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Politischer Kommentar
Die Grande Nation wählt mit Herz und Kopf

Europa atmet auf. Nach Aufregung und Zweifel in den letzten Wochen steht nun fest: Eine Mehrheit der Franzosen hat in der Stichwahl pragmatisch für Europa und die liberale Demokratie gestimmt. Emmanuel Macron stehen die wirklich großen Herausforderungen allerdings noch bevor; allen voran eine regierungsfähige Mehrheit in der Nationalversammlung. Die Wahlen dazu werden im Juni abgehalten.

Ein in den vergangenen Wochen oft zitiertes, aus jahrzehntelanger Erfahrung politischer Praxis der Fünften Republik gewonnenes Sprichwort lautet, bei französischen Präsidentschaftswahlen werde in der ersten Runde mit dem Herzen und in der zweiten mit dem Kopf entschieden. Der Ausgang des Tauziehens um die Nachfolge François Hollandes im Élysée-Palast in Paris offenbart eine gewisse Variante dieser Formel: zumindest die deutlich klare Entscheidung zugunsten des wirtschaftsliberalen Emmanuel Macron und gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen belegt, dass die französische Bevölkerung mehrheitlich sowohl mit dem Herzen als auch mit dem Kopf gewählt hat.

Besonders bei der jüngeren Bevölkerung und der politischen Mitte konnte Macron punkten.

Besonders bei der jüngeren Bevölkerung und der politischen Mitte konnte Macron punkten.

ericniequist; CC0; Pixabay

„Ensemble la France“ (Macron) schlägt „Choisir la France“ (Le Pen)

Denn der 39-jährige Macron, in den Medien im Verlauf des Wahlkampfes als "Senkrechtstarter" und "Shooting Star" mit "kometenhaftem Aufstieg" gefeiert, war ohne Zweifel in den vergangenen Monaten der umjubelte Hoffnungsträger weiter Teile der französischen Nation, dem die Herzen vor allem derjeniger zuflogen, die sich von den etablierten Parteien nicht (mehr) vertreten und sich nach fünfjähriger sozialistischer Präsidentschaft Hollandes abgehängt fühlen. Einer im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung durchgeführten aktuellen Umfrage des Institutes für Demoskopie Allensbach zufolge beurteilen 75 Prozent der Franzosen die wirtschaftliche Lage ihres Landes als schlecht. Die oberste Priorität der breiten Mehrheit der Bevölkerung  gilt der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit; ein Feld, in dem die regierende Sozialistische Partei in den vergangenen Jahren eine erfolglose Politik betrieben habe. Nachdem 81 Prozent davon überzeugt sind, dass die Zukunft Frankreichs in erster Linie von einer deutlichen Verringerung der Arbeitslosigkeit abhänge, steht der zukünftige Präsident Macron aber gleichzeitig unter enormem Erfolgsdruck1. Er hat zwar jetzt, wie er selbst betont, ein 'Mandat' des französischen Volkes für notwendige Reformen, deren Umsetzung er seinerzeit als Wirtschaftsminister unter Präsident Hollande wegen großer Widerstände aufgeben musste. Gleichzeitig benötigt er aber auch eine kohärente Regierungsmannschaft, die erst nach den Parlamentswahlen im Juni gebildet werden kann. Sollte er dann zu einer "Cohabitation" mit einem Premier aus einem anderen politischen Lager gezwungen werden, besteht die Gefahr, dass er ähnlich wie der frühere US-Präsident Obama, der durch seine Wahlkampf-Parole "Yes we can!" überzogene Erwartungen geweckt hatte, seine Versprechen relativieren muss und in der Bevölkerung an Zustimmung verliert. Dies könnten dann wiederum die im Präsidentschaftswahlkampf unterlegenen Rechts- und Linkspopulisten für ihre eigenen politischen Ziele instrumentalisieren.

Macron stammt aus dem katholischen Bürgertum im nordfranzösischen Amiens, wo der Sohn eines Ärzteehepaares bereits in der Schulzeit außergewöhnliche Begabung erkennen ließ, Klavier am Konservatorium spielte und Gedichte schrieb. Er studierte Philosophie an der Elitehochschule Sciences Po, wechselte anschließend an die Eliteschmiede ENA, bevor er als hoher Beamter im Finanzministerium tätig wurde. Später trat er in die Dienste des Bankhauses Rothschild ein, bevor Präsident Hollande Macron als Berater ins Kabinett holte. Im Jahr 2014 wurde er Wirtschafts- und Industrieminister, legte dieses Amt allerdings im August 2016 nieder, um sich seiner im April gegründeten linksliberalen Bewegung „En Marche“ zu widmen und auf den Präsidentschaftswahlkampf vorzubereiten. Macron konnte insbesondere bei der jüngeren Bevölkerung und bei der politischen Mitte Punkte sammeln. Er plädierte für umfassende Bildungs- und Sozialreformen, gab sich betont pro-europäisch und „in seiner geschickt geführten Imagekampagne figuriert er als der Mann, der die Hoffnung der Franzosen auf Veränderung verkörpert“2. So versprach er, das Haushaltsdefizit bereits im Jahr 2017 unter die Drei-Prozent-Marke zu drücken. Bis zum Jahre 2022 will er „60 Milliarden Euro einsparen, davon 25 Milliarden beim Staat, 15 Milliarden bei der staatlichen Krankenversicherung, 10 Milliarden bei der Arbeitslosenversicherung und 10 Milliarden bei den Gebietskörperschaften. Statt 500.000 Stellen im öffentlichen Dienst zu streichen, wie der im ersten Wahlgang ausgeschiedene republikanische Kandidat François Fillon gefordert hatte, will Macron 120.000 durch Pensionierung frei werdende Posten nicht neu besetzen.“3

Die mit Macrons Vorschlägen gleichgesetzte Überwindung des Rechts-Links-Schemas kommt insbesondere in den wirtschafts- und sozialpolitischen Abschnitten seines Wahlprogramms zum Ausdruck, in denen sich Elemente klassischer staatsinterventionistischer Konjunkturprogramme ebenso finden wie weitreichende, auch von der demokratischen Rechten geforderten Strukturreformen.4 Zwar hat auch Macron ein Glaubwürdigkeitsproblem, zumal seine wahlkampftaktische Positionierung als „Kandidat der unteren Schichten und der Mittelklasse“ nicht unbedingt zu seinem Profil als ehemaliger Investmentbanker passt. Ungeachtet dessen nahmen ihm viele Wähler ab, dass er mit dem politischen Establishment brechen („obwohl er von 2012 bis 2016 Teil des ‚Systems‘ war“) und ein „fortschrittliches Frankreich“ schaffen möchte.5

Eine Mehrheit in der Nationalversammlung für Macron ist wenig wahrscheinlich. Seine Bewegung "En Marche" ist kaum in den Wahlkreisen verankert.

Eine Mehrheit in der Nationalversammlung für Macron ist wenig wahrscheinlich. Seine Bewegung "En Marche" ist kaum in den Wahlkreisen verankert.

MurlocCra4ler; CC0; Pixabay

Le Pens „Entdiabolisierungsstrategie“

Ermöglicht wurde Macrons Sieg auch durch die Wahlempfehlung der unterlegenen Kandidaten der Sozialdemokraten (Parti socialiste, Benoît Hamon) und der Konservativen (Les Républicains, François Fillon) sowie weiterer Spitzenpolitiker wie Nicolas Sarkozy, Alain Juppé und Präsident François Hollande selbst. Lediglich der im ersten Wahlgang mit 19,6 Prozent der Stimmen erstaunlich erfolgreiche Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon von der Bewegung „La France insoumise“ („Das rebellische Frankreich“) hatte sich geweigert, eine Wahlempfehlung zugunsten Macrons auszusprechen.  Auch deshalb war ein endgültiger Wahlsieg Macrons nach dem ersten Wahlgang, den er mit 24,0 Prozent vor Marine Le Pen (21,3 Prozent) für sich entschieden hatte, alles andere als sicher. Die letztlich unterlegene Kandidatin Marine Le Pen, jüngste Tochter des Front National-Gründers Jean-Marie Le Pen, hatte mit einem geschickt geschnürten Maßnahmenpaket versucht, die tief verwurzelte Unzufriedenheit der großen Mehrheit der Franzosen mit den etablierten Parteien für ihre Ambitionen zu instrumentalisieren und François Hollande im Élysée-Palast in Paris abzulösen. Bereits in den vergangenen Jahren hatte sie viel Energie darauf verwendet, den Front National durch eine Loslösung vom „plumpen Rechtsextremismus“, des Kurses ihres Vaters, zu „entdiabolisieren“ und die Reichweite ihrer radikalen Partei „bis tief hinein in das Wählerreservoir sowohl der Konservativen als auch der Sozialisten auszudehnen“6.  Unmittelbar nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen legte sie den Vorsitz des Front National nieder, um ihr rechtspopulistisches Profil zu kaschieren und sich als „Präsidentin aller Franzosen“ empfehlen zu können. Weil sie auch erkannt hatte, dass die Mehrheit der Franzosen zwar der EU generell skeptisch gegenübersteht, aber gleichzeitig ein rasches Ausscheren Frankreichs aus der Währungsunion scheut, relativierte Le Pen kurz vor der Stichwahl ihre Forderung nach einem raschen Euro-Ausstieg und kündigte an, sie werde sich im Falle ihres Wahlsieges mindestens ein Jahr Zeit lassen mit der Vorbereitung des angekündigten Referendums.  Ein weiteres Element ihrer „Entteufelungsstrategie“ war der Schulterschluss mit Nicolas Dupont-Aignan, dem Gründer der nationalkonservativen Splitterpartei „Debout la France“ (Aufrecht, Frankreich), den sie wenige Tage nach dem ersten Wahlgang ins Boot holte, um mit seiner Hilfe Wähler der Mitte und des konservativen Lagers zu gewinnen. Dupont-Aignan, früher Mitglied der gaullistischen UMP („Union pour un Mouvement Populaire“ - „Union für eine Volksbewegung“) hatte im ersten Wahlgang 4,7 Prozent der Stimmen erringen können und war damit ausschlaggebend für das Scheitern des Kandidaten der Republikaner, François Fillon, der nur rund 500.000 Stimmen weniger erzielte als Marine Le Pen7. Dupont-Aignan, Bürgermeister von Yerres, wäre im Falle eines Wahlsieges von Le Pen Premierminister geworden. Er gilt als hartgesottener Intergouvernementalist, der wie le Pen im Wahlkampf einen „intelligenten Protektionismus und energischen Staatsdirigismus“ propagierte, eine politische Kontrolle der Banque de France sowie eine Wiederherstellung der vollständigen französischen Souveränität forderte, wozu er alle supranationalen EU-Institutionen abschaffen wollte.8

Im Juni Parlamentswahlen

Für den frisch gewählten zukünftigen Präsidenten der Republik gilt der bekannte Spruch: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Denn im Juni stehen Parlamentswahlen an und es gilt als unwahrscheinlich, dass Macrons erst ein Jahr alte Bewegung „En Marche“ eine Mehrheit in der Nationalversammlung erringen kann. Wesentlich besser verankert in den Wahlkreisen sind Les Républicains und die Parti socialiste, die allerdings im Zuge der aktuellen Präsidentschaftswahlen schwer abgestraft wurden. Zum ersten Mal in der Geschichte der 1958 entstandenen Fünften Republik erreichten die Kandidaten der beiden während der vergangenen Jahrzehnte weitgehend unangefochten dominierenden politischen Lager noch nicht einmal die Stichwahl. Ob die Konservativen und Sozialisten ohne substanzielle innerparteiliche Veränderungen in die Parlamentswahlen gehen oder vor einer Spaltung stehen, steht ebenso wenig fest wie die Frage, welche Gruppierung eine Mehrheit erringen kann. Gegenwärtig spricht jedenfalls vieles dafür, dass nach den Parlamentswahlen eine „Cohabitation“, also ein Regierungsprojekt zwischen einem Präsidenten und einer Parlamentsmehrheit, die unterschiedlichen Parteien angehören, gebildet wird. Eine derartige Koalition gab es in Frankreich zuletzt in den 1990er Jahren unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterand und sie war rückblickend betrachtet zum Teil von schweren Dissonanzen zwischen den Koalitionären geprägt.

1: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.4.2017. 

2: Günter Müchler: Alles offen. Wohin steuert Frankreich und mit wem? In: Die politische Meinung, H. 542, 2017, S. 16.

3: Michaela Wiegel: Werben um die Kanzlerin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.2.2017. 

4: Vgl. Martina Meister: Macron wird konkret, Le Pen verliert Immunität. In: Die Welt, 3.3.2017. 

5: Nadine Pippel / Géradr Foussier: Schwere Zeiten für Demoskopen: Wahlkampf in Deutschland und Frankreich. In: Dokumente, H. 1, 2017, S. 8-14, hier S. 10. 

6: Ronja Kempin: Der Front National. Erfolg und Perspektiven der „stärksten Partei Frankreichs“. SWP-Studie, Berlin, März 2017, S. 29; Müchler, alles offen, S. 18.

7: Michaela Wiegel: Die Kunst der Entteufelung. In: Frankfurter Allgemene Zeitung, 2.5.2017. 

8: Nikos Tzermias: Verführungsversuch von Le Pen. In: Neue Zürcher Zeitung, 3.5.2017.

 

 

Leiterin Akademie für Politik und Zeitgeschehen

Prof. Dr. Diane Robers