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Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Ein Pfarrer gegen das Vergessen

Autor: Dr. Philipp W. Hildmann

Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar haben wir ein Interview mit Kirchenrat Dr. Björn Mensing geführt. Er ist Pfarrer in der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau und setzt sich für eine lebendige Erinnerungsarbeit ein.

Portraitaufnahme von Dr. Björn Mensing vor der Versöhnungskirche im Schnee.

Pfarrer Dr. Björn Mensing ist seit 2005 an der Evangelischen Versöhnungskirche tätig. Für ihn sind "Begegnungen, gerade interreligiöse und interkulturelle Begegnungen die besten Formate, um Vorurteile und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit abzubauen oder gar nicht erst entstehen zu lassen."

Dr. Philipp Hildmann

Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit. Was sie dort entdecken mussten und was in den weiteren Konzentrationslagern nach und nach ans Licht kam, ließ der Welt und lässt uns noch heute den Atem stocken vor Abscheu und Entsetzen. Mit Recht ist dieser 27. Januar seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag.

HSS: Sehr geehrter Herr Kirchenrat Dr. Björn Mensing, Sie sind Pfarrer und Historiker. Seit 2005 arbeiten Sie an der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Wie kam es zu diesem doch sehr besonderen Ort und wo liegen Ihre Arbeitsschwerpunkte?

Björn Mensing: Die Evangelische Versöhnungskirche ist ein internationales ökumenisches Projekt, das zurückgeht auf eine Initiative von niederländischen Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau. Errichtet wurde die Kirche dann von den evangelischen Kirchen der Niederlande, Frankreichs, Deutschlands, Polens und der damaligen Tschechoslowakei.

Ihre Einweihung 1967 stellte zugleich eine große Veränderung in der evangelischen Erinnerungskultur im Blick auf die NS-Zeit dar. Bis dahin hatte die Kirche nur an ihre eigenen Märtyrer der Bekennenden Kirche erinnert, allen voran an die in den Konzentrationslagern Buchenwald bzw. Flossenbürg ermordeten Pfarrer Paul Schneider und Dietrich Bonhoeffer. Nun wurde die Perspektive explizit auf alle von den Nationalsozialisten Verfolgten ausgeweitet: die jüdischen Häftlinge des KZ Dachau, die zumeist atheistischen kommunistischen und sozialistischen Inhaftierten sowie andere verfolgte Gruppen wie die große Zahl katholischer Priester aus Polen oder antisemitisch verfolgte Christen.

Für diesen Erinnerungsauftrag stand von Anfang an kirchliches Personal bereit, das seit den 1970er-Jahren noch durch Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ergänzt wird. Neben dem Hauptteil unserer Arbeit, den thematischen Führungen über das Gelände der KZ-Gedenkstätte, werden darüber hinaus inzwischen auch wechselnde Ausstellungen gezeigt sowie Zeitzeugengespräche und Andachten angeboten.  

HSS: Begehen Sie den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus mit besonderen Formaten?

Björn Mensing: Es ist eine lange Tradition in der Versöhnungskirche, dass dieser Gedenktag an dem Sonntag, der dem 27. Januar am nächsten liegt, im Gottesdienst aufgegriffen wird.

Von der Versöhnungskirche ging 2004 auch die Initiative aus, einen entsprechenden Erinnerungstag im deutschen Fußball ins Leben zu rufen. Seit 2005 werden deshalb am Spieltag, der dem 27. Januar am nächsten liegt, in zahlreichen Stadien Gedenkaktionen durchgeführt, die den Fokus im jährlichen Wechsel jeweils auf bestimmte Gruppen von Verfolgten legen. In den Blick genommen wurden in den zurückliegenden Jahren etwa queere Menschen oder Menschen mit Behinderung, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.

In diesem Jahr geht es in den Fußballstadien wie auch in der Versöhnungskirche um den Widerstand von Frauen in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch da sind die Brücken zur gegenwärtigen Situation naheliegend, wenn wir heute darauf aufmerksam machen, in welchen Ländern Mädchen und Frauen beispielsweise nicht mehr öffentlich Sport treiben dürfen. Und die Leitfrage lautet: Können die Biographien von Mädchen und Frauen im Widerstand gegen das NS-Regime eine Inspirationsquelle sein für Menschen, die sich frauenfeindlichen Tendenzen heute entgegenstellen.

Am 31. Januar wird es dazu eine Gesprächsrunde mit der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern Charlotte Knobloch in der Versöhnungskirche geben.

HSS: Im Jahr 2005 wurde der 27. Januar von den Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt. Heute gehört Antisemitismus verstärkt wieder zum Alltag in Deutschland. Wie reagieren Sie in der KZ-Gedenkstätte Dachau darauf?

Björn Mensing: Die Arbeit an der Versöhnungskirche versteht sich von Anbeginn auch als Antisemitismus-Präventionsarbeit. Wir bemühen uns darum, indem wir an Biographien von Menschen erinnern, die antisemitisch verfolgt worden sind.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist unser Blick auf das Versagen der evangelischen Kirche in Deutschland angesichts der Judenverfolgung im Dritten Reich. Im Aufdecken dieses Versagens in den damaligen Kirchen richten wir immer auch den Blick darauf, wo es durch Wegschauen, durch Nicht-Wahrnehmen heute wieder zu einer Verbreitung des Antisemitismus kommen kann. Es ist wirklich unerträglich, dass Menschen heute in unserem Land damit rechnen müssen, angefeindet zu werden, wenn sie äußerlich als Juden erkennbar sind!

Dem entgegenzusteuern ist eine Aufgabe, die viele Facetten hat. Auf der einen Seite ist natürlich die Härte des Gesetzes in der Strafverfolgung notwendig. Auf der anderen Seite gilt es, unsere Gesellschaft wieder für dieses Thema zu sensibilisieren. Dazu hilft das Ermöglichen von Begegnungen mit Jüdinnen und Juden. Das ist etwas, was wir hier an der Versöhnungskirche seit Jahren als unseren Auftrag verstehen und etwa in jüdisch-christlichen bzw. jüdisch-christlich-muslimischen Gedenkveranstaltungen leisten. Begegnungen, gerade interreligiöse und interkulturelle Begegnungen sind die besten Formate, um Vorurteile und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit abzubauen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. 

HSS: Halten Sie das politische, das staatliche Handeln beim Thema Antisemitismus für ausreichend oder wünschen Sie sich an der ein oder andern Stelle mehr? 

Björn Mensing: Beim Thema Antisemitismusprävention geschieht heute staatlicherseits schon sehr viel. Was mich besonders freut ist, dass es einen Ausbau des deutsch-israelischen Jugendaustausches geben soll. Das ist natürlich die intensivste Form des gegenseitigen Kennenlernens und des Abbaus von Vorbehalten.

Zu diesen positiven Ansätzen passt allerdings nicht so ganz eine andere Entwicklung: In Bayern werden vom Kultusministerium Geschichtslehrkräfte abgestellt, um bayerischen Schulklassen kostenlose Führungen über das Gelände der KZ-Gedenkstätte anzubieten. Hier wurde das Zeitfenster für die Standardführung auf 90 Minuten verkürzt. Wir wissen aber aus langer Praxis der anderen Anbieter von Führungen, dass wenigstens zweieinhalb Stunden notwendig sind, wenn man den Schülerinnen und Schülern auch nur ansatzweise etwas zum KZ Dachau vermitteln möchte. Ohne ausreichend Zeit und qualifiziertes Personal wird die Chance, die dieser Lernort hier bietet, verspielt. Dies trifft besonders bei den Schulklassen zu, die von ihren Lehrkräften ganz ohne Führung auf das Gelände der KZ-Gedenkstätte geschickt werden. Hier wären Änderungen wünschenswert.

 

Sehr geehrter Herr Dr. Mensing, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen alles Gute für Ihre wertvolle Arbeit!