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Nach der sechsten Staatsreform
Das föderale Belgien

Autor: Angela Ostlender

In den 1960er Jahren gefährdete der offene Konflikt zwischen Wallonen und Flamen immer wieder den politischen Zusammenhalt Belgiens. Um den unterschiedlichen Interessenslagern gerecht zu werden, entschlossen sich die Streitparteien zu einem schrittweisen Umbau Belgiens in ein föderales Staatsgefüge, mit dem 1970 begonnen wurde.

Im Zuge der bis 2014 sechs vollzogenen Staatsreformen entstanden einerseits die drei Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel sowie andererseits die Flämische, Französische und Deutschsprachige (Sprach-)Gemeinschaft. Das Sankt-Michaels-Abkommen ebnete im Jahre 1993 den Weg zur Schaffung eigener Exekutiv- und Legislativorgane für die neu geschaffenen Verwaltungsebenen. So verfügt auch die kleine, kaum 77.000 Einwohner starke Deutschsprachige Gemeinschaft über ein Parlament und eine Regierung. Sowohl der belgische Nationalstaat als auch die Regionen und Sprachgemeinschaften haben eigene politische Kompetenzen. Beispielsweise sind die Regionen für Bildung und Kultur zuständig.

Info:

Am 13. April 2018 fand im ostbelgischen Eupen ein Kolloquium des Parlaments der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens zum Thema „Mögliche Szenarien einer Staatsreform nach 2019 – Analysen und Perspektiven im aktuellen belgischen Kontext“ statt.  Das Kolloquium war das fünfte einer Reihe, die als „Charme-Offensive“ der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) gewertet werden kann, um Politikern, Politikexperten und gesellschaftspoltischen Multiplikatoren aus anderen Landesteilen die Positionen der DG näher zu bringen. Dieser Bericht beruht unter anderem auf Inhalten und Ergebnissen dieser Veranstaltungsreihe.

Gebiete der flämischsprachigen Gemeinde Belgiens. Hier schlägt das Herz der belgischen Wirtschaft.

DUBS; CC0; Wikimedia Commons

Perspektiven für eine siebte Staatsreform – Regionen-Status für die Deutschsprachige Gemeinschaft?

Das asymmetrische belgische Föderalmodell versucht die komplexe Situation des Landes  schlüssig abzubilden. Faktisch handelt es sich in Belgien jedoch um ein Gliedstaatengefüge mit zwei Hauptbestandteilen: das wirtschaftlich stärkere und bevölkerungsreichere niederländischsprachige Flandern im Norden und das wirtschaftlich schwächere französischsprachige Wallonien im Süden. Die ungleichen sozio-ökonomischen Kulturen dieser Gliedstaaten verstärkten in der Vergangenheit den Wunsch nach mehr Autonomie, besonders auf Seiten der flämischen Gemeinschaft.

Es scheint daher nur eine Frage der Zeit zu sein, wann Stimmen nach einer neuen Staatsreform wieder lauter werden, auch wenn derzeit keine Seite konkrete Forderungen stellt. Der liberale flämische Vizepremier Alexander de Croo äußerte gar öffentlich Überlegungen zur Re-Nationalisierung bestimmter Zuständigkeiten. Selbst die „Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA)“ musste als stärkste Partei Flanderns (und auch Gesamtbelgiens), die langfristig ein selbständiges Flandern entstehen sieht, ihre ambitionierten Wahlkampfziele zugunsten einer Beteiligung an der aktuellen Regierungskoalition zurückstellen. Übrig bleibt ein stark geschwächter rechtsextremer „Vlaams Belang“, der als einzige flämische Kraft noch offen für die Unabhängigkeit Flanderns eintritt.
Die Stabilität eines föderalen Staates erfordert das richtige Gleichgewicht zwischen der Einheit des Nationalstaats und der Selbständigkeit der Regionen bzw. Sprachgemeinschaften. Derzeit zirkulieren drei Modelle, die vielerlei Fragen aufwerfen: 

  1. eine allmähliche Auflösung des belgischen Staates und die Eingliederung Flanderns in ein Europa der Regionen, wie sie der Vorsitzende der N-VA, Bart De Wever, (theoretisch und langfristig) entstehen sieht, bzw. die einseitige flämische Unabhängigkeitserklärung, wie sie der „Vlaams Belang“ fordert;
  2. das schweizer Modell einer Eidgenossenschaft
  3. ein weiterer "belgischer Kompromiss" mit stärkeren föderalen Elementen.

Die Gebiete der französischsprachigen Gemeinschaft Belgiens

TUBS; CC0; Wikimedia Commons

Im Zuge der Überlegungen für eine weitere Staatsreform stellt sich ebenso die Frage, wie sich die Deutschsprachige Gemeinschaft weiterentwickeln könnte. Auch wenn sie zu keinem Zeitpunkt explizite Autonomieabsichten hegte, profitierte sie vom Umbau Belgiens in einen Föderalstaat. So erhielt sie ebenfalls ein eigenes Parlament, eine Regierung und entsprechende Zuständigkeiten.

Ostbelgien zeichnet sich durch ein hohes Bildungsniveau sowie die konsequente Umsetzung von Mehrsprachigkeit und einer soliden Wirtschaftssituation mit ausgeglichenem Haushalt und vergleichbar niedrigen Arbeitslosenzahlen aus. Inzwischen hat die Deutschsprachige Gemeinschaft auf der Grundlage bilateraler Übereinkommen mit der wallonischen Region, zu welcher sie im Rahmen von regionalen Zuständigkeitsbereichen gehört, weitere Kompetenzen erhalten, darunter den wichtigen Wirtschaftsfaktor Tourismus (also zum Beispiel das Recht touristische Infrastruktur auszuweisen). Forderungen zur Übertragung zusätzlicher Instrumente für Regionalpolitik wie Raumordnung, regionaler Wohnungs- und Straßenbau und Energie liegen auf dem Tisch und sollen bis zum Jahresende 2018 verhandelt sein. Betrachtet man die neuen Zuständigkeiten der Deutschsprachigen Gemeinschaft, fehlt somit nicht mehr viel zur autonomen Einheit, die wie Flandern regionale und gemeinschaftliche Kompetenzen „unter einem Dach“ vereint und damit das Statut einer reinen Sprachengemeinschaft weit überschreitet. Am Ende einer künftigen Staatsreform könnte eine vollständige Ausgliederung des deutschen Sprachgebietes aus der Wallonischen Region und dessen Erhebung zum gleichberechtigten vierten belgischen Gliedstaat neben Flandern, Wallonien und Brüssel stehen.  

Brüssel: Der gordische Knoten  

Mit Blick auf das belgische Superwahljahr 2019 und auf künftige Staatsreformpläne sind vor allem die Strategien der flämischen Parteien N-VA und CD&V (Christdemokraten) relevant. Für beide Parteien ist Brüssel zuallererst flämische Hauptstadt, dort wollen sie den flämischen Einfluss stärken. Aktuelle Wahlprognosen für die kommenden Kommunalwahlen im Oktober 2018 bestätigen die guten Perspektiven der amtierenden Regierungsparteien (neben den beiden genannten noch die flämischen und wallonischen Liberalen). Sicherlich bietet der lokale Urnengang einen Stimmungstest für die nationalen Parlamentswahlen 2019.

"Ostbelgien", Gebiete der Deutschsprachigen Gemeinde Belgiens.

DUBS; CC0; Wikimedia Commons

Dass es noch keinen konkreten Vorschlag für die nächste Staatsreform gibt, liegt vor allem auch an der komplexen Situation in Brüssel. Die Landeshauptstand ist Sitz zahlreicher internationaler und EU-Institutionen sowie der NATO. Gleichzeitig ist Brüssel auch flämische Hauptstadt, wobei jedoch nur noch etwa ein Prozent der Bewohner der niederländischen Sprachengemeinschaft angehört. Die knapp 1,2 Millionen Brüsseler fühlen sich jedoch größtenteils weder der flämischen noch der wallonischen Region zugehörig. Als Kompromiss erhielt die Stadt den Status einer zweisprachigen Hauptstadtregion, wobei sich bei den politischen Kompetenzen ein unübersichtliches Geflecht entwickelt hat. Nicht zuletzt deshalb und im Zuge des dynamischen Wachstums der Metropolregion Brüssel werden Forderungen lauter, die institutionellen Strukturen endlich an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Unter anderem steht die Übertragung von politischen Kompetenzen für Bildung und Kultur (die sogenannten „Sprachgemeinschaftskompetenzen“) an die Hauptstadtregion im Raum – ein Vorschlag, den die beiden größten flämischen Parteien N-VA und CD&V vehement ablehnen. Sie sagen nämlich, dass Brüssel ohne die finanzielle Unterstützung der beiden großen Regionen nicht lebensfähig sei.

Fazit

Belgien hat immer wieder aufs Neue seine Fähigkeit zu kreativen Kompromissen beim Umgang mit komplexen kulturellen Differenzen bewiesen. Grundlegend ist dabei, dass die beteiligten politischen Kräfte Ergebnisse nicht als permanent ansehen und für Anpassungen offen sind. Das Land steht europaweit beispielhaft für nationalen Minderheitenschutz, zum Beispiel durch die Übertragung von Kompetenzen an Gemeinschaften ohne eigenes Territorium.  

Auch wenn momentan die zentrifugalen Kräfte in Belgien dominant erscheinen, ist eine siebte Staatsreform zur Stärkung von föderalen Elementen auf mittelfristige bis lange Sicht wahrscheinlich. Hier könnte auch die Deutschsprachige Gemeinschaft eine neue Rolle spielen. Im Sommer 2017 wurde bereits das Markenlogo "Ostbelgien" eingetragen, mit dem Unternehmen und Vereine der Deutschsprachigen Gemeinschaft zukünftig in der Außendarstellung werben sollen. Politische Hintergedanken verneinte Ministerpräsident Paasch jedoch elegant. Ob es jemals ein „Belgien zu Viert“ (also Brüssel, Flandern, Wallonien und Ostbelgien) geben wird, für das sich auch der (ostbelgische) Präsident des Europäischen Ausschusses der Regionen, Karl-Heinz Lambertz, stark macht, hängt in der Tat weniger von der Deutschsprachigen Gemeinschaft als von der Entwicklung Brüssels und dort vor allem von der Haltung der flämischen Parteien N-VA und CD&V ab. Die strikte Trennung von Sprachgemeinschaftskompetenzen hat in der Praxis nicht zu mehr Zweisprachigkeit in der Hauptstadt beigetragen. Diese könnte aus Sicht des Universitätsprofessors Philippe Destatte effektiver mit einem gemeinsamen und konsequent zweisprachigen Bildungswesen erreicht werden und käme vor allem auch der schwindenden flämischen Sprachgemeinschaft zu Gute. Es bleibt jedoch noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.  

Eine klare und einheitliche Vision für die Zukunft Belgiens hat es bisher nie gegeben. Reformdruck entstand vor allem aus Krisen. Welcher Anlass einer siebten Staatsreform zu Grunde liegen wird, ist noch nicht abzusehen – wohl aber, dass es wahrscheinlich wieder einen belgischen Kompromiss geben wird. Hierzu müssten aber zunächst Forderungen aller Beteiligten auf dem Tisch liegen. Die Deutschsprachige Gemeinschaft hat einen ersten Schritt in diese Richtung getan.

Belgien (Europa-Büro Brüssel)
Dr. Thomas Leeb
Leiter
Europäischer Dialog
Angela Ostlender
Programm Managerin