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November-Pogrome 1938:
85. Jahrestag der Reichspogromnacht

Autor: Thomas Haslböck

Sie wird aus gutem Grund nicht mehr „Reichskristallnacht“ genannt – es ist das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. In der Nacht auf den 10. November 1938 wurden Synagogen angezündet, Geschäfte und Wohnhäuser jüdischer Bürgerinnen und Bürger zerstört. Außerdem wurden sie ermordet, verhaftet, misshandelt und deportiert. Heute, am 85. Jahrestag, gedenken wir an diese Taten grausamer Gewalt.

Die Synagoge am Börneplatz in Flammen während der Reichspogromnacht, Frankfurt, 10. November 1938.

Die Synagoge am Börneplatz in Flammen während der Reichspogromnacht, Frankfurt, 10. November 1938.

AGB Photo; HSS; IMAGO

Vor 85 Jahren brannten in Deutschland die Synagogen. Mit ihren Gotteshäusern gingen auch die Hoffnungen der deutschen Juden, sich noch irgendwie mit dem NS-Regime arrangieren zu können, endgültig in Flammen auf. Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 war eine Zäsur: Hatte sich der Antisemitismus der Nationalsozialisten vorher in Form von Diskriminierung und Entrechtung ausgedrückt, so war er nun erstmals in einen großflächigen Akt brutaler Gewalt umgeschlagen.

„Polenaktion“ und antisemitische Verschwörungstheorien

Schon in den Monaten zuvor zeichnete sich diese Entwicklung ab. Im Zuge der Zerschlagung Österreichs im Frühjahr 1938 erkannten viele dort ansässige Juden die Zeichen der Zeit und versuchten, das Land zu verlassen. Etwa 20.000 von ihnen strebten als polnische Staatsbürger eine Rückkehr in ihre alte Heimat an. Polen reagierte mit einem dem Wesen nach antisemitischen Gesetz, das es ermöglichen sollte, den im Ausland lebenden polnischen Juden die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Das NS-Regime deportierte daraufhin unter bis dahin ungekannter Gewaltanwendung 17.000 polnische Juden an die deutsch-polnische Grenze. Von dieser sogenannten „Polenaktion“ betroffen war auch die Familie des in Paris lebenden Herschel Grynszpan, der am 7. November aus Empörung über das brutale Vorgehen die deutsche Botschaft aufsuchte und dort den Diplomaten Ernst Eduard vom Rath niederschoss. In der Wahrnehmung und Propaganda der Nazis griff sofort die perfide Logik antisemitischer Verschwörungstheorien: Weil es ein internationales Komplott des Weltjudentums gibt, sind für die Tat eines einzelnen Juden immer alle Juden mitverantwortlich – und müssen daher zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Beteiligten

Dieser Logik folgend, kam es bereits am Tag des Attentats zu ersten Ausschreitungen. Die eigentliche Gewaltorgie brach jedoch los, als vom Rath am Abend des 9. November seinen Verletzungen erlag. Die Todesnachricht platzte mitten in die Gedenkveranstaltung der NS-Elite zum 15. Jahrestag des Hitlerputsches hinein. Josef Goebbels nutzte die Gelegenheit und rief im Rahmen einer Hetzrede zur Zerstörung jüdischer Synagogen und Geschäfte auf. Die anwesenden Parteiführer gaben die Weisung sofort telefonisch an ihre regionalen Verbände weiter – und setzten damit eine Welle des Terrors in Gang.

Zunächst bestand der antisemitische Mob hauptsächlich aus Männern der Sturmabteilung (SA), im Laufe der Nacht kamen zahlreiche weitere Täter und Plünderer hinzu, tags darauf auch viele aufgehetzte Jugendliche.

Zerschlagene Schaufensterscheibe eines jüdisch geführten Ladens, zerstört während der Reichspogromnacht, Berlin, 1938.

Zerschlagene Schaufensterscheibe eines jüdisch geführten Ladens, zerstört während der Reichspogromnacht, Berlin, 1938.

AGB Photo; HSS; IMAGO

Das desaströse Ende

Die Bilanz war verheerend: 1.406 Synagogen, 177 Wohnhäuser und bis zu 7.500 jüdische Geschäfte wurden zerstört. Während und infolge des gesamten Pogroms kamen zwischen 1.300 und 1.500 Juden ums Leben. Die Sicherheitskräfte schritten nicht nur nicht ein, sondern flankierten den Furor noch mit einer gigantischen Verhaftungswelle. Über 30.000 Juden wurden festgenommen, misshandelt, in Konzentrationslager gesperrt und nur freigelassen, wenn sie der „Arisierung“ ihrer Geschäfte zustimmten. In einer vollkommenen Täter-Opfer-Umkehr wurden ihnen zudem die entstandenen Schäden in Rechnung gestellt.

Im Laufe des 10. Novembers beschloss die NS-Führung schließlich, die Ausschreitungen zu beenden – die Sorge um eine kollaterale Zerstörung „arischen“ Eigentums spielte dabei eine entscheidende Rolle. Für viele Deutsche kehrte danach wieder Alltag ein. Für die deutschen Juden hingegen hatte der Weg in die Katastrophe endgültig begonnen.

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