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EU und Russland: Zwei Ansätze in der Einwanderungspolitik
Migration und Staatsbürgerschaft

Autor: Jan Dresel

Die Themen Flucht und Migration haben Deutschland und die gesamte Europäische Union fast den ganzen Juni über in Atem gehalten. Dann beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs bei ihrem halbjährlich stattfindenden Gipfel in Brüssel eine bessere Sicherung der EU-Außengrenzen und konkrete Maßnahmen zur Eindämmung illegaler Migration. Anfang Juli einigten sich CDU und CSU schließlich im Asyl-Konflikt, und wenige Tage später schlossen die beiden Unionsparteien mit ihrem Berliner Koalitionspartner SPD den Asylkompromiss, der wieder Ruhe ins Regierungslager brachte. Doch nicht nur in Deutschland und der EU, auch in Russland werden Fragen wie der Umgang mit illegaler Migration und die Voraussetzungen für eine Verleihung der Staatsbürgerschaft intensiv diskutiert. Grund genug für die Hanns-Seidel-Stiftung, zusammen mit der Stiftung Russkij Mir und dem Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften einen Gedankenaustausch europäischer und russischer Politiker und Fachleute anzuregen und eine hochrangige deutsche Delegation nach Moskau einzuladen.

Aus europäischer Perspektive begann die jüngste Debatte um Flucht und Migration mit den Ereignissen im Jahr 2015, als Tausende von Menschen auf dem Land- und auf dem Seeweg vor Krieg und Verfolgung in die EU flohen. Dabei kam es nach Angaben der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) in mehr als 1,8 Millionen Fällen zu illegalen Überschreitungen der EU-Außengrenzen. Auch wenn die Flüchtlingszahlen seitdem wieder deutlich zurückgegangen sind, kann man nach wie vor nicht von einer Entspannung der Lage sprechen: Es kommen immer noch mehr Menschen in die EU als vor 2014. Eine effektivere und besser abgestimmte Migrations- und Flüchtlingspolitik der EU-Mitgliedstaaten zählt also zu den größten aktuellen Herausforderungen für die Europäische Union.

Stilisierte Russische Karte

Seit 1991 wurden in Russland zahlreiche Gesetze zur Regelung der Einwanderung erlassen. Für die Bürger ehemaliger Sowjetrepubliken gibt es beispielsweise ein Quotensystem.

OpenClipart-Vectors; CC0; Pixabay

Aus Sicht von Markus Ferber MdEP, erster stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Währung im Europäischen Parlament, sind multidimensionale Lösungsansätze notwendig, um illegale Migrationsbewegungen langfristig und wirksam zu reduzieren. So müssten die EU-Außengrenzen besser gesichert und FRONTEX mit operativen Rechten ausgestattet werden. Darüber hinaus sei die Verabschiedung und konsequente Umsetzung eines europäischen Asylrechts notwendig. Schließlich müsse die EU ihre Migrationspolitik mit ihrer Entwicklungspolitik in Einklang bringen und dafür sorgen, dass Fluchtursachen bekämpft und die Lebensumstände in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessert würden. Ferber tritt in jedem dieser Bereiche für europäische Lösungen ein.  

Nachwirkungen der Sowjetzeit auf die aktuelle russische Migrationspolitik  

Nach Angaben der Leiterin des Labors für Bevölkerungsökonomie und demographische Ökonomie an der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Lomonossow-Universität, Dr. Olga Tschudinowskich, hat Russland, wie die USA und Deutschland, im weltweiten Vergleich einen sehr hohen im Ausland geborenen Bevölkerungsanteil. Für das Verständnis der migrationspolitischen Herausforderungen in der Russischen Föderation ist es zunächst unerlässlich, die Nachwirkungen der Binnenmigration in der ehemaligen Sowjetunion zu berücksichtigen. Als die ehemalige Supermacht im Jahr 1991 zusammenbrach und die Russische Föderation in ihrer heutigen Form als unabhängiger Staat zu existieren begann, sah sich die russische Politik von einem Tag auf den anderen mit einer Personengruppe konfrontiert, deren Status ungeklärt war: Migranten, die aus anderen Sowjetrepubliken nach Russland gekommen und plötzlich von Inländern (Sowjetbürgern) zu Ausländern (Nichtrussen) geworden waren. Umgekehrt hatten zahlreiche Russen – unter anderem zum Abbau natürlicher Ressourcen – ihren Lebensmittelpunkt in entlegene Gebiete anderer Sowjetrepubliken verlegt; viele von ihnen kehrten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Russland zurück. In den neunziger Jahren war die Trennlinie zwischen zeitlich begrenzter und permanenter Arbeitsmigration in Russland ähnlich schwierig zu ziehen wie die zwischen legaler und illegaler Beschäftigung von Immigranten aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Gründe dafür waren offensichtlich: Die russischen Grenzen waren damals sehr durchlässig, und Gesetze zur Regelung der rechtlichen Stellung von Ausländern fehlten fast komplett.

Themenbild auf dem sich zwei Personen die Hand reichen

Insgesamt hat Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion von Einwanderung stark profitiert. Der Bevölkerungsrückgang und die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitnehmer konnte durch die hohe Zahl oft gut ausgebildeter Zuwanderer kompensiert werden.

Zu Beginn der 2000er Jahre veränderte sich dann das Verständnis von Arbeitsmigration in Russland, als das Wirtschaftswachstum im Land zu einer verstärkten Nachfrage nach Arbeitskräften führte. Bürger anderer ehemaliger Sowjetrepubliken kamen nun aus wirtschaftlichen Gründen und in der Hoffnung auf bessere Verdienstmöglichkeiten nach Russland. Neue Gesetze wurden verabschiedet und neue Institutionen geschaffen, um den Rechtsstatus von Arbeitsmigranten genauer bestimmen und Arbeitsmigration besser erfassen zu können. Ab dem Jahr 2002 vereinfachte ein neues Gesetz die Ausstellung von Arbeitsgenehmigungen und erleichterte es Ausländern aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, sich offiziell an ihrem russischen Wohnsitz anzumelden. Dies ließ die Zahl der erwerbstätigen Migranten in den darauffolgenden Jahren – entsprechend dem erhöhten Bedarf – stark ansteigen. Zusammen mit anderen Erleichterungen hatte dieses neue Gesetz außerdem zur Folge, dass viele bis dahin illegale Migranten ihren Aufenthaltsstatus mit der russischen Gesetzgebung in Einklang bringen konnten. In dieselbe Richtung wirkten zwei weitere Varianten des Zugangs zum russischen Arbeitsmarkt, die 2010 ergänzend eingeführt wurden: zum einen ein Quotensystem für Bürger ehemaliger Sowjetrepubliken und zum anderen vereinfachte Vorschriften für die Anstellung hochqualifizierter Fachkräfte.  

Wie kann Einwanderung effektiv gesteuert werden?  

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Russische Föderation seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in mehrfacher Hinsicht von Einwanderung profitiert hat. So konnte ein Großteil des Rückgangs der russischen Bevölkerung, der vor allem der demographischen Entwicklung in den Jahren nach 1991 geschuldet war, durch ankommende Migranten kompensiert werden. Gleichzeitig konnten die oft gut ausgebildeten russischsprachigen Einwanderer in diesen Jahren die Abwanderung zahlreicher russischer Fachkräfte in westliche Länder ausgleichen. In den vergangenen zehn Jahren sank das durchschnittliche Bildungsniveau der ankommenden Migranten allerdings stark. So nehmen immer mehr von ihnen schlecht bezahlte Tätigkeiten mit teils miserablen Arbeitsbedingungen an, die für die einheimische Bevölkerung unattraktiv geworden sind. Im Zuge der Ende 2014 einsetzenden Wirtschaftskrise in Russland führte die starke Abwertung des Rubels zudem zu einer drastisch gesunkenen Nachfrage nach Arbeitskräften, so dass die Zahl der Arbeitsmigranten in der Russischen Föderation in der Folge deutlich zurückging. Zudem traten 2015 neue Gesetze in Kraft, die Migranten den Zugang zum russischen Arbeitsmarkt erschwerten. Seitdem sind erfolgreich abgelegte Prüfungen zur russischen Sprache und Geschichte, eine medizinische Untersuchung und der Abschluss einer Krankenversicherung Voraussetzung für ihre Einstellung.

Tschudinowskich sieht zwei große Herausforderungen für die russische Migrationspolitik. Zum einen fordert sie unterschiedliche Einwanderungsformalitäten für verschiedene Bewerbergruppen. So müssten derzeit beispielsweise Fachkräfte im Gesundheitswesen dieselben Anforderungen erfüllen wie gering qualifizierte Saisonarbeitskräfte, um Zugang zum russischen Arbeitsmarkt zu erhalten. Zum anderen betont Tschudinowskich, dass die russische Politik der Integration von Einwanderern mehr Aufmerksamkeit schenken sollte als bisher. Entscheidend ist nach ihrer Auffassung letztlich eine effektive Steuerung von Einwanderung wie auch eine vorbehaltlose Beantwortung der Frage, wie viele und welche Art von Einwanderern Russland benötigt.  

Auch die Frage, welche Voraussetzungen für eine Verleihung der Staatsbürgerschaft erfüllt sein sollten, wird in Russland derzeit stark diskutiert. Manche russischen Fachleute sehen in diesem Punkt Reformbedarf und betrachten das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht und seine Anwendung als mögliches Modell für Russland. Der ehemalige Chefvolkswirt und Leiter der wirtschaftswissenschaftlichen Migrations- und Integrationsforschung am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Dr. Hans Dietrich von Loeffelholz, sieht in der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft den krönenden Abschluss gelungener Integration. Gleichzeitig würde in Deutschland die gute wirtschaftliche Situation dafür sorgen, dass die Beschäftigungsquote erwerbsfähiger Flüchtlinge im internationalen Vergleich besonders hoch sei. Grundsätzlich hält von Loeffelholz einen interkulturellen Ansatz bei der Integration von Einwanderern für notwendig, der auf die grundlegenden Gemeinsamkeiten und das Verbindende zwischen verschiedenen Kulturen abstellt; der Multikulturalismus sei hingegen als Konzept gescheitert.

Runde arbeitender Männer in einem Konferenzraum mit Rollups (HSS) im Hintergrund

Markus Ferber MdEP (2.v.r.) tritt für europäische Lösungen im Umgang mit Flucht und Migration ein.

HSS

Internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung illegaler Migration - Zuversicht und Skepsis

Was können nun die EU und Russland voneinander lernen? Und wie realistisch sind die Aussichten auf effektive und nachhaltige internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung illegaler Migration? Für die französische Politologin Carolin Galakteros ist internationale Kooperation gefragt wie nie zuvor. Dabei gehe es letztendlich um nichts Geringeres als die Gewährleistung der Inneren Sicherheit und der Stabilität der modernen Nationalstaaten durch effektive Zusammenarbeit. Daniel Guyot, Vorsitzender der französisch-russischen Rechtskommission der französischen Gesellschaft für vergleichende Gesetzgebung, sieht hingegen selbst innerhalb der EU wenig Chancen für verstärkte Zusammenarbeit. Bernhard Egger, Leitender Kriminaldirektor beim Bayerischen Landeskriminalamt, sieht die Bekämpfung von Schleusern als oberste Priorität der Sicherheitskräfte an und hält internationale Zusammenarbeit dabei für unerlässlich. Gemeinsame Ermittlungsgruppen, Frontex und Einrichtungen wie das Europol angegliederte „European Migrant Smuggling Centre“ (EMSC) seien konkrete Ansatzpunkte für internationale Kooperation bei der Bekämpfung von Schleuserorganisationen.

Welche Schlussfolgerungen können nun für den Umgang mit Migration und die Verleihung der Staatsbürgerschaft gezogen werden? Zum einen scheint es einen weitgehenden Konsens über die wirtschaftliche und demographische Notwendigkeit von Migration sowohl in Russland als auch in vielen EU-Ländern zu geben. Wenn die Verleihung der Staatsbürgerschaft am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses steht, könnte man sie als eine Art Belohnung für die Bemühungen erfolgreich integrierter Immigranten ansehen. Wenn also Migration den jeweiligen nationalen bzw. europäischen Notwendigkeiten entsprechend gesteuert wird, kann Einwanderungspolitik zu einem Erfolgsmodell werden.

Jan Dresel, Regionalprojekt Frieden und Demokratie in Osteuropa
Jan Dresel
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