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Portraits jüdischer Persönlichkeiten
Gesichter unseres Landes: Sophia Goudstikker

Wir feiern 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und Bayern und würdigen den essentiellen Beitrag, den jüdische Persönlichkeiten für die Geschichte, Kultur, Wissenschaft und Wesensart unseres Landes geleistet haben. Heute im Portrait: Sophia Goudstikker – erste Berufsfotografin und Rechtsanwältin Münchens.

 

Die Inhaberin des Münchner und Augsburger Foto-Ateliers Elvira war die erste berühmte Berufsfotografin ihrer Zeit. Als Gründerin und Leiterin einer der ersten Rechtsschutzstellen für Frauen gilt sie als eine der führenden Vertreterinnen der modernen Frauenbewegung in Deutschland.

Rotterdam, Hamburg, Dresden

Geboren wird Sophia Goudstikker am 15. Januar 1865 in Rotterdam. Sie entstammt der niederländisch-jüdischen Kunst- und Antiquitätenhändlerdynastie Goudstikker, die noch heute als eine der bedeutendsten Europas gilt. Auch Sophias Vater, Salomon Elias Goudstikker (1826-1892), der 1849 in Rotterdam die Kaufmannstochter Grietje Klisser geheiratet hat, ist als Kunst- und Antiquitätenhändler tätig. Sophia ist ihr siebtes Kind. Um die Netzwerke der Goudstikkers nach Deutschland auszuweiten, zieht er Ende 1865 mit seiner Familie nach Deutschland. Hier lässt sich Salomon Elias Goudstikker zuerst in Hamburg nieder, 1879 schließlich in Dresden.

Malausbildung in Dresden - Bekanntschaft mit Anita Augspurg

Die 21-jährige Sophia Goudstikker, die in Dresden eine Ausbildung in der Malschule der Künstlerin Amalie Augspurg absolviert, lernt dort 1886 deren Schwester, die Schauspielerin Anita Augspurg, kennen. Auf der Suche nach künstlerischer und finanzieller Eigenständigkeit beschließen die beiden Frauen, zusammen zu leben und ein Fotoatelier zu gründen. Sie ziehen nach München, das damals den Ruf der liberalsten Stadt im ganzen Deutschen Reich trägt, und erlernen die Technik der Fotografie.

Die Fassade des Ateliers Elvira in der Münchner Von-der-Tann-Straße mit dem sogenannten Drachenornament (um 1900).

Die Fassade des Ateliers Elvira in der Münchner Von-der-Tann-Straße mit dem sogenannten Drachenornament (um 1900).

(CC-PD-Mark); F. Bruckmann: Die Kunst. Band 2, erschienen 1900, S. 298 (bildindex.de, Nr. 1),

Eröffnung des Foto-Ateliers Elvira in München

1887 eröffnen Goudstikker und Augspurg das Fotoatelier Elvira in der Von-der-Tann-Straße 15. Der Erfolg stellt sich schnell ein. Mit ihrer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft, kurzgeschnittenen Haaren und skandalträchtigen Ausflügen im Englischen Garten auf dem Fahrrad oder zu Pferd erregen sie großes Aufsehen. Gewandt nutzen sie dies als Publicity für ihr Fotoatelier. Viele berühmte Künstler, Schauspieler, Wissenschaftler und Gelehrte lassen sich dort fotografieren. Die als Malerin ausgebildete Goudstikker inszeniert Frauen optisch neu, präsentiert sie in modernen Frauen-Rollen als Denkerin, Schriftstellerin, Schauspielerin, Studentin, Wissenschaftlerin, Künstlerin, Tänzerin und Kämpferin. Zu ihren Kunden zählen auch Mitglieder des bayerischen Königshauses sowie weiterer europäischer Königshäuser. 1894 wird Goudstikker von Prinz Ludwig von Bayern zur „Hoffotografin“ ernannt. Es ist das erste Mal in Bayern, dass eine Frau diesen Titel erhält. Drei weitere europäische Hoftitel folgen. Unter „Porträts berühmter Photographen der Gegenwart“ wird sie 1895 in der Zeitschrift Atelier des Photographen als erste Berufsfotografin überhaupt präsentiert. Außerdem erhält sie als erste Frau in Bayern auch die Goldmedaille für Wissenschaft und Kunst. 1898 eröffnen Goudstikker und Augspurg schließlich den Neubau des Ateliers Elvira, den August Endell in enger Zusammenarbeit mit den beiden Frauen gestaltet. 

Die Frauenrechtlerin

Als Mitbegründerin der 1894 in München gegründeten Gesellschaft zur Förderung geistiger Interessen der Frau tritt Goudstikker schon früh als Feministin in Erscheinung. Das Fotoatelier Elvira entwickelt sich in München seit 1887 zur bedeutendsten Keimzelle der deutschen Emanzipationsbewegung. 1899 gehört sie zu den Hauptorganisatorinnen des Ersten Bayerischen Frauentags in München. Mit ihrer Erfahrung als Schauspielerin führt sie bei der Uraufführung von Marie Haushofers progressivem Festspiel 12 Kulturbilder der Frau nicht nur Regie, sondern erstellt auch die zwölf dazugehörigen Szenefotografien in ihrem Fotoatelier.

Advokatin und Rechtsanwältin für schutzbedürftige Frauen, Jugendliche und auf dem Schlachtfeld sterbende Männer

Der Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit ist für Goudstikker – abgesehen von ihrer Tätigkeit im Vorstand des Vereins für Fraueninteressen – die Rechtsberatung. Eine entsprechende Rechtsschutzstelle wird 1898 innerhalb des Vereins von ihr selbst ins Leben gerufen. Von nun an vertritt sie die Interessen von Frauen in allen Rechtsgebieten, auch direkt vor Gericht. Ab 1908 ist sie als erste Rechtsanwältin Münchens zugelassen, ab 1. Januar 1909 auch beim neuen Jugendgerichtshof. Während des Ersten Weltkrieges geht sie zudem als Advokatin auf die Schlachtfelder, um dort den sterbenden Männer beim Verfassen ihrer Testamente zu helfen. Auch das war einzigartig.

Geburt des Jugendstils

Wenig bekannt ist, dass der Münchner Jugendstil auch in engstem Austausch mit Goudstikker, Augspurg und deren Atelier Elvira geboren wurde. 1894 zieht der Bildhauer Hermann Obrist aus Florenz mit seinem Stickerei-Atelier in ihre Wohnung in der Kaulbachstraße. Hier lässt er sein berühmtestes wegweisendes Werk, den sogenannten „Peitschenhieb“, ausführen. Die Fassade des Fotoateliers mit seiner ikonenhaften Ornamentik ist weltbekannt und gilt heute als eines der bedeutenden architektonischen Zeugnisse des Jugendstils. Zum Leidwesen des Architekten August Endells mischen die Auftraggeberinnen eifrig bei der Gestaltung mit.

Sophia Goudstikker war auch Leiterin der Rechtsschutzstelle und die erste Advokatin, die an den Münchner Gerichten zugelassen war.

Sophia Goudstikker war auch Leiterin der Rechtsschutzstelle und die erste Advokatin, die an den Münchner Gerichten zugelassen war.

Sophia Goudstikker. In: Münchner Illustrierte Zeitung, 1. Jahrgang, Nr. 37, S. 584, 13.12.1908 (Privatarchiv Richardsen/Sauter)

Auch privat modern

Doch Sophia Goudstikker geht auch privat neue, damals höchst moderne Wege. Sie lebt mit zwei der bedeutendsten deutschen Frauenrechtlerinnen nacheinander in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft. Augspurg, Goudstikkers erste Lebenspartnerin, war Deutschlands erste promovierte Juristin. Ika Freudenberg, Goudstikkers zweite Lebenspartnerin, war seit 1896 die Führerin der bayerischen Frauenbewegung. Als Goudstikker 1924 in München stirbt, konnte man in der Zeitung lesen:

„Am 21ten März schied mit Sophia Goudstikker eine der bedeutendsten Frauen unserer Zeit aus dem Leben. Sie war ein elementar kraftvoller Mensch. Eine ganz seltene und ganz eigenartige Erscheinung. Von ihr ging ein Zauber aus, der mit und ohne ihr Wollen ihr die Menschen unterwarf. Ganz entziehen konnte sich ihrem Einfluss keiner, der ihr nahe trat. Ein ungewöhnliches Maß von Intelligenz und Willenskraft, ein leuchtender Mensch. Künderin und Hüterin des Schönen.“

Autorin: Dr. Ingvild Richardsen forscht seit 2005 zu Frauenbewegungen, feministischen Themen, Erinnerungskultur, Jewish Heritage, NS-Zeit und modernen Kunstbewegungen. 2020 erhielt sie vom Zonta Club Fünf-Seen-Land für ihre Forschungen, Publikationen, Filme und Ausstellungen den Medienpreis 2020 und von der Meiji University Tokyo den Mobility Research 2020.

Ingvild Richardsen (Hg.): Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung (1894-1933). Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung in der monacensia vom 14. März 2018 bis zum 15. September 2018. München: Volk Verlag, 2018.

Ingvild Richardsen: Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen. Wie Frauen die Welt veränderten. Frankfurt/M, S. Fischer, 2019.

Ingvild Richardsen: Frei und gleich und würdig – Die Frauenbewegung und der Erste Bayerische Frauentag 1899. Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 2019.

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Bildung, Hochschulen, Kultur
Thomas Klotz
Leiter