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Portraits jüdischer Persönlichkeiten
Gesichter unseres Landes: Rahel Straus

Wir feiern 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und Bayern und würdigen den essentiellen Beitrag, den jüdische Persönlichkeiten für die Geschichte, Kultur, Wissenschaft und Wesensart unseres Landes geleistet haben. Heute im Portrait: Rahel Straus - Die erste Medizinstudentin Deutschlands.

Geboren 1880 in Karlsruhe, besuchte Rahel Goitein dort das erste Mädchen-Gymnasium in Deutschland. Ihr Vater, Rabbi Dr. Gabor Goitein, starb, als Rahel drei Jahre alt war. Sie war das vierte von sechs Kindern. Geprägt wurde sie sowohl von der Schule als auch vom Leben in der jüdischen Gemeinschaft. Als eine von vier Schülerinnen legte sie 1899 ihr Abitur ab.
In ihren Memoiren hält Rahel fest, dass sie bereits durch ihr Dasein als Gymnasiastin mitten in der Frauenbewegung und in der Frauenemanzipation stand. Sie interessierte sich für die Stellung der Frau in Gesellschaft, Recht und Politik. Ihre Mutter Ida, geborene Löwenfeld, förderte die Ausbildung ihrer Töchter und brachte große Opfer, um Rahels Schulbesuch zu finanzieren.

Die erste Medizinstudentin in Deutschland

Nach dem Abitur ermöglichte ihr Onkel ihr die Aufnahme des Medizinstudiums in Heidelberg. Damit war sie die erste Frau, die in Deutschland Medizin studierte. Um ihre Finanzen aufzubessern, gab sie ihren Kommilitonen und Kommilitoninnen Nachhilfe in Latein und Griechisch und brachte jungen Mädchen hebräische Gedichte und jüdische Geschichte bei. Als eine der ersten Studentinnen an der Universität in Heidelberg wurde sie Mitbegründerin und Vorsitzende der „Vereinigung studierender Frauen in Heidelberg“. Als die Studentenverbindung später keine Jüdinnen mehr zuließ, verließ Goitein die Verbindung zusammen mit anderen Gründungsmitgliedern. Sie organisierten sich unter dem Namen „Die Altheidelbergerinnen“ neu.

1905 legte Rahel Goitein ihr Staatsexamen in Medizin ab und heiratete kurz darauf Elias Straus, mit dem sie gemeinsam aufgewachsen war. Dieser hatte seine ursprüngliche Meinung „eine Ärztin kann man doch nicht heiraten“ im Laufe der Zeit geändert.
Sie zog zu ihm nach München. Dort wurde sie 1907 als dritte Frau an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert. 1908 begann sie ihre Tätigkeit als niedergelassene Ärztin ebenfalls in München und war damit die erste niedergelassene Ärztin, die ihre Ausbildung an einer deutschen Universität absolviert hatte.

Rahel Straus war die erste Medizinstudentin in Deutschland und arbeitete als Ärztin in München. Nach ihrer Emigration nach Palästina engagierte sich Straus im sozialen Bereich, etwa als Mitgründerin der Behindertenförderung AKIM Jerusalem, die bis heute besteht.

Rahel Straus war die erste Medizinstudentin in Deutschland und arbeitete als Ärztin in München. Nach ihrer Emigration nach Palästina engagierte sich Straus im sozialen Bereich, etwa als Mitgründerin der Behindertenförderung AKIM Jerusalem, die bis heute besteht.

Rahel Goitein als Medizinstudentin um 1905 (CC-PD-Mark) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rahel_straus_1905.jpg

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Rahel Straus wurde Mutter von fünf Kindern. In ihren Memoiren schrieb sie, dass es für eine Frau nur möglich sei, Mutterschaft und Beruf zu verbinden, wenn sie über eine eiserne Gesundheit verfüge, der Ehemann seiner Frau als gleichberechtigter Partnerin ermögliche, ihr eigenes Leben zu führen, und die finanziellen Mittel für Hilfe im Haushalt und Kinderbetreuung vorhanden seien. Ihre eigenen Erfahrungen zeigen Beispiele für die Schwierigkeiten einer berufstätigen Mutter Anfang des 20. Jahrhunderts: So verließ sie einmal aufgrund eines medizinischen Notfalls das Haus und kehrte erst Stunden später zurück. In der Zwischenzeit konnte ihre älteste Tochter nicht gestillt, sondern nur mit Tee versorgt werden. Ihre jüngste Tochter infizierte sie mit Diphterie, die sie von einem Einsatz als Ärztin mit nach Hause gebracht hatte.

Rahel Straus war der Meinung, dass sie eine bekanntere und erfolgreichere Ärztin hätte werden können, wenn sie nicht geheiratet und Kinder bekommen hätte, doch sie bereute ihre Entscheidung für die Ehe und eine Familie nicht.

25 Jahre lang war sie als Ärztin tätig, engagierte sich aber auch politisch und sozial. Sie kämpfte für das Wahlrecht von Frauen, hielt Vorträge über Geburtenkontrolle und Ernährung sowie zu jüdisch-religiösen Themen und verfasste, neben verschiedenen Broschüren, ein Buch für Mütter, das erklärte, wie diese mit ihren Töchtern über Sex sprechen können. Innerhalb der jüdischen Frauenbewegung vertrat sie die zionistische Position. Sie war Vizepräsidentin des Jüdischen Frauenbundes und leitete in München verschiedene zionistische Frauengruppen, bevor sie 1933, nach dem Tod ihres Mannes, nach Palästina emigrierte.

Dort begann sie mit 53 Jahren, zusammen mit ihren beiden jüngsten Kindern, sich noch einmal ein neues Leben aufzubauen.

Neubeginn in Jerusalem

1936 gab Rahel Straus den Beruf der Ärztin auf Drängen ihrer Kinder hin auf, da es diese Tätigkeit erforderte, nachts alleine in Jerusalem unterwegs zu sein. Dies war durch die Araberunruhen zu gefährlich geworden. Ab diesem Zeitpunkt engagierte sich Rahel Straus in der Sozialarbeit. Sie bot Kochkurse für Frauen und Mädchen ohne Ausbildung an und gab die zubereiteten Gerichte an ein Einwandererheim. Außerdem schuf sie eine Kleider- und Möbelkammer sowie erste Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Jugendliche. 1948 wurde sie Mitbegründerin von AKIM, einem Verein zur Hilfe geistig behinderter Kinder. 1952 gründete sie die israelische Gruppe der „Women’s International League for Peace and Freedom“ (WILPF). Zu ihrem 80. Geburtstag sammelte sie Geld, um ein Haus für Arbeits- und Lehrkurse für behinderte Kinder und Jugendliche kaufen zu können. Das „Rahel-Straus-Haus“ gibt es bis heute. Zudem mietete sie eine Dreizimmerwohnung als Wohnmöglichkeit für ältere Menschen. Dies gilt als der Beginn der heute noch existierenden Elternheime.

Ursprünglich für ihre Kinder verfasste sie 1940 ihre Memoiren, welche 1961 veröffentlicht wurden. 1963 starb Rahel Straus im Alter von 83 Jahren. Sie ging ihren Weg abseits der Frauen damals zugedachten Rolle und ist nicht nur ein starkes Beispiel für die neue deutsche und die neue jüdische Frau des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern auch eine Inspiration zur Überwindung gesellschaftlich auferlegter Grenzen und zur Gestaltung einer besseren Welt wider alle Umstände.

Autorin: Kerstin Neuhaus, angehende Sozialarbeiterin (B.A.) und Mitarbeiterin des Kompetenzzentrums Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Interkultureller Dialog der Hanns-Seidel-Stiftung.

Harriet Pass Freidenreich: Die jüdische „Neue Frau“ des frühen 20. Jahrhunderts. In: Kirsten Heinsohn /Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.) (2005): Deutsch Jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Wallstein Verlag, Göttingen, S. 123-132.

Harriet Pass Freidenreich (2002): Female, Jewish and Educated – The lives of Central European university women. Indiana University Press, Bloomington, USA.

Heinz Schmitt (Hrsg.) (1988): Juden in Karlsruhe – Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung. Badenia Verlag, Karlsruhe.

Monika Ebert (2003): Zwischen Anerkennung und Ächtung – Medizinerinnen der Ludwig-Maximilians-Universität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. VDS-Verlagsdruckerei Schmidt, Neustadt an der Aisch.

Rahel Straus (1961): Wir lebten in Deutschland. Stuttgart.

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Bildung, Hochschulen, Kultur
Thomas Klotz
Leiter