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Der Blick von außen
Deutschlands Zeitenwende – eine Bilanz

Autor: Andrea Rotter, M.A.
, Maria Geyer

Innerhalb von wenigen Tagen im Februar 2022 änderte sich in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine nicht nur die europäische Sicherheitsordnung schlagartig, sondern auch Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik. So lautete zumindest der von Bundeskanzler Olaf Scholz formulierte Anspruch, der am 27. Februar im Deutschen Bundestag die Notwendigkeit einer „Zeitenwende“ beschrieb und somit der deutschen Bevölkerung, aber auch internationalen Partnern, eine verantwortungsvollere Rolle Deutschlands in Aussicht stellte. Zwei Jahre später steht eine gemischte Bilanz.

„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. […] Wir nehmen die Herausforderung an, vor die die Zeit uns gestellt hat – nüchtern und entschlossen“, konstatierte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022, drei Tage nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine. Angesichts dieses bis dahin für viele kaum mehr vorstellbaren völkerrechtlichen Tabubruchs durch Wladimir Putin identifizierte Scholz fünf Handlungsaufträge für die Bundesrepublik Deutschland: die Unterstützung für die Ukraine, ein Sanktionsregime gegen den russischen Angriffskrieg, die Stärkung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs der NATO, die adäquate Ausstattung der Bundeswehr mittels eines „Sondervermögens“ sowie eine neue, von Russland unabhängige Energiepolitik. In anderen Worten: Deutschland kündigte einen radikalen Paradigmenwechsel in seiner Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Energiepolitik an, der manch deutschen und internationalen Beobachter erstaunt und positiv überrascht zurückließ. Von Expertinnen und Experten sowie von unseren Partnern bereits lange geäußerte Forderungen, wie beispielsweise mindestens zwei Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes (BIP) in die Verteidigung zu investieren, schienen an jenem Sonntagvormittag endlich umgesetzt zu werden.

Finanziell steht die Zeitenwende auf der Kippe

Blickt man nun zwei Jahre später zurück und zieht Bilanz, so ergibt sich ein gemischtes Bild. 2024 erfüllt Deutschland endlich das innerhalb der NATO gesetzte Zwei-Prozent-Ziel und gibt erstmals seit mehr als 30 Jahren mit ca. 73 Mrd. EUR rund 2,1 % des BIPs für die Verteidigung aus. Ein gerade aus Allianz-Sicht wichtiges Signal, dessen Wirkung allerdings bereits 2028 erlöschen könnte, wenn man bedenkt, dass unser Wehretat nur durch das „Sondervermögen“ über die Zwei-Prozent-Marke angehoben wird, die beim letzten NATO-Gipfel 2023 in Vilnius als Untergrenze anstatt Richtwert deklariert wurde. Die finanzielle Grundlage für Deutschlands Zeitenwende, das „Sondervermögen“, wird voraussichtlich bis Ende 2027 erschöpft sein, sodass Deutschland aktuell bis 2028 auf ein 20 Mrd. EUR oder mehr großes Finanzierungsloch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zusteuert. Während das „Sondervermögen“ indes genutzt wird, Wiederbeschaffungen von Rüstungsgütern für die Bundeswehr, die an die Ukraine geliefert wurden, zu finanzieren, zieht dies das Schließen von Fähigkeitslücken und notwendige Neuanschaffungen für die Bundeswehr in Zweifel. Daran geknüpft ist auch Deutschlands Beitrag zur Abschreckung und Verteidigung im Rahmen der NATO sowie die Verlässlichkeit gegenüber Partnern. Hier hat Berlin bereits entscheidende Zusagen gemacht, um die NATO-Ostflanke zu verstärken, wie beispielsweise die Aufstellung einer Kampfbrigade in Litauen. Kurzum: Die Nachhaltigkeit der Zeitenwende wird sich konkret in den kommenden Jahren bei der finanziellen Ausstattung der Bundeswehr zeigen.

Viele Weichenstellungen vorgenommen

Natürlich sind die Verteidigungsausgaben nicht der einzige Indikator für die Umsetzung der Zeitenwende. Auf der politischen und strategischen Ebene hat Deutschland tatsächlich in vielen Bereichen neue Akzente gesetzt – sei es mit Blick auf Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie, seine veränderte Haltung gegenüber Rüstungsexporten, allen voran mit Blick auf die Lieferung von schwerem Gerät an die Ukraine, oder in der Erkenntnis, dass es einer wettbewerbsfähigen verteidigungsindustriellen Basis mit ausreichend Produktionskapazitäten bedarf. Auch in der Bevölkerung hat der Krieg in der Ukraine ein Umdenken in Gang gesetzt, wie die letzte Umfrage des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr belegt: So befürwortet die deutsche Bevölkerung mehrheitlich die Stärkung der Bundeswehr, deren Image noch nie so gut war wie heute, ist für deutsche Unterstützungsleistungen an die Ukraine und erkennt den Wert der NATO für die eigene Sicherheit an. Ob dies auch in einem notwendigen und nachhaltigen Wandel unserer Strategischen Kultur mündet, bleibt allerdings noch abzuwarten. Klar ist jedenfalls, dass es einer besseren und zielgerichteten strategischen Kommunikation bedarf, die anstatt der koalitionsinternen Streitigkeiten die sicherheitspolitischen Herausforderungen und Handlungsbedarfe in den Vordergrund stellt und erklärt.

Notwendiger Wandel: Von Reagieren zu Agieren

Der größte Kritikpunkt an der deutschen Zeitenwende ist wohl die schleichende Implementierung – teils begründet, teils unbegründet. Strukturelle Anpassungen, z.B. des Beschaffungswesens, benötigen Zeit, ebenso wie der Einzug einer neuen, den sicherheitspolitischen Anforderungen entsprechenden Mentalität, die alle politischen und gesellschaftlichen Kreise durchdringt. Allerdings hat die zügige Abkehr von russischem Gas und Öl durchaus unter Beweis gestellt, wie schnell Deutschland in der Lage ist, auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren. Diese Erwartungshaltung stellen unsere Verbündeten auch an Deutschlands sicherheitspolitische Zeitenwende. Diese erfolgte bislang jedoch in vielerlei Hinsicht in Folge von starkem internen und externen Druck, wobei gerade letzterer aufgrund der sicherheitspolitischen Lage nicht weniger werden wird. Deutschland ist nach seiner anfänglichen Zurückhaltung zum zweitgrößten Unterstützer der Ukraine in finanzieller und militärischer Hinsicht nach den USA geworden – zumindest in absoluten Zahlen. Gemessen am BIP sind es vor allem die nordischen, mittel- und osteuropäischen Staaten, die hier aufgrund ihrer historisch gewachsenen Bedrohungsperzeption und des klaren Verständnisses für die zentrale Rolle der Ukraine für die europäische Sicherheitsordnung die Führungsrolle innehaben. Die Umsetzung der Zeitenwende erfordert einen langen Atem, Entschlossenheit und Weitblick sowie die Bereitschaft, Verantwortung und Führung gerade im europäischen und transatlantischen Kontext zu übernehmen – vor allem dann, wenn die Vereinigten Staaten als verlässlicher Partner in Frage stehen und Brüssel um Konsens in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ringt. Es gibt also durchaus Anlass, um die zunächst eingeleiteten Schritte zu würdigen, die Deutschland mit unangenehmen Realitäten konfrontiert haben, sofern man aber auch selbstkritisch die noch bevorstehenden Anforderungen im Blick hat.

Der Blick von außen

Unter der Rubrik „Der Blick von außen“ wirft die Hanns-Seidel-Stiftung einen Blick jenseits des eigenen „nationalen Tellerrandes“ und bittet internationale Expertinnen und Experten nach ihren Einschätzungen zu Fragestellungen von außen- und sicherheitspolitischer Relevanz.

Gaspard Schnitzler,
Senior Research Fellow,
IRIS (The French Institute for International and Strategic Affairs), Paris, Frankreich

Gaspard Schnitzler, Senior Research Fellow, IRIS (The French Institute for International and Strategic Affairs), Paris, Frankreich

©IRIS

Französische Perspektive

Während Deutschland kurzfristigen Zielen wie der Aufstockung seiner militärischen Bestände und Waffenlieferungen an die Ukraine Priorität einräumt, bedauert Frankreich den Mangel einer langfristigen Vision, der der europäischen Verteidigungsindustrie schadet.

Umsetzung und Fortschritte der deutschen Zeitenwende (eine französische Perspektive)

Russlands Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 und seine Folgen für Europa waren für Deutschland ein Weckruf, der eine neue Ära in der Außen- und Verteidigungspolitik einläutete. Diese sog. „Zeitenwende“ und ihr prominentestes Beispiel – die Einrichtung eines 100 Milliarden € Sondervermögens für die Modernisierung der Bundeswehr – kam für die deutsche Bevölkerung ebenso überraschend wie für die meisten europäischen Staaten, insbesondere Frankreich. Während Paris zunächst positiv reagierte, weil es Berlin seit Jahren aufgefordert hatte, mehr Verantwortung im Verteidigungsbereich zu übernehmen, und auf eine Wiederbelebung der kooperativen Verteidigungsprogramme hoffte, wurde es bald durch die deutschen Entscheidungen zum militärischen Fähigkeitsausbau ernüchtert. Tatsächlich wurde der größte Teil der neuen Mittel für die Beschaffung von Rüstungsgütern aus Drittländern außerhalb der EU verwendet, was zu Lasten bestehender oder geplanter deutsch-französischer Programme ging. Dies ist zu einem großen Teil auf die Schwierigkeiten des deutschen Verwaltungsapparats bei der Bewältigung des plötzlichen und starken Anstiegs von Aufträgen und Finanzmitteln sowie auf eine unterschiedliche Bedrohungswahrnehmung zurückzuführen. Während Deutschland also kurzfristigen Zielen wie der Aufstockung seiner militärischen Bestände und Waffenlieferungen an die Ukraine Priorität einräumt, bedauert Frankreich den Mangel einer langfristigen Vision, der der europäischen Verteidigungsindustrie schadet.

Eine neue Rollenverteilung in Europa?

Dennoch ist es wichtig, die Veränderungen und Fortschritte der letzten 24 Monate anzuerkennen. So ist Deutschland, das sich anfangs weigerte, schweres Gerät an die Ukraine zu liefern und stattdessen vorschlug, 5.000 Helme zu spenden, inzwischen zum zweitgrößten finanziellen und militärischen Unterstützer Kiews nach den USA geworden. Berlin hat auch gezeigt, dass es in der Lage ist, als treibende Kraft die Mitgliedstaaten in gemeinsamen Initiativen wie der European Sky Shield Initiative (ESSI) zu vereinen, jedoch nicht ohne dabei Frankreich zu verunsichern, das an eine stillschweigende Rollenteilung zwischen wirtschaftlicher (Deutschland) und militärischer Führung (Frankreich) gewöhnt ist. Auch das nach Jahren des Desinteresses veränderte Verhältnis der Regierung zur Rüstungsindustrie und die Einsicht in die Notwendigkeit massiver Investitionen markieren diesen Paradigmenwechsel. Bis zu einer wirklichen „Zeitenwende“ ist es jedoch noch ein weiter Weg. Bestimmte Tabus bleiben bestehen, wie die Weigerung Deutschlands zeigt, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern. Nach wie vor fehlt es Deutschland an einer echten Politik für die Verteidigungsindustrie und an langfristiger finanzieller Sichtbarkeit jenseits des Sondervermögens, während die Modernisierung der Bundeswehr hinterherhinkt.

While Germany gives priority to short-term objectives such as replenishing its stockpiles and delivering weapons to Ukraine, France regrets a lack of long-term vision that is damaging Europe’s defence industry.

 The implementation and progress of Germany’s Zeitenwende (A French perspective)

Russia’s full-scale invasion of Ukraine on February 24, 2022, and its consequences for Europe, acted as a wake-up call for Germany, heralding the advent of a new era in foreign and defence policy. This so called “Zeitenwende” and its most striking illustration – the implementation of a €100 billion special fund for the modernization of the Bundeswehr came as a surprise to the German population, as to most European States, especially France. While Paris’ initial reaction was positive, as for years it had been calling on Berlin to assume greater responsibility on defence and hoped for a revival of cooperative defence programmes, it has soon become disenchanted by Germany's capability choices. Indeed, most of the new fund has been allocated to off-the-shelf procurements from third countries, at the cost of existing or planned Franco-German programmes. This can largely be explained by the difficulties faced by the German administration in coping with a sudden and substantial increase in credit, as well as a difference in threat perception. Thus, while Germany gives priority to short-term objectives such as replenishing its stockpiles and delivering weapons to Ukraine, France regrets a lack of long-term vision that is damaging Europe’s defence industry.

A new distribution of roles in Europe?

However, it is important to recognize the changes and progress made over the last 24 months. Thus, Germany, which initially refused to supply heavy equipment to Ukraine and proposed instead to donate 5,000 helmets, has become Kiev’s 2nd largest supporter, behind the U.S., in financial and military terms. Berlin also showed its ability to be a driving force to unite Member States around common initiatives, such as the European Sky Shield Initiative (ESSI), yet not without destabilizing France, used to a tacit division of roles between economic leadership (Germany) and military leadership (France). The evolution of the government’s relationship towards the defence industry, after years of disinterest, and its awareness of the need to invest massively, also mark this paradigm shift. However, there is still a long way to go towards a true “Zeitenwende”. Certain taboos remain, as illustrated by Germany's refusal to deliver Taurus missiles. Germany still lacks a genuine defence industrial policy and long-term financial visibility beyond the special fund, while the modernization of the Bundeswehr is lagging behind.

Ed Arnold,
Research Fellow for European Security,
RUSI (Royal United Services Institute), London, Vereinigtes Königreich

Ed Arnold, Research Fellow for European Security, RUSI (Royal United Services Institute), London, Vereinigtes Königreich

©privat

Britische Perspektive

Die Zeitenwende hat das Potenzial für die deutsch-britische bilaterale Zusammenarbeit in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit erhöht, die seit 2015 intensiviert worden war, aber durch den Brexit an Dynamik verloren hat.

 Zwei Jahre Zeitenwende – eine britische Perspektive

Das Vereinigte Königreich unterstützt die deutsche Zeitenwende in hohem Maße. Angesichts der zahlreichen und schwerwiegenden sicherheitspolitischen Herausforderungen, denen sich Europa gegenübersieht, und der politischen Volatilität in den Vereinigten Staaten, die Fragen hinsichtlich der transatlantischen Unterstützung aufwirft, ist es offensichtlich, dass die europäischen Staaten die kontinentale Verteidigungsfähigkeit stärken müssen. In diesem Zusammenhang ist es für die Wahrung der Interessen des Vereinigten Königreichs von entscheidender Bedeutung, dass Deutschland zu einem stärkeren Akteur in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen wird, insbesondere innerhalb der NATO und was die Unterstützung der Ukraine anbelangt.

Darüber hinaus hat die Zeitenwende das Potenzial für die deutsch-britische bilaterale Zusammenarbeit in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit erhöht, die seit 2015 intensiviert worden war, aber durch den Brexit an Dynamik verloren hat. Das Vereinigte Königreich und Deutschland haben von allen europäischen Ländern die höchsten Verteidigungsausgaben und sind die beiden größten Unterstützer der Ukraine – eine solide Grundlage, auf der man aufbauen kann.

Mehr Anstrengungen sind für einen echten Kulturwandel erforderlich

Dieses Potenzial beruht – als enge Verbündete – auf dem Verständnis darüber, wie sehr und wie schnell sich Deutschland seit der Zeitenwende-Rede verändert hat. Es hat sich am beeindruckendsten in der raschen Verringerung der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas gezeigt – trotz aller Widrigkeiten. Was die Unterstützung der Ukraine betrifft, übertrifft Deutschland einerseits zwar die Zusagen der europäischen Partner, einschließlich des zweitplatzierten Vereinigten Königreichs, andererseits weigert sich Deutschland aber immer noch, Taurus-Langstreckenraketen zu liefern, die für die Ukraine von unglaublich großem Wert wären. Die Ausgangslage ist also gut, aber es bedarf weiterer Anstrengungen, um aus der Zeitenwende einen echten Kulturwandel in der deutschen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu machen.

The Zeitenwende has increased the potential for UK-German bilateral defence and security cooperation, which had been elevated from 2015 but momentum slowed because of Brexit.

 Zeitenwende Two Years on – a British perspective

The UK is extremely supportive of Germany’s Zeitenwende. With multiple severe security challenges facing Europe, and political volatility in the US raising questions over transatlantic support, it is clear that European states need to boost continental defence. In this context, Germany growing as stronger defence and security actor, especially within NATO and on support for Ukraine, is critical to preserve UK interests.

Furthermore, the Zeitenwende has increased the potential for UK-German bilateral defence and security cooperation, which had been elevated from 2015 but momentum slowed because of Brexit. The UK and Germany are the top two European defence spenders and top two supporters of Ukraine which are solid foundations to build upon.

More effort needed for a true cultural shift

This potential is built on the understanding – as close allies – of how much and how quickly Germany has changed since the Zeitenwende speech. It has been most impressive on rapidly reducing dependencies on Russian oil and gas – despite hardships. However, on support for Ukraine, on one hand, German commitments now dwarf European counterparts, including second placed UK, but on the other hand, Germany still refuses to send Taurus long-range missiles which would be incredibly valuable to Ukraine. Therefore, it is a good starting point but more effort will be needed to make the Zeitenwende a true cultural shift in German defence and security.

Jeffrey Rathke,
President,
AGI (American-German Institute, Johns Hopkins University), Washington, D.C., USA

Jeffrey Rathke, President, AGI (American-German Institute, Johns Hopkins University), Washington, D.C., USA

© CSIS; © CSIS

US-amerikanische Perspektive

Deutschlands „Zeitenwende“ steht für eine langfristige Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, nicht für eine kurzfristige To-Do-Liste.

Ist Deutschland dem Anspruch seiner „Zeitenwende“ bisher gerecht geworden?

Die Ziele, die Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 formuliert und die die Bundesregierung in den darauffolgenden zwei Jahren ausgearbeitet hat, sind eine langfristige Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, keine kurzfristige To-Do-Liste. Das Ziel Deutschlands, seine Verteidigungsfähigkeiten im eigenen Interesse und im Interesse seiner transatlantischen Verbündeten an ein sich verschlechterndes Sicherheitsumfeld anzupassen, wird mindestens ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen, um die Bundeswehr und ihre Rolle in der europäischen Sicherheit grundlegend zu verändern. Mit anderen Worten: Deutschlands nationale Anstrengungen müssen über drei oder mehr Legislaturperioden aufrechterhalten und in eine verstärkte Verteidigungsdiplomatie mit den wichtigsten Verbündeten des Landes eingebettet werden. In all diesen Punkten hat Deutschland einen guten Anfang gemacht, aber wir sind näher am Anfang als an der Verwirklichung des Ziels.

Notwendigkeit, deutsche und europäische Anstrengungen nachhaltiger zu gestalten

Die offensichtlichsten Fortschritte Deutschlands sind die Rekapitalisierung der Bundeswehr und die Bereitstellung umfangreicher Verteidigungshilfe für die Ukraine. Die größte Dringlichkeit sehe ich darin, die deutschen und europäischen Bemühungen nachhaltiger zu gestalten, das heißt die erheblichen nationalen Anstrengungen Deutschlands zu nutzen, um die europäischen Bestrebungen zu erhöhen und sicherzustellen, dass Berlins Engagement zu einem verstärkten europäischen Handeln insgesamt führt. Dies kann durch einen diplomatischen Vorstoß geschehen, um andere wichtige Partner an die Standards zu binden, die Deutschland sich selbst setzt, und indem Deutschland zu einem Koordinator der europäischen Verteidigungsbeiträge für die Ukraine und für die gemeinsame transatlantische Verteidigung gemacht wird.

Germany’s “Zeitenwende” represents a long-term reorientation of German security and defense policy, not a short-term to-do list.

 Has Germany lived up to the claim of its “Zeitenwende” so far?

The goals that Chancellor Scholz set on February 27, 2022, and which the German government has elaborated over the ensuing two years, represent a long-term reorientation of German security and defense policy, not a short-term to-do list. The objective – that Germany should retool its defense capabilities in its own interest and that of its transatlantic allies, to respond to a deteriorating security environment – will require a decade at least to fundamentally transform the Bundeswehr and its role in European security. In other words, Germany’s national efforts will have to be sustained over three or more legislative periods and be integrated into a strengthened defense diplomacy with the country’s key allies. In all of those respects, Germany has made a good start, but we are closer to the beginning than to the realization of the objective.

Need to make German and European efforts more sustainable

Germany’s most obvious areas of progress are the recapitalization of the Bundeswehr and the provision of substantial defense assistance to Ukraine. Where I see the greatest urgency is in making the German and European efforts more sustainable – leveraging Germany’s significant national efforts to raise European aspirations and ensure that Berlin’s engagement results in greater European action overall. This can be done through a diplomatic push to hold other major partners to the standards Germany is setting for itself, and making Germany a coordinator of European defense contributions to Ukraine and to the common transatlantic defense.

Marcin Terlikowski, Ph.D.,
Deputy Head of Research, International Security Program, PISM (The Polish Institute of International Affairs)

Marcin Terlikowski, Ph.D., Deputy Head of Research, International Security Program, PISM (The Polish Institute of International Affairs)

© PISM; © PISM

Polnische Perspektive

Zwei Jahre nach ihrer Ankündigung scheint die „Zeitenwende“ nach sehr deutschen Maßstäben umgesetzt zu werden: behutsam und schrittweise, aber leider ohne nachhaltige Perspektive.

 Zwei Jahre Zeitenwende

Der durch die russische Invasion in der Ukraine ausgelöste Paradigmenwechsel in der europäischen Sicherheitsarchitektur wurde am besten durch die deutsche Reaktion – das Versprechen der „Zeitenwende“ – verkörpert. Sie war in ganz Europa mit Spannung erwartet worden, denn im Kern ging es um die Frage, ob Deutschland in verteidigungspolitischen und strategischen Fragen in Europa die Führung übernehmen würde – eine Rolle, die man von Berlin seit der Wiedervereinigung erwartet hatte, der es sich aber bis dahin verweigert hatte. Zwei Jahre nach ihrer Ankündigung scheint die „Zeitenwende“ nach sehr deutschen Maßstäben umgesetzt zu werden: behutsam und schrittweise, aber leider ohne nachhaltige Perspektive.

In der Energiepolitik hat die „Zeitenwende“ offensichtlich funktioniert – die übermäßige Abhängigkeit Deutschlands von russischem Erdgas wurde schlagartig beendet, zunächst durch die Entscheidungen von Bundeskanzler Olaf Scholz, dann durch die irreversible Beschädigung der Nord Stream 2-Pipeline. Die Ablehnung der Kernenergie lässt jedoch Zweifel an der Nachhaltigkeit der deutschen Energiewende aufkommen. Im Verteidigungsbereich hat Deutschland endlich die Zielvorgabe der NATO von 2 % des BIP für Verteidigungsausgaben erreicht. Allerdings gibt es keinen klaren Plan, wie das zusätzliche Geld für die Ausrüstung und den Ausbau der Bundeswehr hin zu einem regionalen Rückgrat der Verteidigung und Abschreckung gegen Russland an der Ostflanke ausgegeben werden soll.

Ein leeres Versprechen in den Köpfen der Menschen?

Und die „Zeitenwende“ bleibt weitgehend ein leeres Versprechen, wenn es um die Haltung manch politischer und wirtschaftlicher Eliten in Deutschland gegenüber Russland geht. Forderungen nach einer Rückkehr zum „business-as-usual“, die vor einem Jahr noch unvorstellbar waren, sind nun immer häufiger in verschiedenen Foren in deutschen Großstädten zu hören. Drei Parteien – AfD, BSW und Die Linke – werben offen für eine Revision der Kernelemente der „Zeitenwende“. Daher scheint die Einschätzung gerechtfertigt, dass Deutschland seine politische und strategische Kultur langfristig „Russland-fest“ machen muss, um die „Zeitenwende“ vollständig zu vollziehen.

Two years after its announcement, the “Zeitenwende” seems to be implemented by very German standards: cautiously and incrementally, but badly lacking a sustained perspective.

Zeitenwende two years on

The paradigm shift in the European security architecture, which was triggered by the Russian invasion of Ukraine, was best epitomized by Germany’s reaction – the promise of the “Zeitenwende”. It was met with anxious anticipation all across Europe, simply because its essence was about Germany assuming leadership in defense and strategic matters of Europe, a role that Berlin had been expected to take on ever since the reunification, but which it continued to decline. Two years after its announcement, the “Zeitenwende” seems to be implemented by very German standards: cautiously and incrementally, but badly lacking a sustained perspective.

Clearly, the “Zeitenwende” worked in the energy policy domain – Germany’s over-dependence on Russian natural gas was abruptly ended, first by decisions of Chancellor Olaf Scholz, then by the irreversible damage to the Nord Stream 2 pipeline. Yet, the rejection of nuclear energy cast doubts on the sustainability of Germany’s energy transformation. Likewise, on defence, Germany has finally reached NATO’s 2 % GDP benchmark for defence spending; yet, there is no clear plan on how to spend the extra money to rearm and grow the Bundeswehr, so that it can become a regional backbone of defence and deterrence against Russia on the Eastern Flank. 

An empty promise in people’s minds?

And, the “Zeitenwende” largely remains an empty promise when it comes to the approach of some of Germany’s political and business elites to Russia. Calls for a return to “business-as-usual”, unimaginable a year ago, are now heard more and more often in various forums in major German cities. Three parties – AfD, BSW and Die Linke – openly promote a revision of the very core assumptions behind the “Zeitenwende”. Hence, it seems a fair judgment that what Germany needs to fully make “Zeitenwende” a reality is to “Russia-proof” its political and strategic culture, and to do so for the long-term.

 

Kontakt

Leiterin: Andrea Rotter, M.A.
Außen- und Sicherheitspolitik
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