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Portraits jüdischer Persönlichkeiten
Gesichter unseres Landes: Hildegard Hamm-Brücher

Wir feiern 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und Bayern und würdigen den essentiellen Beitrag, den jüdische Persönlichkeiten für die Geschichte, Kultur, Wissenschaft und Wesensart unseres Landes geleistet haben. Heute im Portrait: Hildegard Hamm-Brücher – Grande Dame, freischaffende Liberale und Kämpferin gegen das Vergessen.

Eigentlich liebäugelt sie ja mit der Sozialdemokratie, aber ein rotes Parteibuch – das will die junge Hildegard Brücher, Tochter aus gutem und nationalliberalen Hause, ihrer Familie dann doch nicht zumuten und entscheidet sich für die FDP. Blickt man retrospektiv auf ihren Lebenslauf, durch den sich das Bekenntnis zur Freiheit als roter Faden zieht, so muss man festhalten: Ihre politische Heimat hat Hildegard Hamm-Brücher im Liberalismus letztendlich doch gefunden. Eine stramme Parteisoldatin ist sie freilich nie geworden, denn aus dem größten Zivilisationsbruch der deutschen Geschichte hat sie eine Lehre gezogen: Auch in der Politik gilt das Primat des Gewissens vor der Parteiraison.

„Mädle, gehet se in die Politik“

 

Mit diesem Worten rät ihr Theodor Heuss nach dem Zweiten Weltkrieg, sich politisch zu engagieren:

 „Mädle, gehet se in die Politik“

Eine Karriere in der Politik ist biographisch keinesfalls vorgezeichnet, als sie am 11. Mai 1921 geboren wird und in Berlin-Dahlem mit ihren vier Geschwistern eine sorgenfreie und gutbürgerliche Kindheit erlebt. Die Familie ist im Geiste der „Bekennenden Kirche“ protestantisch geprägt, über Politik wird am Esstisch der Familie kaum gesprochen. Dass ihre Großmutter mütterlicherseits getaufte Jüdin ist, erfahren die Kinder erst nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze 1935.

Diese Großmutter, „das Ömchen“, wird auch zur Bezugsperson der Brücher-Geschwister, als die Eltern 1931 und 1932 jung versterben. Sie gibt den Vollwaisen familiären Halt, kann sie aber vor den Repressalien des NS-Regimes nicht abschirmen. Nach dem Abitur nimmt Hildegard Brücher in München das Studium der Chemie auf und wird später zur Promotion zugelassen. Möglich ist dieser akademische Weg nur, weil ihr späterer Doktorvater Heinrich Wieland sie protegiert und ihre Arbeit für „kriegswichtig“ erklärt. Als die Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ zerschlagen wird und dabei auch ihr Name fällt, schützt Wieland sie. Nach dem Tod ihrer Eltern erleidet Brücher 1942 einen weiteren Schicksalsschlag, als sich ihre Großmutter vor der Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt das Leben nimmt.

In diesen dunklen Jahren gibt ihr nur ihr Glaube halt. Das Kriegsende erlebt sie als Wiedergeburt und begleitet den Aufbau der demokratischen Zivilgesellschaft als Journalistin für die Neue Zeitung. 1948 folgt sie dem Ratschlag von Theodor Heuss und kandiert für den Münchner Stadtrat. Dass die FDP sie für einen wenig aussichtsreichen Listenplatz nominiert hat – davon lässt sie sich keinesfalls abhalten. Mit Aquarellmalfarben gestaltet sie Wahlplakate, die ihr Konterfei tragen und die sie mit selbst produziertem Kleister aus Knochen und Lauge an Schwabings Häuserfronten anbringt. Die Strategie geht auf. Sie wird auf der Liste nach oben gewählt und zieht als Deutschlands jüngste Stadträtin ins Münchner Kommunalparlament ein.

Eine starke authentische Frau, für die auch in der Politik das Gewissen an erster Stelle steht: Hildegard Hamm-Brücher.

Eine starke authentische Frau, für die auch in der Politik das Gewissen an erster Stelle steht: Hildegard Hamm-Brücher.

Gräfingholt, Detlef; (CC-BY-SA 3.0); Wikimedia Commons; Bundesarchiv B 145 Bild-F049586-0029, Frankfurt, FDP-Bundesparteitag, Hamm-Brücher.jpg, 19 November 1976

Werte und Werdegang

Ihre Wahl zur Stadträtin ist die Initialzündung für eine der außergewöhnlichsten Politikkarrieren der Nachkriegszeit. 1950 zieht sie als eine von insgesamt vier Frauen ins Maximilianeum ein, wo sie die Liberalen bis 1966 und zwischen 1970 und 1976 vertritt. Gerade in der Frühphase ihres politischen Wirkens ist sie – mit ihren eigenen Worten – als Frau in der Politik ein „Unikat“. Vor diesem Hintergrund überrascht auch nicht, dass der Kampf für die Gleichberechtigung von Mann und Frau ihre politische Vita prägt: Schon 1948 setzt sie sich dafür ein, dass ein vorbehaltloses Bekenntnis zur Gleichberechtigung in das Grundgesetz aufgenommen wird. Mit den Moralvorstellungen der Nachkriegsära kollidiert sie, als sie 1953 ein Kind von ihrem verheirateten, sich in Scheidung befindlichen, CSU-Stadtratskollegen Erwin Hamm erwartet. Erst 1956 kann das Paar heiraten. 

Trotz ihres Einsatzes für die Gleichberechtigung hält sie zur Frauenrechtsbewegung später eine gewisse kritische Distanz, denn „für solche Kinkerlitzchen hatte ich keine Zeit“, wie sie noch 2009 in einem Interview betont. Gleichberechtigung ist für sie eine gesamtgesellschaftliche, geschlechterübergreifende und gelebte Aufgabe.

Weltanschaulich steht für sie das Ideal der Chancengleichheit im Vordergrund, das sie insbesondere im Bildungswesen verwirklichen will. Eine zweite Säule ihres Engagements ist die Erziehung zur Demokratie. Das Wiedererstarken politischer Extremismen fürchtet sie Zeit ihres Lebens und setzt auf eine Immunisierung durch die Förderung einer aktiven und starken Zivilgesellschaft. Unter diesen Vorzeichen steht auch ihre bundespolitische Karriere: Von 1976 bis 1990 ist sie Mitglied des Bundesstages mit Stationen als Staatsministerin im Auswärtigen Amt und Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Parteirebellin, Grande Dame und freischaffende Liberale

Hamm-Brücher beschert ihrer Partei immer wieder hervorragende Wahlergebnisse, bewahrt sich aber auch ihre Unabhängigkeit – was schon früh zu Spannungen führt. Bereits 1962 wird sie bei der Landtagswahl von ihrer Parteiführung mit einem aussichtlosen Listenplatz abgestraft. Ihre Reaktion: geschicktes „Guerilla-Marketing“ in eigener Sache. Sie gründet Bürgerkomitees, die sich unter anderem mit Fahrradkorsos und Hauspartys für sie stark machen. Das Ergebnis: Als Stimmenkönigin der Liberalen zieht sie wieder ins Maximilianeum ein.

Zum Konflikt mit ihrer Partei kommt es auch 1982, als die FDP die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt mit einem Misstrauensvotum gegen den Kanzler aufkündigt. Diesen Schritt kann sie nicht mitgehen und beklagt offen das „Odium des verletzten demokratischen Anstands“. Auch wenn sie das Ende der Koalition zeitlebens als ihre größte politische Niederlage ansieht, behält sie doch ihr Parteibuch und lässt sich 1994 von der FDP für das Amt des Bundespräsidenten vorschlagen. Doch auch hier enttäuscht sie die Partei und fordert sie im dritten Wahlgang zum Rückzug auf.

2002 erfolgt dann der endgültige Bruch mit der FDP über die Äußerungen des stellvertretenden Bundesvorsitzenden Jürgen Möllemann, der Juden eine Mitverantwortung für die Zunahme antisemitischer Ressentiments bescheinigt. Damit ist für Hildegard Hamm-Brücher eine moralische Grenze unumkehrbar überschritten und sie verlässt die Partei nach 54 Jahren Mitgliedschaft. Dem politischen Liberalismus bleibt sie jedoch treu und begleitet bis zu ihrem Tod mit 95 Jahren am 7. Dezember 2016 zahlreiche Initiativen und Projekte zur Stärkung der Zivilgesellschaft.

Autorin: Dr. Sarah Schmid, Leiterin des Referats Verfassung, Europäische Integration und Gesellschaftliche Partizipation in der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung.

Esslinger, Detlef (2016): Eine freischaffende Liberale, die ihren Prinzipien treu blieb. SZ (09.12.20216), abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/muenchen/zum-tod-von-hildegard-hamm-bruecher-eine-freischaffende-liberale-die-ihren-prinzipien-treu-blieb-1.3287789.

Gerste, Margrit (2016): Die freischaffende Liberale. ZEIT (09.12.2021), abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-12/hildegard-hamm-bruecher-tod-nachruf.

Kemper, Anna (2016): Zum Tod von Hildegard Hamm-Brücher. Tagesspiegel (09.12.2016), abrufbar unter https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/zum-tod-von-hildegard-hamm-bruecher-frau-bundeskanzler-ich-bewundere-sie/1513628.html.

Kieseritzky, Walther (2021): Hildegard Hamm-Brücher. Reihe Public History der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Abrufbar unter file:///C:/Users/SCHMID~1/AppData/Local/Temp/200510_Public%20History_A5%20quer_Hildegard_Hamm-Br%C3%BCcher_final.pdf-

Langels, Otto (2021): 100. Geburtstag von Hildegard Hamm-Brücher. Deutschlandfunk (11.05.2021), abrufbar unter https://www.deutschlandfunk.de/die-grande-dame-der-fdp-100-geburtstag-von-hildegard-hamm.871.de.html?dram:article_id=496967.

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