgliedschaft. Eine erfolgreiche ukrainische Gegenposition zum illiberalen und repressiven russischen Gesellschaftsmodell kann nur das moderne, integrative, liberale, westliche Modell sein, in dem die freie Meinungsäußerung und der lebendige gesellschaftliche Diskurs gefördert und nicht unterdrückt wird.      

In dieser angespannten Situation ist es für Präsident Selenskij schwer, die von ihm erwarteten Friedensinitiativen zu liefern, mit denen er der ukrainischen Bevölkerung den Vertrauensvorschuss mit dem er gewählt wurde zurückzahlen muss, um in seinen politischen Aussagen glaubhaft zu bleiben. Darüber hinaus spürt er bei jeder Entscheidung den Atem des ehemaligen Präsidenten Poroschenko im Nacken, der von seinen bisherigen Positionen nicht abgewichen ist und nun als Leitfigur der "Falken" anscheinend nach Belieben Meinungsbildner und Stimmungsmacher gegen Präsident Selenskij mobilisieren kann.    

Unterschwellig klingt hierbei immer wieder das Narrativ über den unerfahrenen Politikneuling Selenskij durch, dessen Naivität und Unerfahrenheit, gepaart mit einem ehrlichen Verlangen den Krieg zu beenden und die Welt zu einem besseren Ort zu machen, ihn zum perfekten Opfer für die rücksichtslos ihre Interessen durchsetzenden Politikprofis im Kreml mache.

Wenn auch das Motto Präsident Selenskijs zum Donbas-Konflikt idealistisch klingt: "Wir haben den Krieg nicht begonnen, aber es ist unsere Aufgabe, ihn zu beenden" Ist sein Lösungsansatz an Pragmatik kaum zu übertreffen: 

"Wie kann man einen Krieg beenden, wenn man nicht mit dem Gegner redet?"

 

Autor: Daniel Seiberling, Projektleitung HSS Ukraine

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