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Generalstreik in Frankreich
Fronten verhärten sich

Die Kraftprobe zwischen Demonstranten und der französischen Regierung geht weiter. Kann Präsident Macron das Rentensystem gegen den Protest der Gewerkschaften reformieren? An der Aufgabe waren schon etliche seiner Vorgänger gescheitert.

  • Streitgegenstand
  • Aktuelle Auswirkungen
  • Demonstranten misstrauen der Regierung

Am 05.12.2019 hat der Generalstreik begonnen, mit dem das Gros der französischen Gewerkschaften das Regierungsprojekt zur Rentenreform verhindern will. Infolge des Aufrufs der großen Gewerkschaften wie CGT, Sud, Solidaires und Forces Ouvrières traten viele Staatsangestellte und namentlich die Mitarbeiter im Bahn- und Flugverkehr in den Streik. Krankenhauspersonal und Feuerwehrleute sind bereits seit jeweils April und Juni im Streik; die Regierung kommt mehr und mehr unter Druck.

Banner, das an ein Denkmal geklebt ist. Daneben auf dem Denkmal die Abdrücke von "blutigen" Händen

„Schau auf Deine Rolex, es ist die Stunde der Revolte“ – Banner auf der Place de la République

Philipp Siegert; ©HSS

Streitgegenstand

Neben dem allgemeinen Rentensystem (régime général) bestehen gut 40 sogenannte régimes spéciaux, d.h. berufsständische oder betriebliche Rentenkassen. Letzteres ist namentlich bei der Bahngesellschaft SNCF der Fall. Diese Kassen sind teilweise stark defizitär, da die Zahl der Einzahlenden (Berufstätigen) weit unter der Zahl der Anspruchsberechtigten (Rentner) liegt; daher werden sie durch Steuergelder mitfinanziert. Diesen Zustand hält die Regierung für langfristig nicht haltbar und strengt daher eine Reform an, die drei Kernpunkte enthält:

  • Das Mindestalter für den Eintritt ins Rentenalter bei vollen Bezügen soll von 60 auf 62 Jahre angehoben werden (wobei Ausnahmen bestehen bleiben, insbesondere für diejenigen, die schon früher auf 43 volle Beitragsjahre kommen);
  • Die régimes spéciaux sollen abgeschafft werden (wobei auch hier bestimmte Sonderregelungen erhalten bleiben sollen, bspw. einer kürzeren Arbeitszeit bei besonders gefährlichen oder belastenden Tätigkeiten);
  • Die Berechnung der Rente soll grundsätzlich auf der Basis der einkommensstärksten 25 Jahre der Berufstätigkeit fußen, statt – wie in vielen régimes spéciaux – auf den letzten sechs Monaten vor Renteneintritt.

Das übergeordnete Ziel der Regierung ist, mit diesen Maßnahmen das Verhältnis von Einzahlungen und Auszahlungen ab 2025 in Ausgleich zu bringen.

Das Rentensystem ist gewissermaßen ein traditioneller Zankapfel von Gewerkschaften und Regierung (besonders konservativ-liberalen). Die letzte große Reformanstrengung stammt von 1995, angestoßen vom damaligen konservativen Premierminister Alain Juppé, dem politischen Ziehvater des aktuellen Premierministers Édouard Philippe. Damals traten mehrere Gewerkschaften (separat) in Streiks, namentlich im Oktober und November 1995. Für einen knappen Monat legten die Bahngesellschaften SNCF und RATP den Verkehr lahm. Mit einer Massendemonstration kam dann am 5. Dezember der zwischen den meisten Gewerkschaften koordinierte Generalstreik – das Datum für den Generalstreik 2019 ist also nicht zufällig gewählt. Vor knapp 20 Jahren war das Rentenreformprojekt schließlich zurückgezogen worden; ein Ziel, dass mit dem jetzigen Streik auch erreicht werden soll.

Tränengasschwaden liegen in der Luft. Die Menschen halten sich Schals und Tücher vor die Münder.

Demonstranten auf der Place de la République

Philipp Siegert; ©HSS

Aktuelle Auswirkungen

Die Reform betrifft durch ihr Abzielen auf die régimes spéciaux besonders Funktionäre, wozu auch Mitarbeiter der staatseigenen SNCF und der Pariser RATP zählen. Durch ihre Teilnahme am Streik fallen auf vielen Strecken bis zu 90% der Züge aus, was im ganzen Land und insbesondere in Paris zu einer starken Einschränkung des beruflichen Pendelns führt – mit entsprechenden wirtschaftlichen Folgen. Sowohl Unternehmen als auch öffentliche Einrichtungen wie Schulen arbeiten nur auf Sparflamme oder bleiben gleich geschlossen.

Anders als bei Massenkundgebungen der 1990er und 2000er Jahre zeigt sich mittlerweile die Tendenz, dass Demonstrationen schon frühzeitig gewalttätig werden, insbesondere durch „schwarze Blöcke“. Der eigentliche Streikzug der Gewerkschaften in Paris, welcher um 14 Uhr beginnen und von der Gare de l’Est bis Nation ziehen wollte, erreichte seine erste Etappe – die Place de la République – erst gegen 17h30, da bis dahin die Polizei damit beschäftigt war, den gewaltbereiten Teil an der Spitze zu isolieren.

Demonstranten misstrauen der Regierung

Auch wenn gerade auf der Place de la République etliche Gelbwesten zu sehen waren, war die Demonstration zahlenmäßig ganz überwiegend von der Präsenz der Gewerkschaften geprägt. Damit vermischten – und vermischen sich weiterhin – zwei verschiedene Aspekte der gegen die Regierung gerichteten Proteste, die allerdings ineinander überfließen. Der eine Aspekt ist die Ablehnung der Rentenreform, welche den Anlass des Generalstreiks bildet. Hier handelt es sich um eine inhaltliche Auseinandersetzung zwischen verschiedenen politischen Lagern, der Streik ist Mittel zum Zweck. Der andere Aspekt ist die Grundsatzkritik bis hin zur Fundamentalopposition gegenüber dem französischen Establishment, wie es in den Augen der Demonstranten gerade der Präsident Emmanuel Macron und sein Umfeld personifizieren. Hierbei stellt die Rentenreform nur ein Konfliktfeld von vielen dar, auf welchem der Neoliberalismus um sich greife und bekämpft werden müsse.

Diese Gemengelage hat namentlich zwei Folgen. Erstens ist es wahrscheinlich, dass die kommenden Demonstrationen wieder gewalttätig unterwandert werden und es zu Auseinandersetzungen kommt, bei denen nicht – wie am 5. Dezember – in erster Linie die Polizei eingesetzt wird, sondern die Gendarmerie. Damit würden die Konfrontationen härter werden. Zweitens besteht eine begrenzte, aber doch nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass sich ein erfolgreiches „Wegstreiken“ (aus Gewerkschaftssicht) bzw. ein Scheitern des Reformplanes (aus Regierungssicht) zu einer Niederlage für Macron und Philippe entwickelt, die der Fundamentalopposition Aufwind gäbe und die Exekutive zumindest soweit destabilisieren würde, dass sie innenpolitisch vorerst gelähmt bliebe. Die Vorweihnachtszeit kündigt sich damit sehr unruhig an.

Abzuwarten bleibt noch, wie weit die Sympathie der nichtstreikenden Bevölkerung reichen wird. Sie scheint im Augenblick merklich geringer zu sein als 1995, allerdings gab es damals keine Bewegung wie diejenige der Gelbwesten, sodass der Kontext heute ein anderer ist. Im Übrigen betrachten viele Bürger auch die régimes spéciaux, welche die Streikenden verteidigen, als ein System von Privilegien für Staatsbedienstete – gerade wegen der vorteilhaften Berechnung der Rentenbezüge auf der Grundlage des letzten Gehalts, nicht (wie im allgemeinen Rentensystem jetzt schon der Fall ist) auf der Grundlage von 25 Jahresgehältern. Es bleibt also nicht nur abzuwarten, wie die nächsten Demonstrationen von der Exekutiven, sondern auch, wie sie von der Allgemeinheit aufgenommen werden. In jedem Falle dürften die kommenden Wochen politisch reichlich unbequem werden.

Autor: Dr. Philipp Siegert, HSS-Frankreich

Leiter Institut für Europäischen und Transatlantischen Dialog

Dr. Wolf Krug