Print logo

Brennpunkt Nahost: Die vergessene Flüchtlingskrise

Im Schatten der Flüchtlingsströme, die der Krieg in Syrien verursacht hat, leben heute im abgeriegelten Gaza-Streifen, im Westjordanland, in Syrien, Jordanien und im Libanon auch über fünf Millionen Palästina-Flüchtlinge in prekären Verhältnissen. Um diese kümmert sich das Hilfswerk der Vereinten Nationen UNRWA, dessen Generalkommissar am 18. Oktober Gast in der Hanns-Seidel-Stiftung war.

Ursula Männle begrüßte den UNRWA-Generalkommissar Pierre Krähenbühl in der Hanns-Seidel-Stiftung.

Ursula Männle begrüßte den UNRWA-Generalkommissar Pierre Krähenbühl in der Hanns-Seidel-Stiftung.

Es gibt gute Gründe, warum sich die Welt gerade heute für das Schicksal der 5,2 Millionen Palästina-Flüchtlinge interessieren sollte. Diese Kernbotschaft hatte Pierre Krähenbühl bei seinem Besuch in der Hanns-Seidel-Stiftung am 18. Oktober im Gepäck. Der gebürtige Schweizer steht seit 2014 als Generalkommissar an der Spitze des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), das 1949 von der UNO-Generalsversammlung ins Leben gerufen wurden und ein Jahr darauf seine Arbeit aufgenommen hat. Ursprünglich mit einem einjährigen Mandat ausgestattet, direkte Hilfs- und Arbeitsprogramme für Palästina-Flüchtlinge umzusetzen, solange bis eine gerechte und dauerhafte Lösung der Palästina-Flüchtlingsfrage gefunden ist, ist der Auftrag der UNRWA heute, 66 Jahre nach ihrer Gründung, noch immer, die Sicherung der Grundbedürfnisse und den Schutz der Palästina-Flüchtlinge zu garantieren sowie deren menschliches Potential und Entwicklung zu fördern. Diesem Auftrag kommt sie heute mit über 30.000 Beschäftigten in Jordanien, Syrien, dem Libanon, dem Gaza-Streifen sowie im Westjordanland nach.

Pierre Krähenbühl berichtete über die Arbeit seiner 30.000 Mitarbeiter.

Pierre Krähenbühl berichtete über die Arbeit seiner 30.000 Mitarbeiter.

UNRWA-Generalkommissar Pierre Krähenbühl war auf Einladung von Hanns-Seidel-Stiftung und Deutsch Arabischer Freundschaftsgesellschaft zu einer Expertenkonferenz in die bayerische Landeshauptstadt gekommen. Moderiert von Staatsminister a.D. Otto Wiesheu legte er vor Vertretern aus Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Kirchen und Gesellschaft dar, dass die 5,2 Millionen Palästina-Flüchtlinge aufgrund von weitverbreiteter Ernährungsunsicherheit, Armut und hoher Jugendarbeitslosigkeit heute dringender als je zuvor auf die Hilfe der UNRWA angewiesen seien. Obgleich sie dank der Gesundheitsversorgung (mit jährlich 9,5 Millionen Patientenbesuchen in UNRWAs medizinischen Zentren) und Ausbildungsmöglichkeiten (von mehr als 500.000 Kindern und Jugendlichen in 685 UNRWA-Schulen und 7.200 zusätzlichen Plätzen in Berufsschulen) über ein hohes Maß an Potenzial verfügten, fehle es ihnen oftmals an den nötigen finanziellen Mitteln und Chancen für eine eigenständige und nachhaltige Existenzsicherung. Bewaffnete Konflikte in Syrien, dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen trügen seit Jahren dazu bei, dass sich die Situation der Palästina-Flüchtlinge verschärfe. Eine wachsende Anzahl von ihnen werde von wichtigen Aspekten des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenlebens ausgeschlossen und ihnen würden aufgrund ihres rechtlichen Status wichtige Grundrechte verweigert.

UNRWA unterrichtet mehr als 500.000 Kinder in eigenen Schulen. (UNRWA-Foto von Shareef Sarhan)

UNRWA unterrichtet mehr als 500.000 Kinder in eigenen Schulen. (UNRWA-Foto von Shareef Sarhan)

In diesem Zusammenhang sei die UNRWA ein stabilisierender Faktor und unterstütze die Palästina-Flüchtlinge, indem sie auf ihre Kernziele hinarbeite, dass die international anerkannten Rechte von Flüchtlingen gewahrt und gestärkt würden, dass die Flüchtlinge ein langes und gesundes Leben genießen könnten, dass Kinder im Schulalter Zugang zu hochwertiger, gerechter und umfassender Grundbildung haben könnten, dass die Fähigkeit der Flüchtlinge zur Lebensgrundlagensicherung gestärkt werde und dass die Grundbedürfnisse von Flüchtlingen in Bezug auf Ernährung, Unterkunft, Gesundheit und ihre Umwelt garantiert seien. Die UNRWA werde dabei seit vielen Jahren von Deutschland als einem wichtigen und zuverlässigen Partner unterstützt. 2015 habe sich die finanzielle Unterstützung Deutschlands auf insgesamt 83,2 Millionen Euro belaufen.

Für diese Unterstützung gebe es aus deutscher wie internationaler Perspektive gute Gründe. Konkret hob Pierre Krähenbühl im Rahmen der Expertenkonferenz der Hanns-Seidel-Stiftung die folgenden hervor:
 

  • Weil die Bedingungen der 5,2 Millionen Flüchtlinge – dies entspricht der Gesamtbevölkerung von Berlin und München – heute prekärer ist als je zuvor seit 1948.
  • Weil das Fehlen einer politischen Perspektive ihre Entschlossenheit und Kreativität erschöpft.
  • Weil die seit 50 Jahren andauernde Besatzung der palästinensischen Gebiete und die inzwischen zehnjährige Blockade des Gazastreifens die Seele und Identität der Gemeinschaft der Flüchtlinge zerstört.
  • Weil eine junge, heranwachsende Generation von Palästina-Flüchtlingen das Vertrauen in die Politik und Diplomatie verliert. Im Westjordanland und im Gazastreifen wurden die meisten jungen Menschen nach dem Oslo-Friedensabkommen geboren. Ihnen sagte die Welt: Wenn ihr einen Weg der Mäßigung und des Kompromisses wählt, wird es eine gerechte Lösung geben. Aber dieses Versprechen hat sich bislang nicht bewahrheitet.
  • Weil in Syrien junge Palästina-Flüchtlinge – vertrieben, enteignet und verzweifelt – verstehen und am eigenen Leib erfahren, was ihre Eltern und Großeltern vor Jahrzehnte erlitten haben.
  • Weil wir Gefahr laufen, einer zunehmenden Radikalisierung von isolierten und verzweifelten jungen Menschen nichts entgegenzusetzen. Extremisten sind auf der ständigen Suche nach neuen Rekruten. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, Palästinaflüchtlinge vor solchen Risiken und Versuchungen zu schützen.
  • Und weil erneute Aufmerksamkeit für das Schicksal und die Zukunft der Palästina-Flüchtlinge und ihrer Jugend dringender ist denn je. Nicht nur als eine Frage der Menschlichkeit. Sondern auch als Investition in die Stabilität des Nahen Ostens. Das Risiko einer weiteren Destabilisierung der Region sollten Deutschland und andere EU-Mitgliedsstaaten nicht eingehen.

Deshalb schloss der UNRWA-Generalkommissar mit dem dringenden Appell: „Wenn wir heute unsere Augen verschließen, vor dem Leid der Palästina-Flüchtlinge und den Verletzungen ihrer Würde und Rechte, wird uns die Wirklichkeit in ein paar Jahren einholen. Dann wird die Situation allerdings noch schlimmer, dramatischer und gefährlicher sein. Und der Druck auf die Gastländer wie Jordanien und den Libanon sowie die UNRWA wird sich weiter erhöht haben.“